15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Im Gespräch – mit Egon Bahr

Herr Bahr, seit der Jahrtausendwende sind die USA dazu übergegangen, ihre militärische Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt auf bis dato beispiellose Weise auszubauen. Das US-Rüstungsbudget ist mit inzwischen über 700 Milliarden Dollar höher als das der zehn im Ranking nachfolgenden Staaten zusammen genommen (inklusive China, Russland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland). Doch alles, was man mit der amerikanischen Militärmaschinerie anfangen kann, ist, im Irak und in Afghanistan zu scheitern.
Die hinter der immensen Aufrüstung stehende Mentalität der politischen Klasse der USA ist deswegen im Blättchen kürzlich als strategisch grenzdebil apostrophiert worden – auch mit Blick auf die daraus resultierende astronomische Staatsverschuldung der USA, deren langfristige Folgen für die dortige wie für die globale Wirtschaft überhaupt erst allmählich deutlich werden.
Zugleich kommt die Lösung globaler Probleme wie Klimawandel und Entwicklungsrückstand der Dritten Welt seit Jahrzehnten nicht wirklich voran, weil Hochrüstung
und globale Problembewältigung zur gleichen Zeit nicht möglich sind – aus ökonomischen wie finanziellen, aber auch aus politisch-psychologischen Gründen.
Ist die Welt noch zu retten?
Egon Bahr: Zur Beantwortung dieser einfachen Frage muss ich etwas ausholen. Im Jahre 2001 erfuhr die Welt, welche Pläne im Hinblick auf das militärische Potenzial der USA die neue Administration unter Bush Junior hegte, als diese Pläne nämlich dem Streitkräfteausschuss des Senats vorgestellt wurden. Das war eine gigantische Aufrüstungsplanung zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im Weltraum – mit dem Ziel, alle anderen Staaten, auch Staatengruppen, der Welt zu entmutigen, das Rennen in Sachen militärische Überlegenheit mit den Vereinigten Staaten überhaupt nur aufzunehmen. Diese Pläne erschienen damals so hypertroph, dass sie an sich nicht ernst zu nehmen waren, weil sich für einen solchen Kurs selbst in Amerika keine Mehrheit finden würde. Doch die Geschichte wollte es, dass sich nur wenige Monate später der 11. September ereignete – mit der Konsequenz, dass das Gefühl der Demütigung in den USA so stark war, dass die Bush-Pläne praktisch ohne Diskussion angenommen und implementiert wurden. Die damit ausgelöste Rüstungswelle hatte eine Sogwirkung auf andere Staaten und Regionen wie Russland, China, aber auch auf die NATO, und darunter leidet die Welt bis heute.
Auf Bush folgte mit Barack Obama ein Präsident, der die seit 1945 ungebrochene amerikanische Grundlinie gegenüber der Sowjetunion und Russland, nämlich Konfrontation, erstmals umgestellt hat – auf Kooperation. Das führte zu vielen gleichzeitigen Baustellen für die US-Politik, national wie international, die natürlich nicht in Monaten die Probleme lösen konnten, die sich innerhalb von Jahren, zum Teil von Jahrzehnten angesammelt hatten. Mit einer einzigen Ausnahme – dem New-Start-Abkommen mit Russland über die Reduzierung der nuklearen strategischen Offensivwaffen um ein Drittel. Das Abkommen ist sogar ratifiziert worden, obwohl Obama seine eigene Mehrheit im Kongress dafür bereits verloren hatte.
Bis heute ungelöst geblieben ist jedoch das Hauptproblem zwischen den USA und Russland, nämlich die Frage der Raketenabwehr in Europa. Wie es in dieser Frage weitergehen wird, vermag ich derzeit nicht zu sagen, weil ich nicht weiß, wie der nächste amerikanische Präsident heißt. Wenn es Mitt Romney würde, könnte ich die Frage schon gar nicht beantworten. Zwar lässt dessen Wahlkampf an konfrontativer Rhetorik keinen rechts-konservativen Wunsch offen, aber andererseits sind Deutschland und Europa im historischen Rückblick mit republikanischen Präsidenten nicht schlecht gefahren. Mit einer einzigen Ausnahme. Das war Bush Junior. Hieße der nächste Präsident hingegen wieder Obama, was ich mir wünsche, stände der dann nicht noch einmal vor einer Wiederwahl. Nicht zuletzt deswegen traue ich ihm eine einvernehmliche Lösung mit Russland zu. Mir ist dabei ziemlich egal, wie die aussähe, wenn sie denn kooperativ getroffen würde und einen erneuten Rückfall in die Konfrontation verhinderte. Denn solch ein Rückfall würde zu neuer Aufrüstung – auch für Deutschland – führen, und die Erfolge früherer Ost- und Entspannungspolitik und der friedlichen Beendigung des Kalten Krieges wären damit auf nicht überschaubare Zeit zerstört.
Obama hat meines Erachtens begriffen, dass die militärische Überlegenheit der USA zwar noch auf Jahre weiter wachsen, Amerika aber keine Weltvorherrschaft bringen wird und daher nur noch Sinn hat in einem kooperativen Verhältnis mit Russland zur Sicherung von Stabilität und Frieden in Europa, damit sich die beiden Giganten Asien zuwenden können, wo die weltweit wichtigsten Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte stattfinden werden. Wenn es gelingt, das Modell der eingefrorenen Stabilität von Gegensätzen, mit dem Europa letzten Endes gut durch den Kalten Krieg gekommen ist, auf Asien zu übertragen, dann wäre schon viel geholfen.
Und um nun ihre einfache Frage beantworten – als Optimist, der ich immer war und bleibe, komme ich zu dem Fazit: Die Aussichten steht fifty fifty, dass die Welt überlebt. Mehr nicht, aber eine Chance haben wir.

Sie sagen, die Grundlinie der USA gegenüber der Sowjetunion seit 1945 bis zum Antritt Obamas sei Konfrontation gewesen. Aber der sowjetisch-amerikanische erst SALT-, dann START-Prozess zur Begrenzung und Reduzierung strategischer Kernwaffen läuft seit 1969. Auch am KSZE-Prozess sind die USA von Anfang an beteiligt. Wie passt das zusammen?
Bahr: Das ist überhaupt kein Widerspruch. Die Eliten der USA haben 1957 einen tief gehenden strategischen Schock erlitten. Mit dem ersten sowjetischen Sputnik wurde schlagartig klar, dass die Unverwundbarkeit Amerikas Geschichte war. Nicht nur historisch erstmals, sondern – angesichts der Zerstörungskraft der Atomwaffen – gleich auch in existenzieller Hinsicht. Das war ein Schock, der überhaupt nur mit dem viel späteren des 11. September 2001 zu vergleichen ist. Die USA mussten ihre Strategie ändern – von der so genannten Massiven Vergeltung, die bis dahin galt und der UdSSR einen umfassenden Nuklearschlag androhte, hin zur Flexiblen Reaktion, um einen massiven Schlagaustausch möglichst auszuschließen. Das erforderte zugleich, die Konfrontation soweit zu domestizieren, dass sie friedlich blieb – eine Lektion, zu der insbesondere die Kuba-Krise von 1962 beigetragen hat, als beide Seiten in den nuklearen Abgrund blickten. Daher kamen der SALT-Prozess in Gang und die Beteiligung der USA an der KSZE zustande.
Gleichzeitig hat die politische Klasse der USA aber nie die Vorstellung aufgegeben, die Unverwundbarkeit Amerikas technologisch wiederherzustellen – und damit die Voraussetzungen für eine wieder aktive Konfrontationspolitik gegenüber der Sowjetunion. In dieses Ziel sind über die Jahrzehnte Milliarden geflossen. Unter Präsident Ronald Reagan nahm der Unverwundbarkeits-Traum Anfang der 80er Jahre die Gestalt der Strategic Defense Initiative (SDI) an, und seit Bush Junior tritt er uns als Streben nach Raketenabwehrsystemen neuer Generation entgegen.
Die prinzipielle Gegnerschaft gegenüber der Sowjetunion und heute Russland war in all diesen Jahrzehnten zu keinem Zeitpunkt aufgehoben, sie war lediglich eingefroren. Das änderte sich selbst nach dem Zusammenbruch der UdSSR und des Warschauer Paktes nicht, denn Russland blieb und ist als nukleare Supermacht der einzige ernstzunehmende potenzielle militärische Gegner der USA. Erst Obama nahm einen Paradigmenwechsel vor und gab dem Verhältnis zu Russland eine andere Grundrichtung.

Zur unmittelbaren Gegenwart. Im Mai hat der jüngste NATO-Gipfel in Chicago stattgefunden? Bleibt von dort im Hinblick auf die bisher angesprochenen Probleme irgendetwas Bemerkenswertes festzuhalten?
Bahr: Nein.

Diskutiert und im Abschlusskommunique verankert worden ist allerdings ein neues Konzept zur Aufgabenteilung innerhalb der NATO – Smart Defense. Um in Zeiten knapper Budgets effektiver zu werden, soll nicht mehr jeder alles machen. Die Luftverteidigung über den baltischen NATO-Staaten zum Beispiel wird bereits von anderen Paktstaaten wahrgenommen. Im Zusammenhang damit hieß es auch in deutschen Medien, dass man sich bei solcherart vertiefter Zusammenarbeit aber besonders aufeinander verlassen können müsse. Und da fand dann selbst die nicht eben bellizistische Süddeutsche Zeitung, dass der deutsche Parlamentsvorbehalt im Hinblick auf Auslandseinsätze der Bundeswehr so verändert werden müsse, dass er „anderen Bündnispartnern nicht den Weg versperrt“. Was halten Sie davon?
Bahr: Dazu will ich zunächst einmal fragen: Was ist die NATO? Helmut Schmidt hat einmal gesagt, die NATO gehört nicht Amerika. Das ist juristisch so richtig, wie es politisch falsch ist, denn in den Augen der ganzen Welt ist die NATO nichts anderes als Amerika in multilateraler Verkleidung. Dass das stimmt, sieht man daran, dass die NATO ohne die USA weder entscheidungs- noch handlungsfähig ist.
Hinzu kommt ein Aspekt, der nach dem 11. September in aller Deutlichkeit zutage trat. Die erste Reaktion der Bundesrepublik gegenüber Washington war damals die Zusage uneingeschränkter Solidarität im Bündnis. Mit der unerwarteten Reaktion aus Amerika war, mit meinen Worten: „Das ist ja nett, aber das erwarten wir gar nicht. Für uns ist es besser, im Bündnis die jeweils Willigen um uns zu versammeln – für die jeweils anstehenden Aufgaben und auf der Basis der Entscheidungen, die wir getroffen haben.“ Das war die Emanzipation Amerikas von der NATO und hat diese aus einem Instrument zur Verteidigung der Freiheit zu einem Instrument hegemonialer Bestrebungen der USA gewandelt. Nicht zuletzt deshalb wurden die Rüstungspläne der Bush-Junior-Administration anschließend auch ohne Rücksicht auf die Verbündeten realisiert – allerdings zugleich mit der Erwartung an diese, mitzuziehen und sich anzupassen, um kompatibel zur Kriegführung an der Seite amerikanischer Verbände zu sein. Seitens Amerikas steht meines Erachtens genau dieser Ansatz auch hinter den Überlegungen, die jetzt unter Smart Defense subsumiert werden.
Was ist die NATO noch? Ein weiterer grundlegender Aspekt betrifft in erster Linie Deutschland. Bush Senior hat Gorbatschow seinerzeit, als die beiden sich über die sicherheitspolitische Struktur des künftigen vereinigten Deutschland verständigten – ohne Großbritannien, Frankreich oder gar die beiden deutschen Staaten einzubeziehen – darauf aufmerksam gemacht , dass die Sowjetunion nach dem Rückzug ihrer Truppen aus der DDR zu schwach sein werde, Deutschland zu kontrollieren. Das könnten nur die Amerikaner mit dem Instrument der NATO. Das Argument stach, weil es zutraf. Wer immer noch nach der Antwort auf die Frage sucht, warum Gorbatschow gegenüber Kohl im Kaukasus schließlich der NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands zustimmte – hier ist sie. Was Bush im Gegenzug zugesagt hatte – keine fremden Truppen und keine Atomwaffen in die Ex-DDR – gilt bis heute, obwohl es nicht vertraglich kodifiziert wurde.
Die dauerhafte Einbindung Deutschlands ist im Übrigen heute die einzige sinnvolle Funktion, die die NATO für alle ihre Mitglieder noch hat und – nach den grauenhaften Erfahrungen der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts – auch behalten wird. Sie ist die in ganz Europa willkommen Garantie, dass die Deutschen friedlich bleiben.
Was den deutschen Parlamentsvorbehalt anbetrifft, ohne den, was offenbar unterstellt wird, Auslandseinsätze der Bundeswehr leichter in Szene zu setzen wären, so kann ich nur feststellen: Weder die USA noch die NATO sind Herr unseres Grundgesetzes oder des Bundesverfassungsgerichtes. Und weil das so ist, wird auch über die konkrete Umsetzung von Smart Defense nicht in Washington oder in Brüssel entschieden, sondern vom deutschen Parlament. Alle anders lautenden Überlegungen sind aus meiner Sicht Spinnereien, die noch dazu fahrlässig mit unserer Demokratie spielen.

Sollte ein künftiger republikanischer US-Präsident, Sie haben kürzlich auf diese Möglichkeit verwiesen, erneut „einen Kurs der Konfrontation gegen Russland einschlagen“ und von den europäischen NATO-Partnern Gefolgschaft erwarten, wie würden Sie in einem solchen Falle entscheiden?
Bahr: Das wäre im Bündniszusammenhang der NATO ein worst case, denn wenn ein Teil der amerikanischen politischen Elite heute meinte, der Anspruch der USA –„second to none“ – gestatte kein kooperatives Verhältnis, selbst zu einem Russland nicht, das kein weltanschaulicher Feind und auch kein militärischer Gegner mehr ist, dann widerspräche dies zutiefst deutschen und europäischen Sicherheitsinteressen. In einem solchen Fall muss die Gefolgschaft verweigert werden, denn Stabilität und Sicherheit sind in Europa nicht ohne oder gegen Russland zu gewährleisten, sondern nur mit diesem. Das ist die bleibende Erfahrung von 45 Jahren Kalter Krieg. Ich will allerdings hier noch einmal auf die historischen Erfahrungen mit republikanischen Präsidenten verweise. An dieser Stelle besagen sie, dass auch mit einem Präsidenten Romney der worst case nicht eintreten muss.

Die USA haben nach Ende des Kalten Krieges Tausende von taktischen Nukleargefechtsköpfen aus Europa abgezogen, ohne sich um das erhebliche numerische Übergewicht Russlands bei derartigen Systemen zu kümmern. Der Abzug der letzten 200 Wasserstoffbomben vom Typ B-61, davon etwa 20 hierzulande, in der Eifel, wird allerdings – nunmehr mit Hinweis auf das russische Übergewicht – verweigert.
Diese Waffen sollen gegebenenfalls durch Tornados der Bundesluftwaffe zum Einsatz kommen. Im NATO-Jargon heißt das
nukleare Teilhabe.
Da die veralteten Tornados aber praktisch keine relevanten Ziele in Russland erreichen können, sind diese Waffen militärisch funktionslos. Da bleibt zu fragen, welchen sonstigen Sinn sie aus amerikanischer Sicht haben mögen. Sind sie ein Faustpfand, um die Stationierungsländer gegebenenfalls auf Abstand zu Russland zu halten – nicht zuletzt, da diese Länder in der russischen nuklearen Zielplanung bleiben dürften, so lange diese US-Systeme in Europa sind? Haben wir hier also einen Fall, von dem Sie einmal gesagt haben: „Natürlich kann es im amerikanischen Interesse liegen, dass die Schutzbedürftigkeit Europas wächst, indem es eine potenzielle Konfrontation mit Russland gibt.“?
Bahr: Das ist mir in Bezug auf die amerikanischen Restbestände an taktischen Atomwaffen zu dramatisch, zumal, da haben Sie Recht, diese Systeme militärisch sinnlos sind. Ein, wenn man so will, Faustpfand sind sie aus Washingtoner Sicht aber für Verhandlungen mit Russland zu dieser Frage.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es im Hinblick auf die taktischen Kernwaffen in Europa zu einer völligen Umkehrung der Situation gekommen ist. Im Kalten Krieg hielten die USA Tausende solcher Systeme vor, um die wahrgenommene konventionelle Überlegenheit der UdSSR und des Warschauer Paktes zu konterkarieren. Die gibt es nicht mehr – unter anderem als Folge des Anfang 1992 abgeschlossenen Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Heute ist die NATO konventionell in allen maßgeblichen Belangen überlegen, und Russland nimmt Zuflucht zu seinem großen Arsenal an taktischen Atomwaffen, um ein Gleichgewicht herzustellen.
Insgesamt sind die taktischen Kernwaffen ein Nebenkriegsschauplatz, weil keine Kriegsgefahr zwischen Russland und der NATO besteht oder absehbar ist. Und sollte die Kernfrage im amerikanisch-russischen Verhältnis – Raketenabwehr – gelöst werden, dann wird es auch zu diesen atomaren Systemen zu Verhandlungen und einer Reduzierungsübereinkunft kommen. Davon bin ich überzeugt.

Kernwaffen sind bisher nur zweimal eingesetzt worden. Alle Kriege der Menschheitsgeschichte mit allen schrecklichen Folgen wurden mit konventionellen Waffen geführt. Doch an vertraglichen Abrüstungsvereinbarungen auf diesem Felde scheint in Europa niemand mehr Interesse zu haben. Der von Ihnen gerade erwähnte KSE-Vertrag hatte in den 90er Jahren zur, wie Sie es kürzlich in einem Vortrag nannten, „bedeutendste(n) Reduktion konventioneller Waffen in der Geschichte“ geführt. 1999 wurde der Vertrag an die Bedingungen nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages angepasst – und seither von keinem einzigen NATO-Staat ratifiziert; Russland hat den Vertrag unter anderem aus diesem Grunde Ende 2007 einseitig ausgesetzt. Wie sehen Sie die Lage und die Perspektiven?
Bahr: Die Stabilität, die heute in Europa herrscht, wird von Bevölkerungen wie von Regierungen wahrgenommen, und das hat auch Auswirkungen auf die sicherheitspolitischen Prioritätensetzungen. Da gerät manches, das früher von existenzieller Bedeutung war, aus dem unmittelbaren Blickfeld. Der KSE-Vertrag gehört für die USA und die NATO offensichtlich dazu. Das kann perspektivisch ein Fehler werden, aber trotz der Aussetzung durch Russland sehe ich aktuell keine Gefährdungen. Bevor die Frage der Raketenabwehr nicht einvernehmlich geklärt ist, wird es auch im Hinblick auf dieses Problem im Übrigen keinerlei Bewegung geben.

Time to attack Iran“, hieß es Anfang des Jahres nicht etwa bei Fox News, sondern auf den Seiten von Foreign Affairs, einer der traditionsreichsten und nicht unbedingt dem Falken-Lager zuzuordnenden Politikzeitschriften der USA. Der Konflikt zwischen Washington (plus Tel Aviv) und Iran ist ein fundamentaler. Beide Seiten stehen sich antagonistisch gegenüber – wie im Kalten Krieg.
Zu einem Zeitpunkt, als der am kältesten war, nach dem Bau der Berliner Mauer und der Kuba-Krise, hatten Sie eine aus heutiger Sicht geniale Idee:  „Wandel durch Annäherung“. Dazu gehörten einige Essentials, die Sie in Ihrer berühmten Tutzinger Rede von 1963 formulierten oder die sich aus ihr ableiten ließen:
– den Staus quo anerkennen, wenn
man ihn verändern will. (Das war eine Überlegung von Kennedy.)
– statt auf Konfrontation auf Kooperation setzen, weil die erstere nicht nur regelmäßig scheitert, sondern auch zum Krieg führen kann, ohne aber eine Lösungen des Konfliktes zu bringen.
– von der Vorbedingung abrücken, dass die Gegenseite sich zunächst grundlegend ändern müsse, bevor Kooperation möglich ist, und
– sich von der Vorstellung lösen, dass die Gegenseite so sein (oder werden) müsse wie man selbst, damit nachhaltige friedliche Konfliktlösung überhaupt eine Chance hat.
Ich würde noch einen weiteres Kerngedanken hinzufügen: Sich so zu verhalten, dass die Interessen der Gegenseite sich ändern. Diese Überlegung äußerten Sie allerdings nicht erst in Tutzing, sondern bereits sechs Jahre früher – 1957, in Ihrer allerersten Rede vor einer Kreisdelegiertenversammlung der SPD in Berlin-Zehlendorf.
Unterm Strich wurden mit genau einer solchen Herangehensweise entscheidende Weichen dafür gestellt, um den Kalten Krieg
friedlich zu beenden. Wäre das nicht auch im Hinblick auf den Iran-Konflikt einen Versuch wert?
Bahr: Das wäre es zweifellos. Leider sind in den Hauptstädten, um die es bei diesem Konflikt geht, strategisches Gedankengut und sicherheitspolitische Erfahrungen aus Deutschland, ja selbst aus Europa nicht präsent, gehören jedenfalls nicht zum Ideenkanon, auf den man der dort zurückgreift. Und um eigenständig auf einen vergleichbaren Ansatz zu kommen, fehlt das auslösende traumatische Grunderlebnis, wie wir es seinerzeit in Westberlin mit dem Mauerbau hatten. Da wurden bestehende Existenzbedingungen für die Bevölkerung grundlegend verschlechtert, und niemand im Westen rührte einen Finger dagegen. Das zeigte mit aller Brutalität: Der Schlüssel zur Lösung des Problems lag nicht bei den eigenen Verbündeten, der lag bei der Sowjetunion, die damals ein Feind war und noch dazu einer, bei dem mit Konfrontation in Berlin nichts ausgerichtet werden konnte. Das war die Lektion, die den Bruch im eigenen Denken erforderte, und erst der Bruch machte den Weg frei zu der Idee vom „Wandel durch Annäherung“.
In bin aber trotzdem auch im Hinblick auf den Iran-Konflikt nicht grundsätzlich pessimistisch, wenn ich mir das vorsichtige und gemeinsame – was ja keineswegs heißen muss: ohne Gegensätze – Vorgehen der USA, Russlands sowie Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands ansehe und in Rechnung stelle, dass die USA sich von Israel nicht auf eine militärische Schiene ziehen lassen werden, wenn sie das nicht selbst wollen. Die militärischen Kapazitäten Israels allein reichen ja für einen Erfolg versprechenden Angriff gegen Iran nicht aus. Als die Israelis dies dadurch ändern wollten, dass sie mit Aserbaidschan über Landerechte sprachen, haben die USA diesem Versuch hinter den Kulissen sehr rasch und hoffentlich nachhaltig entgegen gewirkt.

Welchen Medien war das zu entnehmen?
Bahr: Meine Quelle kann ich nicht nennen. Nur noch soviel: Es ist aus meiner Sicht sehr beruhigend, wenn die USA tun, was sie können, damit Israel nicht unabhängig von Washington zuschlagen kann.
Im Übrigen sehe ich im Hinblick auf den Iran-Konflikt durchaus einen Unsicherheitsfaktor, der genau mit diesem Punkt zu tun hat: Es wird viel davon abhängen, ob die USA auf Dauer die Kraft finden, Netanjahu festzuhalten.

Muss man also, da Iran offenbar ein Gegner nach Art der Sowjetunion im Kalten Krieg ist, bei dem mit Konfrontation nichts ausgerichtet werden kann, mit einer weiteren Atommacht rechnen?
Bahr: Diese Messen sind noch längst nicht alle gesungen. Aber für den Fall des Falles würde es mich das nicht wahnsinnig echauffieren oder beunruhigen. Die Perser, die sich heute Iraner nennen, sind ein altes Kulturvolk, das heute in allen vier Himmelsrichtungen von nuklear bewaffneten Staaten umgeben ist – von Israel, Pakistan, Indien, Russland und von Amerika mit seiner Flotte. Wenn man zusätzlich in Betracht zieht, mit welchen Glacehandschuhen Washington gegenüber einem atomaren Nordkorea agiert, dann sind das zumindest Gründe, warum Iran sich ernsthaft mit dem Gedanken tragen könnte, selbst in den Besitz derartiger Waffen zu gelangen. Nicht zuletzt besagt die bisherige historische Erfahrung: Sobald ein Staat nuklear wird, passt er sich sofort den Regeln des Atomclubs an, und dessen Credo lautet bekanntlich: Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht! Keine Weiterverbreitung!

Dass das Bündnis mit Amerika Kern deutscher Staatsräson sei, war eine Formel, die die Bundeskanzler Helmut Kohl und Gerhard Schröder fast gleich lautend im Munde führten. Sie sagten dazu 1999: „Das hielt ich damals für falsch, heute erst recht.“ Wie ist Ihre Meinung 2012?
Bahr: Unverändert. Amerika handelt als Weltmacht nach Lage seiner Interessen und benutzt die NATO von Fall zu Fall als Hilfsinstrument. Das haben wir besprochen. Es kann weder deutsches noch europäisches Interesse sein, sich einer solchen Vorgehensweise a priori unterzuordnen. Im Gegenteil – es kann durchaus in unserem souveränen Interesse liegen, nein zu sagen. Die Absage Schröders an die Irak-Intervention war richtig. Die Ablehnung einer Rückkehr zur Konfrontation mit Russland wäre, sollte die Frage sich stellen, ebenso notwendig und richtig.

Und worin liegt der Kern deutscher Staatsräson?
Bahr: Das lässt sich ganz knapp fassen – Europe first.

Inklusive Russland?
Bahr: Ja selbstverständlich! Mit dem NATO-Russland-Rat.

Mit Blick auf die Zukunft: Gibt es militärische Fragen, auf die besonderes Augenmerk gerichtet werden muss?
Bahr:
Die gibt es. Was die überschaubare Zukunft anbetrifft, so bereiten mir insbesondere drei technologische Entwicklungen Sorgen.
Da ist zum einen die zunehmende Hochpräzisionstreffsicherheit interkontinentaler Trägersysteme, die deren Einsatz selbst mit konventioneller Armierung – auch zur Ausschaltung von Kommandoleitstellen oder von nuklearen Vergeltungswaffen – zu einer Option macht, der strategische Bedeutung zukommt. Unter dem Stichwort Global Prompt Strike verbindet sich damit in den USA die Suche nach neuen militärischen Handlungsoptionen.
Da ist zum anderen die Entwicklung von Waffen mit völlig neuen physikalischen Eigenschaften. So einen Ansatz gab es schon einmal mit der Neutronenwaffe: Die ließ materielle Werte weitgehend unbeschadet und eliminierte nur die Menschen.
Und zum Dritten haben wir das fabelhafte Internet – die bisher einzige qualitativ neue Erfindung von globaler Wirkung im 21. Jahrhundert, von der eine vergleichbar umwälzende Wirkung ausgehen wird, wie sie vor 500 Jahren der Erfindung des Buchdrucks folgte. Nur heute global und mit sehr viel größerer Geschwindigkeit beziehungsweise viel weniger Zeit, sich auf die Umwälzung einzustellen. Und zugleich wird das Internet, wie so viele technologische Entwicklungen zuvor, bereits jetzt als Angriffswaffe benutzt; Stichwort: Cyberwar.
Das sind drei gefährliche Entwicklungen, von denen ich nicht sagen kann, wohin sie führen werden. Doch ich befürchte, zu nichts Gutem – denn sie vollziehen sich, ohne dass es bisher eine Idee zur globalen „Bändigung“ gibt.
Dennoch verfalle ich für die Überlebenschancen der Menschheit nicht in Pessimismus und bleibe bei meiner Antwort auf Ihre Eingangsfrage: fifty – fifty.

Zum Schluss ein kurzer Blick auf die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise. Wie fühlt man sich, Herr Bahr, wenn man schon 1957 gesagt hat, man müsse „endlich einmal die Tendenz festhalten, dass es offenbar für selbstverständlich gehalten wird, wenn der Staat, das heißt die Allgemeinheit, für die Unrentabilität geradestehen soll“? Heute bringt man Ihre damalige „Tendenz“ immer noch auf die Formel, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden …
Bahr: Wie man sich fühlt? Um ehrlich zu sein – beschissen. Weil die Kernfrage immer noch nicht beantwortet ist, ob nämlich das Eigeninteresse, sprich: die Wirtschaft, sprich: der Gewinn der eigentliche Sinn des Leben ist oder ob der Staat als Vertreter der allgemeinen, der gesellschaftlichen Interessen die Prärogative hat und die Regeln setzt, nach denen die Wirtschaft, heute insbesondere die Finanzwirtschaft, sich richten muss. Solang das so bleibt, befinden wir uns global potentiell in einer vorrevolutionären Situation.

In Ihrem jüngsten Buch „Ostwärts und nichts vergessen“ konstatieren Sie im Hinblick auf die derzeitige Gesamtsituation „Was als Krise im System begann, ist eine Krise des Systems geworden.“ Ist damit die Systemfrage gestellt?
Bahr: Ganz eindeutig. Das ist die Systemfrage, ob die Politik die Prärogative zurückgewinnt oder überhaupt erst gewinnt. Den aktuellen Zustand der Welt oder auch nur des Westens wird sich die Menschheit auf Dauer nicht gefallen lassen können und wollen.

Das Gespräch für Das Blättchen führte Wolfgang Schwarz am 30. Mai 2012.