von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N.Y.
Der neueste Bundespräsident Joachim Gauck gefällt sich in seiner Rolle als Amerika-freundlicher Bildungsbürger, der die zumindest relative Offenheit der USA Einwanderern gegenüber lobend zur Kenntnis nimmt. Natürlich ist dabei nicht völlig klar, ob Gauck sich wirklich bewusst ist, dass eine schnelle Identifizierung von Immigranten mit ihrer neuen Heimat keine Einbahnstraße der Assimilation sein kann, sondern von beiden Seiten gewollt und gefordert werden muss. Wer von Immigranten einseitig erwartet, sich über Nacht so zu verwandeln, dass sie den Konformitätsdruck deutscher Spießbürger entsprechen, ist weder realistisch noch freiheitlich gesinnt. Entsprechende klärende Worte seitens des neuen Bundespräsidenten wären durchaus willkommen, denn weder die Heimattümelei der deutschen Leitkultur-Apologeten noch die mit Eugenik-Hintertüren durchzogenen Sarrazin-Thesen helfen dem Ziel einer gerade durch ihre Offenheit und Vielfalt dynamischen sowie gerechten Gesellschaft.
Als mit bewusst bildungsbürgerlichem Habitus agierender selbsternannte Demokratielehrer ist Gauck auch prominentes Mitglied der sich um die europäisch-amerikanischen Kontakte bemühenden Atlantikbrücke. Nun ist es gewiss nicht das schlechteste Zeichen, wenn ein sich immer wieder auf die Freiheit als Grundwert berufender Würdenträger wie Gauck auf die in der Aufklärung verwurzelten amerikanischen Verfassungstradition positiv bezieht. (Und dies sogar, ohne dabei eine diesbezügliche Doktorarbeit zu erschummeln.) Der durch seine jahrzehntelangen und nicht selten unangenehmen Erfahrungen mit der SED-Diktatur geprägte Amerika-Freund Gauck wäre nun vielleicht überrascht, ausgerechnet in Karl Marx einen ebensolchen Amerika-Freund zu entdecken. Man kann da nur hoffen, dass Gauck nicht unbewusst das einseitig-schematische Marx-Bild der SED, wenn auch negative umgekehrt, übernommen hat. Bisher allerdings hat Gauck noch kein übergroßes Differenzierungsvermögen gegenüber linken Themen demonstriert, sondern hält diese bestenfalls für albern und schlimmstenfalls für totalitär.
Um ein Haar wäre Marx, übrigens selbst Bildungsbürger par excellence, sogar Texaner geworden. Denn der Rauschebart aus Trier blieb Zeit seines Lebens von den USA fasziniert und verfolgte dortige Entwicklungen mit kritischer Sympathie. Er spielte sogar in seinen frühen Jahren sehr ernsthaft mit dem Gedanken, nach Texas auszuwandern und beantragte beim Trierer Bürgermeister den vorgeschriebenen Auswanderungsschein. Die demokratischen Traditionen und Institutionen der USA seien denen des autokratischen Preußens weit vorzuziehen, schrieb Marx beispielsweise 1849 in der Neuen Rheinischen Zeitung.
Dies und viele andere interessante Dinge lernt man durch die Lektüre von Robin Blackburns An Unfinished Revolution: Karl Marx and Abraham Lincoln. Blackburn, ein durch zahlreiche Publikationen zu sozialwissenschaftlichen Themen international renommierter Historiker, ist Professor an der britischen University of Essex sowie an der New School for Social Research in New York City. In seinem nicht nur die persönlichen Kontakte zwischen Marx und US-Präsident Lincoln, sondern zugleich den Einfluss von Marxisten in den USA im 19. Jahrhundert beleuchtenden Buch bekundet Blackburn, wie erstaunt er über das Ausmaß dieses Beziehungsgeflechtes war. So ist sicherlich den meisten mit Marx vertrauten Lesern bekannt, daβ dieser über viele Jahre hinweg für die New York Tribune journalistische Beiträge schrieb. Weniger bekannt dürfte sein, dass für den Zeitraum von zehn Jahren eben diese journalistische Tätigkeit Marxens Haupterwerbsquelle war, um sich und seine Familie zu ernähren. Über vierhundert seiner Beiträge veröffentliche die sich unter der Regie von Horace Greeley zu einer der einfluβreichsten amerikanischen Zeitungen entwickelnde New York Tribune.
Greeley, ein langjähriger Freund und Mitstreiter von Abraham Lincoln, baute diese Zeitung seit den 40-er Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem soziale und philosophische Fragen ernsthaft debattierenden und analysierenden Organ der gebildeten reform-orientierten Bürgertums aus. Die New York Tribune war weit verbreitet und wurde in den gesamten USA gelesen. Greeley ging es mit seiner Zeitung vor allem darum, die „Verbrechen zu untersuchen, vermittels welch riesige Vermögen angehäuft” wurden. Kein Wunder also, dass Greeley auf Marx aufmerksam wurde und diesen schließlich ermutigte, für seine Zeitung zu schreiben. Greeley war ein linksliberaler Reformer, mit großen Sympathien für utopische Sozialisten wie Charles Fourier. Sein Chefredakteur Charles Dana schrieb 1848, dass es nun unmöglich ist, politische Freiheit von sozialer Gerechtigkeit zu trennen. In diesem Sinne, so Dana, „sind wir heute alle Sozialisten.” Der als wandernder Demokratie-Lehrer die Freiheit als Grundwert preisende Bundespräsident Gauck wäre sicherlich nicht schlecht beraten, wenn auch er diesen ursächlichen Zusammenhang durchdenken würde.
Pikanterweise wurde Dana während des amerikanischen Bürgerkrieges Lincolns Assistant Secretary of War und damit ein einflussreicher Mann in Lincolns Republikanischer Partei.Nun ist die Republikanische Partei der USA heute Sprachrohr und Interessenvertreter der plutokratischsten und machthungrigsten Elemente der die USA beherrschenden Finanzoligarchie. Die heute von der Mentalität eines Ronald Reagan, George W. Bush und Mitt Romney geprägten Partei war damals allerdings noch nicht das ausschließliche Instrument der Raubtier-Kapitalisten. Im Gegenteil: Nicht nur liberale Flüchtlinge der von den Herrschenden zertrümmerten Revolution von 1848, Leute also vom Schlage eines Fritz Hecker und Carl Schurz, fanden in der amerikanischen Republikanischen Partei eine politische Heimat. Auch Marxisten wie der Journalist Joseph Weydemeyer emigrierten aus Preußen in die USA und spielten in der Republikanischen Partei eine führende Rolle. In diesem Zusammenhang wünscht man sich eine Neuauflage von Karl Obermanns noch heute sehr lesenswerten Weydemeyer-Biografie, der Mario Keßler vor einigen Jahren in seinem Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik ein Denkmal setzte. Weydemeier, im amerikanischen Bürgerkrieg zum Oberst ernannt und mit der Verteidigung der strategisch wichtigen Stadt St. Louis beauftragt, war nicht nur einer der über zweihunderttausend Deutsch-Amerikaner, der in der Armee der Nordstaat für die Sklavenbefreiung kämpfte. Er war auch in Marxens Erster Internationale aktiv und organisierte Arbeiter in Gewerkschaften und Streiks. Neben den Marx sehr am Herzen liegenden sozialen Fragen setzten sich gerade Deutsch-Amerikaner wie Weydemeier auch dafür ein, dass die Republikanische Partei nicht in die Hände der anti-alkoholischen Temperenzer fällt. Viele besonders der europäisch-katholischen Einwanderer fühlten sich von den Alkohol-Verächtern in der Republikanischen Partei abgestoßen. So trug Weydemeier auch dazu beim, dass die Partei Lincolns sich nicht sektiererisch verschloss, sondern offen blieb für eine breite Koalition fortschrittlicher Kräfte. Dem trinkfreudigen Rheinländer Marx sagte dies sicherlich in mehrerer Hinsicht zu.
Robin Blackburn: An Unfinished Revolution: Karl Marx and Abraham Lincoln, Verso Books, London und New York 2011, 260 Seiten, 19,95 US-Dollar
Schlagwörter: Axel Fair-Schulz, Joachim Gauck, Joseph Weydemeier, Karl Marx, New York Herald Tribune