von Eckhard Mieder
1.
Die Piraten sind auch nur wie alle, die mit Geschichte nicht viel am Hut haben. Das haben meiner Ansicht nach die absolut meisten Menschen nicht. Allerdings gibt es ein paar Ereignisse, Personen und Verläufe, auf die mit den Reflexen des Hechelns, Sabberns und Knurrens reagiert wird. Das Deutungs-Imperium schlägt nicht mal zurück, weil es selber nicht geschlagen wurde, sondern lediglich zu, weil es sich geschlagen fühlt. Zudem versteht sich das Deutungs-Imperium als Wächter des guten (?) politisch-medialen Geschmacks. Es vereinigt all jene, die sich als Gourmets der Gegenwart verstehen; selbstverständlich unter Einschluss der Vorspeise Vergangenheit und des Desserts Zukunft.
2.
Die Piraten vergreifen sich im Ton, sind nicht programmfest und beherrschen stilistische Figuren nicht.
Das kann daran liegen, dass ihnen überm Twittern und Simsen die deutsche Sprache in ihrer Fülle nicht zur Verfügung steht. Obwohl ich eben einen backfischhaft-schönen „verlegenenen Liebesbrief“ an die Literatur von Marina Weisband gelesen habe; die politische Geschäftsführerin der Piraten ist eine hübsche Frau und wurde schon im Fernsehen serviert.
In der FAZ erklärte sie jüngst ihre mal zurückgestellte, mal pausierende, mal aufbrandende Liebe zur Literatur. Ohne die könne sie nicht leben. Auch hörte ich schon andere Piraten reden; eloquent, bürgerlich, ironisch und naiv oder scheinbar naiv, also kokett. Es ist vielleicht leichtsinnig, den Piraten in Deutsch eine Fünf zu verpassen und einen Tadel wegen ungebührlichen Verhaltens dazu? Sie sind, darin jedem mündigen Bürger gleich, dafür verantwortlich, was sie sagen, schreiben und wie sie sich benehmen.
Die Piraten vergreifen sich im Ton, sind nicht programmfest und beherrschen stilistische Figuren nicht?
Der parlamentarische Geschäftsführer der Piraten, Martin Delius, hat in einem SPIEGEL-Interview gesagt: „Der Aufstieg der Piratenpartei verläuft so rasant wie der der NSDAP zwischen 1928 und 1933.“ Sofort bellte es aus dem Wald zurück. „Geschmacklos und unangemessen“ (Thomas Oppermann, SPD); „Kurzschlüsse im Kopf des Piratenpolitikers Delius“ (Ruprecht Polenz, CDU); „ob sie bewusst am rechten Rand Stimmen fangen wollen“ (Katja Kipping, Die Linke); „mit ihren rechtsextremistischen Umtrieben“ (Leutheusser-Schnarrenberger, FDP); „echtes Abgrenzungsproblem“ (Volker Beck, Grüne/Bündnis 90) …
Die Grünen, so der Eindruck, kritisieren die Piraten-Elche besonders massiv. „Ich möchte wissen, auf welchem Auge der Pirat seine Klappe hat“, sagte Claudia Roth. Sie, die frühere Elch-Mutter, kümmert sich um den Nachwuchs, indem sie den Jung-Elchen empfiehlt, interne rechte Tendenzen rechtzeitig vor den nächsten Wahlen zu klären. „Die Piratenpartei muss jetzt grundsätzlich klären, ob sie rechtsextremistische Einstellungen und Bestrebungen in ihren Reihen duldet“, bestärkte Renate Künast die Kritiker der Elche, die früher selber welche waren. Die Piraten müssten sich ernst nehmen lassen wie jede andere Partei. Sie müssten zeigen, welches Verhältnis sie zur deutschen Geschichte haben; gemeint ist vermutlich nicht das Verhältnis zu den Cheruskern, Thomas Müntzer oder zu dem Rattenfänger von Hameln. Sie müssten überlegen, ob sie sich „ihrer daraus erwachsenen Verantwortung bewusst seien“.
Die Latte liegt hoch für die Piraten. Und es würde ihnen auch nicht helfen, wüssten sie aus der Lameng den einen oder anderen brisanten Fauxpas zu schütteln, den sich Vertreter der anderen, fest installierten Parteien von Zeit zu Zeit geleistet haben; die Latte zu unterlaufen ist leichter als sie zu überspringen, man darf sich nur nicht erwischen lassen. Die Piraten haben nun mal die Flagge gezeigt, nun kriegen sie Feuer aus allen Rohren. Aus den grün gestrichenen Kanonen donnert’s besonders heftig. In Knall und Rauch spielt es dann keine Rolle mehr, dass es in der Piratenpartei „keine ernst zu nehmenden rechtsextremen Tendenzen gibt“ (Eckhard Jessen, Politologe und Extremismus-Experte). Und dass Piraten zu Leichtsinn und Übermut neigen, mag sie nicht auf ewig entschuldigen. Wenigstens bringt’s Zug untern Kessel. Und hin und wieder wird in den miefigen Kabinen der Debattiermaschine sogar gelacht. Ist das den Grünen so fremd geworden?
Von den anderen Parteien erwarte ich Leichtsinn, Übermut, Witz ohnehin nur zu Aschermittwoch; es ist jährlich der Tag, an dem ich zum Lachen in den Keller gehe.
3.
Ob die Piraten noch nicht geschnallt haben, dass sie, wiewohl Meister der digitalen Kommunikation, ansonsten mitunter dämlich kommunizieren, weiß ich nicht. Mich regt das Dämliche nicht auf. In Abwandlung eines Reimes von Robert Gernhardt: „Dich will ich loben, Dämliches,/du hast was Einvernehmliches./Eher ist es das Superschlaue,/dem ich nicht über die Wege traue.“
Auch in der Geschichte der Grünen kenne ich mich nicht speziell und nicht gründlich aus. Aber als ich Anfang April durch das Weserbergland wanderte und plötzlich Ausblick hatte auf die zwei dampfenden Kühltürme eines Kernkraftwerkes, ging mir eine Lese-Erimnerung durch den Kopf. Abgesehen davon, dass der Anblick für Momente seinen Horror hatte. Man lebt so sicher im Glauben, von deutschem Boden gehe keine Radioaktivität aus …
War nicht in dieser niedersächsischen Ecke eine der ersten Bürgerinitiativen gegen geplante Großprojekte wie eben das Atomkraftwerk Grohnde, auf deren Anlage ich beim Wandern schaute, entstanden? In den 1970er Jahren? Wandelte sich nicht eben diese Bürgerinitiative in eine erste „Umweltschutzpartei“? Nicht weit weg, in Hildesheim, entstand die Grüne Liste Umweltschutz (GUL). Schließlich flossen alle möglichen und unmöglichen bunten, grünen, alternativen Quellen 1980 in das Mündungsdelta der Bundespartei Die Grünen. Drei Jahre später zogen die Pudelmützen und selbst gestrickten Pullover in den Bundestag ein. Der Aufstieg einer Partei, rasant wie seinerzeit – die NSDAP?
4.
Ein Buch, das ich wie einen Schatz hüte, ist „Die Stilistik der deutschen Sprache“ von Elise Riesel aus dem Jahre 1963. Aus dem lernte ich unter anderem, was ein Vergleich ist, es dürfte noch stimmen. Zwei Wörter aus durchaus verschiedenen Begriffsbezirken funktionieren als Vergleich, wenn sie eine Vergleichsbasis haben, ein gemeinsames, verbindendes Drittes, das tertium comparationis. Wenn eine Partei wie eine andere Partei sei, in einer speziellen Hinsicht, dann ist es sogar einfach, weil ja nicht mal Wörter aus verschiedenen Begriffsbezirken verwendet werden.
Wenn der Pirat Martin Delius seine Partei mit der NSDAP hinsichtlich der Rasanz ihres Aufstiegs (tertium comparationis) vergleicht und davon ausgeht, dass niemand strukturelle und ideologische Gemeinsamkeiten assoziiert, dann ist er zwar dämlich. Ein Nazi ist er nicht. Auch kein Sympathisant der Rechtsextremen. Delius hat möglicherweise nicht auf dem Schirm gehabt, wie neuralgisch oder allergisch die polititisch-mediale Klasse in Deutschland auf bestimmte Begriffe und Personen reagiert. Besonders, wenn sie nazistisch oder kommunistisch kontaminiert sind. Ich wage zu behaupten, dass die so rasch Empörten und so heftig Reagierenden dem Volke nicht aufs Maul schauen. Sonst wüsste sie anders Bescheid und würde nicht mit saftloser und blutleerer Arroganz über unsere Köpfe hinwegreden. Im Übrigen weiß ich nicht, ob die Piraten augenblicklich proportional nicht sogar schneller wachsen als die NSDAP.
Ich bin mir übrigens sicher, dass die Grünen saukomisch und provokant waren; was man so hört aus ihrer Sturm-und-Drang-Phase. Da ich in Frankfurt am Main lebe, höre ich gelegentlich Geschichten vom Leben am Pflasterstrand und wie heutige Bewohner des Westends noch immer den Demorucksack im Schlaf packen könnten. Und ich weiß: Jedem Anfang wohnt der Witz des Irrtums inne, die Komik des rhetorischen Übereifers, das Groteske schäumender Polemik. Bei manchen Menschen hört das gar nicht auf. Und wie war das bei SPD und CDU, damals, ganz viel früher? (Den aktuell hohen Unterhaltungswert der FDP schöpfen die Kabarettisten ab.)
Aber seitdem sind 35 Jahre vergangen und ist viel Wasser die Weser, den Rhein, die Spree hinab geflossen. Und wahr ist: Warum sollen die Piraten nicht durch das Stahlbad (autsch!), das die politische Konkurrenz anrichtet, wenn doch auch allen anderen Parteien das Sperrfeuer (autsch!) nicht erspart blieb und bleibt? Wenn man doch wenigstens wüsste, auf welchem Fundament die Piraten gründen, auf welchen Eckpfeilern sie unruhen …
Übrigens sind von den einstigen vier Grundpfeilern der Grünen mindestens zwei weggebrochen. Die Gewaltlosigkeit ist spätestens mit Joseph Fischers Haltung zum Jugoslawien- und Afghanistan-Krieg verschwunden. Zur sozialen Gerechtigkeit höre ich nicht viel; was mich bei einer Partei der inzwischen Besserverdienenden nicht verwundert. Die Ökologie gehört mittlerweile zum Repertoire aller Parteien, wiewohl ich glaube, dass sie noch immer ein gewisses Alleinstellungsmerkmal der Grünen ist. Jedenfalls in ihrer Komplexität und Wirtschafts-Alternative.
Was noch? Die Basisdemokratie! Die Basisdemokratie?
Dass Transparenz, Rotation, ewige Diskutiererei (und was derlei Firlefanz und Kikifax noch ist). in einer repräsentativen Demokratie letztlich nicht zum Erfolg führen, werdet ihr, liebe Piraten auch noch merken! Damit ihr es rasch merkt, tun wir euch den gleichen Tort an, den uns CDU, FDP, SPD seinerzeit antaten! Stahlbad, Sperrfeuer – weißße Bescheid … Da kriegt ihr’s so rasch um die Ohren gehauen wie die Occupys; was wollen denn die? Fundament, Eckpfeiler, Programm, Strategie, was denn noch alles?
5.
Als die Grünen 1983 in den Bundestag einzogen, gab ihnen Kanzler Kohl keine zwei Jahre. Komisch sahen sie aus, so ohne Anzug und Krawatte, und den Laden mischten sie auf. Relativ. Ich müsste mir die Arbeit machen und in den Protokollen ihrer Versammlungen sowie ihrer Reden im Bundestag nach schiefen Vergleichen oder anderen Textausrutschern, Zuspitzungen, Übertreibungen suchen, die … Das müsste ich dann gerechterweise auch mit den Protokollen der anderen Parteien tun, die … O nee! Keine Zeit dafür. Ohnehin bin ich mir sicher, dass der sprachliche Fauxpas nicht das Alleinstellungsmerkmal nur einer Partei oder nur eines Politikers ist.
Apropos. Die Grünen waren grad ein Jahr im Bundestag, als Joseph Fischer dem damaligen Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen sagte, dass der „mit Verlaub“ ein „Arschloch“ sei. Manche Beschimpfungen sind so gut und so legendär, dass sie wiederholt werden müssen. 1998 während eines Wahlkampfauftritts im Berliner Prater und 2009 während einer Pressekonferenz musste sich Fischer sagen lassen: „Mit Verlaub, Herr Fischer, Sie sind ein Arschloch!“ Andere Quellen meinen, der Außenminister wurde geduzt. Würde ich nun vergleichen, wer das größere Arschloch war, Stücklen oder Fischer, und ich nähme die Bedeutung der deutsch-geschichtlichen Stellung der betreffenden Personen als tertium comparationis, fiele die Wahl leicht.
Der Pirat Martin Delius kann sich mit Joseph Fischer trösten. Als jener den militärischen Auftritt (ein Euphemismus, ein ziemlicher Euphemismus, Herr Mieder!) Deutschlands in Jugoslawien damit begründete, dass er nicht nur „Nie wieder Krieg“, sondern auch „Nie wieder Auschwitz“ gelernt habe –, auch da stürmte es auf dem politisch-medialen Meer. Moderater als jetzt bei Delius? Das Deutungs-Imperium war doch eher auf Seiten Fischers und Kompanie und verzieh den unziemlichen Vergleich, der den Holocaust der Nazis verharmloste und Milosevic mit Hitler gleichsetzte. Pech, Delius, Glück, Fischer, jeglicher Vergleich hat seine Zeit, ob er stimmt oder nicht; der Zweck heiligt ihn.
Ich empfehle den „Piraten“ ein kerniges Vokabular. Wenn sie denn willens und in der Lage dazu sind. Mir scheinen sie ja recht brav und bürgerlich zu sein. Wenngleich sie, was man so hört, auch mit der Algebra und mit den Frauen ihre Probleme haben. Nur wer hat die nicht? Um noch einmal Robert Gernhardt abzuwandeln: „O Partei, nennst du ein Weib dein eigen,/Versuche nicht gleich drauf zu steigen./Wer Frau ist, wird dir selber sagen,/Wen sie wann kann und will ertragen.“
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Grüne, Martin Delius, Parteien, Piraten