von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Wer den Wahlkampfslogans der sich nun um Mitt Romney scharenden erzkapitalistischen Republikaner glaubt, sieht Amerikas Hauptproblem darin, dass die Konzerne und Wirtschaftsbosse in Washington noch viel zu wenig Macht und Einfluss haben. Der selbst schwerreiche Romney lässt kaum eine Gelegenheit aus, Amerikas Geld-Adel als Retter des Vaterlandes zu preisen – so beispielsweise in seinem neuesten Buch No Apology: The Case for American Greatness. Zugeschnitten auf das eher bescheidene intellektuelle Niveau des Durchschnittskonservativen findet man in Romneys Polemik die übliche Mischung aus Hurra-Patriotismus, autoritärer Religion und Sozial-Demagogie.
Auf der einen Seite poltert der frisch gekürte republikanische Präsidentschaftskandidat für noch extremere Steuergeschenke, noch schärfere Deregulierung der Märkte, noch weniger Kontrolle und Transparenz und noch größere Machtkonzentration für die oberen Zehntausend. Auf der anderen Seite lauert in Romneys Wahlkampf-Katalog ein immer offenerer Klassenkrieg gegen Lohnabhängige, Gewerkschaften und Mittelschicht. Man muss schon sehr blauäugig sein, um darin ein seriöses Programm zu sehen, mit dem der materielle und kulturelle Verfall der USA gestoppt werden könnte. Millionen von Amerikanern, zumeist ländlich-bibeltreu und von den Konzernmedien systematisch verdummt, fallen erschreckenderweise immer wieder darauf herein. Desorientiert und abgelenkt von ihren wahren sozial-ökonomischen Interessen lassen sie ihre durch sehr reale soziale Abstiegsängste befeuerte ohnmächtige – und von den Herrschenden bewusst fehlgeleitete – Wut an Minderheiten aus und schließen sich der faschistoiden Tea Party an.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass Romney den Großteil seiner Wahlkampfspenden von Wall-Street-Spekulanten bekommt. Der von den Republikanern dominierte Oberste Gerichtshof der USA hat vor einigen Jahren die bisherigen Begrenzungen von Konzern-Spenden an Politiker aufgehoben. Romney zeigt sich dafür schon jetzt seinen casino-kapitalistischen Gönnern erkenntlich. So verkündete er unlängst, im Falle seines Einzugs ins Weiße Haus das Dodd-Frank-Regulationsgesetz vollständig auszusetzen und wichtige Provisionen des Sarbanes-Oxley-Gesetzes zu schwächen. Der Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act ist 2010 vom US-Kongress in Kraft gesetzt worden, um die schlimmsten Auswüchse des Wall-Street-Casinokapitalismus zu bekämpfen, der die globale Finanzkrise von 2008 verursacht hatte. Der Sarbanes-Oxley Public Company Reform and Investor Protection Act wurde bereits 2002 verabschiedet, um die Korruption in den Chefetagen einzuschränken. Hintergrund war der durch massive Zahlungsbilanzfälschungen und andere Management-Betrügereien verursachte Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron, der seinerzeit zu den größten Unternehmen der USA zählte..
Der Journalist William Blum brachte die gruselig-naive Erwartung, dass der obszöne Reichtum einer winzigen Oberschicht am Ende auch zu den unteren Gesellschaftsschichten durchsickern werde, also die von Romney und den Republikanern aggressiv vertretene neo-liberale so genannte Trickle-Down-Theorie, mit einem prägnanten Gleichnis auf den Punkt: Diese Theorie laufe darauf hinaus, dass die mittels Brosamen vom Herrentisch lebenden und immer mehr werdenden Niedriglöhner und Leiharbeiter ihre Lage am besten verbesserten, indem sie sich für noch reichlicher gedeckte Herrentische abrackerten. Sie könnten dann darauf hoffen, dass ihnen dadurch auch ein paar zusätzliche Reste und Abfälle zufielen. – Blum, bis zum Vietnamkrieg selbst Apologet der Herrschenden sowie strammer Anti-Kommunist, hatte sich unter dem Eindruck der dortigen amerikanischen Kriegsverbrechen zu einem linken Gesellschaftskritiker gewandelt
Romney und seine Republikaner propagieren also unverfroren die These, dass Amerikas Probleme am besten durch noch mehr Macht und Einfluss für Wall Street zu lösen wären. Dies ist selbst für mit dem amerikanischen Kapitalismus grundsätzlich sympathisierende Denker kaum nachvollziehbar. So identifiziert der nun gewiss nicht linke ehemalige amerikanische Oberste Sicherheitsberater und federführende Kalte Krieger Zbigniew Brzezinski in seinem gerade erschienen Buch Strategic Vision: America and the Crisis of Global Power sechs große Problembereiche im amerikanischen Kapitalismus. Neben der durch imperiale Eroberungskriege und verantwortungslose Steuergeschenke für die superreiche Wirtschaftselite verursachten Überschuldung des amerikanischen Staates, der maroden und zunehmend an die Dritte Welt erinnernde zerbröckelnden Infrastruktur, den einseitig profitorientierten und zunehmend manipulativen und oberflächlichen Massenmedien sowie dem immer mehr von Konzernen und deren Interessen kontrollierten politischen System ist es vor allem die wachsende soziale Ungleichheit, die Brzezinski beunruhigt.
Amerika war zwar für 99 Prozent seiner Bewohner niemals wirklich das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, doch durch den opferreichen Kampf von Gewerkschaften und Arbeiterbewegung wurde den Herrschenden zwischen den 1930er und den 1970er Jahren ein relativer sozialer Ausgleich abgetrotzt. Für Millionen von Amerikanern gab es tatsächliche soziale Aufstiegs-Chancen. Jetzt diagnostiziert Brzezinski die seit den 1980er Jahren rasant zunehmende soziale Ungerechtigkeit in den USA als große Gefahr für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft und als Bedrohung für die Demokratie. Besonders alarmiert ist Brzezinski, dass die soziale Ungleichheit in den USA inzwischen beträchtlich größer und soziale Aufstiegsmöglichkeiten geringer als in allen anderen entwickelten Industriestaaten sind. Unter den global größten Volkswirtschaften rangiert nur Brasilien noch weiter hinten.
In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, dass Romneys geschäftlicher Erfolg in den 1980er Jahren begann, nachdem er an der Harvard Business School Ökonomie studiert hatte. Sein eigener Aufstieg startete also fast zeitgleich mit dem Niedergang der amerikanischen Mittelklasse. Romneys mentale Welt und seine Herangehensweise an Probleme gerade im wirtschaftspolitischen Bereich wurden vom marktradikalen neo-liberalen Evangelium und seiner persönlichen Erfolgsgeschichte geprägt. Als Alternative zum bis dato dominierenden keynesianischen, auf Ausgleich zwischen freiem Markt und staatlichen Regulierungen ausgelegten Paradigma konzipierte eine illustre Gruppe von Ökonomen um Milton Friedman – inspiriert unter anderem von Friedrich August von Hayek – das neo-liberale Dogma der sich selbst regulierenden Märkte, dass immer mehr an Einfluss gewann und heute im wahrsten Sinne marktbeherrschend ist. Zuerst waren die marktradikalen neuen Wirtschaftsgurus hauptsächlich an der University of Chicago lokalisiert. Bald überrannten sie aber auch andere Institutionen – nicht zuletzt das Flagschiff des amerikanischen Bildungssystems: die Harvard University. Mit 16 Nobelpreisträgern in den Wirtschaftswissenschaften unterstreicht Harvard immer wieder seinen nationalen wie auch internationalen Führungsanspruch. Die Harvard Business School ist inzwischen auch bekannt als die Kaderschmiede für Wall Street. Natürlich sind unter den jedes Jahr neu hinzukommenden Harvard-Studenten – wie an anderen Universitäten auch – viele Idealisten, die unsere Welt positiv verändern und ihren Lebenszweck nicht in erster Linie in der Anhäufung materieller Reichtümer sehen wollen. Doch NPR, die öffentlich-rechtliche Radioanstalt der USA, errechnete 2010, dass 49 Prozent aller Absolventen der Harvard Business School am Ende für Wall-Street-Unternehmen wie Goldman Sachs, J. P. Morgan und Bank of America arbeiten. Eben jene Unternehmen, deren verantwortungsloses Verhalten die Wirtschaftskrise von 2008 auslöste.
Die Zeitschrift Adbusters untersucht in ihrer aktuellen Mai-Juni-Ausgabe die Gründe für diesen erstaunlich hohen Seitenwechsel von jungen Studenten, die ursprünglich ursprünglich angetreten waren, um ihren intellektuellen Blickwinkel in einem pluralistischen und undogmatischen Umfeld zu erweitern. Was ihnen jedoch im wohl einflussreichsten Einführungskursus der Welt in die Wirtschaftswissenschaften – Economics 10 – angeboten wird, ist unter der Maske angeblicher Objektivität und ideologischer Neutralität ein einseitig marktradikaler Katechismus. Grundlage dieses nicht nur für angehende Ökonomen vorgeschriebenen Kursus ist Gregory Mankiws Principles of Economics – nach wie vor der international Bestseller unter den Fachbüchern für Ökonomie. Mankiw gehörte zum Beraterteam von George W. Bush und ist heute wirtschaftspolitischer Chefberater von Romney.
In diesem Zusammenhang sollte daran erinnert werden, dass Wirtschaftspropheten wie Mankiw und der ebenfalls an der Harvard University lehrende Wirtschaftsprofessor Clayton Christensen (letzterer Mormone wie Romney) den Zusammenbruch des kapitalistischen Finanzsystems von 2008 bis zuletzt für unmöglich hielten, obgleich die entsprechenden Zeichen bereits lange zuvor immer deutlicher geworden waren. Charles Fergusons exzellenter Dokumentarfilm Inside Job zeigt ausführlich auf, wie diese seit den späten 1970er Jahren dominierende Schule der marktradikalen neo-liberalen Ökonomen die Implosion des kapitalistischen Finanzsystems trotz aller Warnungen linker Wirtschaftswissenschaftler nicht nur nicht vorhersah, sondern durch ihre falschen Empfehlungen und Rezepte große Mitverantwortung für den Crash tragen. Ihre ideologischen Scheuklappen verstellten ihnen den Blick auf die Realität. Die Folge: Riesige und hauptsächlich von Lohnabhängigen geschaffene Werte wurden vernichtet – allein in den USA über zwölf Billionen US-Dollar. Am Ende musste die Finanzindustrie von der öffentlichen Hand – also von den durchschnittlichen Steuerzahlern – aus der selbstverschuldeten Zahlungsunfähigkeit herausgeboxt werden.
Romneys Weltbild ist geprägt von ebendiesen markradikalen Ideologen vom Schlage Friedman, Mankiw und Christensen. Seine Wirtschafts-Agenda ist gleicht daher einem Tanz auf dem Vulkan.
Es ist höchste Zeit für verantwortungsbewusste Ökonomen, dies mit aller Entschiedenheit zu sagen. Als hoffnungsvolles Zeichen für einen überfälligen Paradigmen-Wechsels können in diesem Zusammenhang die Ereignisse vom 2. November 2011 an der Harvard University gelten. An diesem Tage nämlich organisierten die Erstsemestler Rachel J. Sandalow-Ash und Gabriel H. Bayard eine Demonstration in Mankiws Economics 10-Lehrveranstaltung. Gemeinsam mit siebzig anderen Studenten verließen sie das Auditorium. Sie protestierten mit dieser Geste gegen die ideologische Einseitigkeit der Vorlesungsreihe, gegen die zunehmende personelle Verquickung von Harvard mit dem amerikanischen Finanzsystem und all seinen problematischen Auswüchsen sowie nicht zuletzt gegen den Sachverhalt, dass Harvards Ökonomen ihren wissenschaftlichen Sachverstand kompromittieren, wenn sie zugleich in den Aufsichtsräten und Beratergremien großer Unternehmen sitzen und von dieser Tätigkeit persönlich profitieren. Dies schaffe einen gefährlichen Interessenkonflikt.
Gewissermaßen die Personifizierung desselben – das wäre Romney, der Wall-Street-Mann im Weißen Haus.
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Mitt Romney, Neoliberalismus, Präsidentschaftswahlen, USA, Wall Street