von Christoph Marischka
Die zu behandelnden Themen und zu verhandelnden Positionen waren bereits lange bekannt und trotzdem lässt das gemeinsame Abschlussdokument zum Treffen des Nordatlantikrates in Chicago vom 20. und 21. Mai 2012 die sonst für Strategiedokumente und Gipfelerklärungen charakteristische klare Struktur vermissen. Stattdessen liest es sich eher wie ein Wunschkonzert, in dem man alle Bedürfnisse befriedigen und auf nichts verzichten wollte.
Tatsächlich will die NATO alles: Sie begrüßt die Ausweitung der NATO-Operation Ocean Shield zur Bekämpfung der Piraterie, will ihre logistische Unterstützung für die AMISOM in Somalia ausweiten und neue Optionen für die Anti-Terror-Mission Active Endeavour prüfen. Sie betont die sicherheitspolitische Relevanz der Ressourcenknappheit, der Gesundheit und des Klimawandels und will mehr Gewicht auf Energiesicherheit und Cyber-Security legen. Sie will ihre Zusammenarbeit mit der UNO ausbauen, andererseits sparen und trotzdem ihre Kapazitäten ausbauen, aus Afghanistan abziehen und trotzdem vor Ort bleiben. Die Nato will auch eine bessere Zusammenarbeit mit Russland und gleichzeitig an ihrer Erweiterungspolitik und dem Ausbau des Raketenschildes festhalten. Sie will ein Bündnis der Demokratien sein und ihre Zusammenarbeit mit den Monarchien am Golf und mit Libyen ausbauen. Besonders widersprüchlich wird es beim Thema Atomwaffen: Bezieht sich das Abschlussdokument gegenüber dem Iran und Korea noch auf die Vision einer „Welt ohne Atomwaffen“, heißt es nur wenige Absätze später, dass man zur Verteidigung und Abschreckung an einem „angemessenen Mix aus nuklearen und konventionellen Kapazitäten“ festhalten wolle. Wer hingegen deutliche Ansagen dazu erwartete, mit welchen Mittel die NATO auf Entwicklungen im Iran, in Syrien und Korea zu reagieren erwägt, der wurde enttäuscht.
Flexibilität ist einer der zentralen Begriffe des Dokuments. Besonders gilt das für die Partnerschaften. Mehrfach wird betont, wie viele Nicht-NATO-Staaten am Gipfel teilgenommen hätten und sich an gemeinsamen Operationen beteiligten. Dabei wird an der Beitrittsperspektive für Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und – strategisch am bedeutendsten und gefährlichsten – Georgien festgehalten. Begrüßt werden auch die bessere Zusammenarbeit der Ukraine und Serbiens mit der NATO sowie die Partnerschaft mit Russland und den zentralasiatischen Staaten in Bezug auf Afghanistan.
Apropos Afghanistan: Dem Land wird in Aussicht gestellt, dass die ISAF ab Mitte 2013, wenn die Sicherheitsverantwortung in den letzten Provinzen formal an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben sein soll, „vom primären Fokus auf den Kampfeinsatz zunehmend zur Bereitstellung von Training, Beratung und Unterstützung übergehen wird“. 2014 soll der „NATO-geführte Kampfeinsatz enden“ und durch eine neue NATO-Mission abgelöst werden, deren Planung das Abschlussdokument von Chicago direkt in Auftrag gegeben hat. Experten gehen davon aus, dass sich damit das internationale „Engagement“ in Afghanistan weg von parlamentarisch halbwegs kontrollierten großen Truppenstationierungen weiter in den eher geheimdienstlichen Bereich der Drohnenangriffe, Kommandoaktionen und dubioser Haushaltsposten verlagern wird. Die Präsenz in der Fläche soll durch die von der NATO und ihren Partnern ausgebildeten und ausgerüsteten Sicherheitskräfte gewährleistet werden, die zwar nicht die Verantwortung im Sinne der Entscheidungsfindung übernehmen, wohl aber den Unmut der Bevölkerung auf sich ziehen sollen. Gründe für diesen Strategiewechsel sind nicht nur der Druck der Straße und der Wähler, sondern auch die Kosten. Gegenüber der Stuttgarter Zeitung räumte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in diesem Kontext unverblümt ein: „Natürlich ist es billiger, afghanische Kräfte zu finanzieren, als eigene Truppen zu entsenden.“ 350.000 afghanische Soldaten und Polizisten sollen 2014 die Aufgaben der ISAF übernehmen. „Billig“ heißt in diesem Fall – die Zahl nannte der Focus – 3,2 Milliarden Euro pro Jahr, die der Westen weiterhin „investieren“ will.
Das rüstungspolitische Pendant zu solchen „Sparanstrengungen“ ist die so genannte Smart Defense, die in der Berichterstattung über den NATO-Gipfel viel Raum einnimmt, im Abschlussdokument jedoch eine bemerkenswert kleine Rolle spielt. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn tatsächlich handelt es sich bei der Smart Defense (ebenso wie beim Raketenschild) um ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm in Zeiten knapper Kassen. Als konkretes Beispiel wird im Abschlussdokument lediglich die NATO-Mission zur Luftraumüberwachung im Baltikum genannt, die es den Staaten dort ermöglicht, auf eigene Abfangjäger zu verzichten und stattdessen in andere Kapazitäten zu investieren, welche in gemeinsamen NATO-Einsätzen gebraucht werden. Bernd Riegert von der Deutschen Welle zitierte in diesem Zusammenhang einen Staatssekretär des lettischen Verteidigungsministerium, der vorrechnete, dass der Verzicht auf die eigenen Jäger das Geld für Spezialkräfte freisetze, „die wir für die NATO-Operationen einsetzen können“.
Der Presse war zu entnehmen, dass insgesamt über 20 Rüstungsprojekte im Rahmen der Smart Defense abgesegnet wurden. Um welche Projekte es sich dabei im Einzelnen handelt, hat die NATO bislang nicht veröffentlicht. Dass in diesem Zusammenhang die Anschaffung so genannter Wirkmittel aber eher unterschlagen und stattdessen Aufklärung, Luftbetankung und medizinische Unterstützung thematisiert werden, ist einerseits nicht ungewöhnlich und täuscht andererseits auch nur vordergründig über die offensive Ausrichtung selbst solcher Kapazitäten hinweg. So ist etwa die Luftbetankung eine Fähigkeit, auf die eine defensiv ausgerichtete Armee getrost verzichten kann, da sie vor allem bei Out-of-area-Einsätzen von Relevanz ist, bei denen in der unmittelbaren Nachbarschaft des Einsatzgebietes keine ausreichenden Luftwaffenstützpunkte zur Verfügung stehen (wie etwa im Falle eines israelischen Angriffs auf den Iran).
Militärische Kapazitäten für die eigentliche „nationale Verteidigung“ werden im Übrigen auf absehbare Zeit auch weiterhin unter nationaler Verantwortung und – soweit möglich – mit der nationalen Rüstungsindustrie verwirklicht werden. Das Beispiel der baltischen Staaten ist dabei irreführend: Mit ihren Einwohnerzahlen zwischen einer und drei Millionen Menschen und einem Bruttoinlandsprodukt von jeweils deutlich unter 50 Milliarden US-Dollar wäre keiner dieser Staaten im Stande, eine eigene nennenswerte Luftstreitkräfte oder Offensivkapazitäten zu unterhalten. Auf der anderen Seite zeugt die Reform der deutschen Streitkräfte mit ihrem Ziel der „konsequenten Ausrichtung auf den [Auslands-]Einsatz“, wie es in den „Leitlinien zur Ausplanung der neuen Bundeswehr“ von 2010 heißt, davon, wie wenig heute noch mit einer tatsächlichen militärischen Bedrohung gerechnet wird. Daraus ergeben sich theoretisch beträchtliche Einsparungspotenziale bis hin zur vollständigen Abrüstung. Die langfristig und offensiv ausgerichteten Projekte im Rahmen der Smart Defense dürften jedoch darauf zielen, selbst unter wachsendem Druck der unter Sozialabbau leidenden Bevölkerungen nicht weniger NATO-Staaten diese Einsparpotentiale nicht zu realisieren, sondern vielmehr in die (gemeinsame) Entwicklung von Offensivkapazitäten umzulenken. In der Rede des EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy zum NATO-Gipfel klang das folgendermaßen: „Europa gibt nach wie vor 200 Milliarden Euro jährlich für Verteidigung aus. Das ist eine bemerkenswerte Summe, aber sie muss effektiver eingesetzt werden und bessere Ergebnisse erzielen.“
Schlagwörter: Christoph Marischka, NATO, out of area, Raketenabwehr, Rüstung, Smart Defense