15. Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Strategisch grenzdebil

von Sarcasticus

Das Stockholmer Internationale Friedensforschungsinstitut (SIPRI) veröffentlicht alljährlich Angaben über die globalen Militärausgaben und ihre Entwicklungstrends. Das hat das SIPRI auch jüngst wieder getan, und die Kernbotschaft lautete: Nachdem zwischen 2001 und 2009 weltweit jährlich jeweils durchschnittlich fünf Prozent mehr für Rüstung verpulvert worden war, betrug der Zuwachs 2011 nur noch 0,3 Prozent. In solchen Fällen wird von Stagnation gesprochen.
Wer dies allerdings per se schon für eine gute Nachricht hält, der sollte vielleicht doch noch einen Blick auf die Details werfen. Stagniert wird nämlich auf einem globalen Niveau von unvorstellbaren 1,738 Billionen Dollar. Zum Vergleich: Die jährlichen globalen Aufwendungen für Entwicklungshilfe liegen bei deutlich unter zehn Prozent dieser Summe. Und die Fachleute vom SIPRI ließen keinen Zweifel daran, dass die 2011er Zuwachsdelle allein der Wirtschafts- und Finanzkrise in vielen Ländern geschuldet war und nicht etwa den Beginn eines Umdenkens signalisiert, das der seit Jahrzehnten zu beobachtenden Entwertung des militärischen Faktors im Hinblick auf die Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele in der Welt entspräche.
Rüstungsweltmeister bleiben die USA. Zwar haben sie aus Gründen der Haushaltskonsolidierung und wohl auch wegen eines rückläufigen Finanzbedarfes infolge des Abzugs ihrer unmittelbaren Kampftruppen aus dem Irak die Militärausgaben 2011 um 1,2 Prozent reduziert. Aber 711 Milliarden Dollar entsprachen immer noch 41 Prozent der globalen Gesamtausgaben und waren in Summe mehr, als Nummer zwei bis zehn im Ranking der Länder mit den höchsten Militärbudgets – die Bundesrepublik rangiert mit 46,7 Milliarden Dollar übrigens auf Platz neun – zusammen auf die Waage brachten.
Um zu erkennen, dass die Vereinigten Staaten seit dem Niedergang der Sowjetunion die einzige militärische Supermacht auf der Welt und allen anderen Ländern militärisch nicht nur haushoch überlegen sind, sondern dass diese Überlegenheit in den kommenden Jahren auch noch weiter wachsen wird, muss man kein ausgewiesener Experte sein. Durch ihre transkontinental einsetzbaren Luft-, See- und Landstreitkräfte sowie weltweit einige hundert Militärstützpunkte sind die USA heute praktisch der einzige Staat, der an jedem Punkt der Erde intervenieren kann. Eine amerikanische Flugzeugträger-Kampfgruppe (Carrier Strike Group / CSG) verfügt dabei über mehr operatives Potenzial, als die meisten Staaten der Erde mit ihren Gesamtstreitkräften aufbringen können, und die USA verfügen über neun CSG – vier bei ihrer Atlantik- und fünf bei ihrer Pazifikflotte. Gar nicht zu reden von den strategischen Nuklearstreitkräften der USA, die – trotz starker numerischer Reduzierungen im Zuge diverser Abrüstungsverträge mit der UdSSR und Russland in den vergangenen Jahrzehnten – immer noch über eine Overkill-Kapazität verfügen, also jeden denkbaren atomaren Gegner als funktionierende Gesellschaft mehrfach nuklear auslöschen könnten.
Indizien dafür, dass in der politischen Klasse der USA Zweifel am Sinn dieser monströsen Militärmaschine gehegt würden, gibt es nicht. Das sagt einiges aus über den mentalen Zustand der westlichen Führungsmacht, denn was kann man mit dieser amerikanischen Überlegenheit rein praktisch, also im Hinblick auf die Ziele, die die Vereinigten Staaten in der Welt verfolgen, eigentlich anfangen?
Natürlich kann man zum Beispiel in Afghanistan einmarschieren, um das Terrornetzwerk Al-Qaida und seine regionale Stütze, die Taliban, zu eliminieren. Nach über zehn Jahren werden die USA und ihre Partner das Land in Kürze allerdings in einem Zustand wieder verlassen, der Experten die Rückkehr der Taliban an die Macht binnen Monaten, wenn nicht Wochen befürchten lässt. Und eines von mehreren neuen Basisgebieten von Al-Qaida ist jetzt Mali, wie derzeit den Medien zu entnehmen ist.
Natürlich kann man völkerrechtswidrig auch im Irak einfallen und dort ein Unrechtsregime beseitigen beziehungsweise den bestehenden Staat zerstören – und Jahre später beim Abzug sich bis aufs Messer bekämpfende innere Strukturen hinterlassen, so dass auf Jahre hinaus nicht einmal die üppigen Ölquellen des Landes, um deretwillen, wie böse Zungen behaupten, der Überfall überhaupt nur stattgefunden habe, sprudeln werden.
Und natürlich kann man atomaren Parias wie Nordkorea oder dem Iran die Instrumente zeigen, um die Unbotmäßigen wieder botmäßig zu machen – und dabei feststellen, dass damit nichts zu bewirken ist, wenn die Betroffenen, und sei’s aus pathologischer Selbstüberschätzung, nicht mitspielen.
Auch diese aktuellen Erfahrungen bestätigen letztlich, was längst bekannt ist: Selbst militärische Übermacht hat, wo es um die zielführende Gestaltung internationaler Beziehungen oder auch bloß um die regionale Neuordnung politischer Machtverhältnisse im eigenen Interesse geht, nur einen höchst begrenzten Nutzwert. Die Lektion hätte amerikanischerseits eigentlich schon in Indochina gelernt werden können.
Wurde sie aber nicht, und wird sie augenscheinlich auch heute nicht. Wobei sich die darin zum Ausdruck kommende Insuffizienz im politisch-strategischen Denkvermögen nicht auf die politische Klasse der USA beschränkt. So haben China und Russland, inzwischen Nummer zwei und Nummer drei unter den Staaten mit den höchsten Militäretats, ihre Budgets 2011 – SIPRI zufolge – kräftig angehoben: um 6,7 Prozent auf 143 Milliarden Dollar und 9,3 Prozent auf 71,9 Milliarden. China, nach den USA das zweite Land mit einem Rüstungshaushalt von über 100 Milliarden Dollar im Jahr, will 2012 um weitere 11,2 Prozent zulegen, was gegenüber 2006 auf eine Verdoppelung des Etats hinausliefe. Und im regionalen atomaren Wettrüsten zwischen China, Indien und Pakistan, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, wird derweil auf allen Seiten mit Hochdruck an der Reichweitenverlängerung ballistischer Trägerraketen gearbeitet, um nur ja jeden Winkel des Feindes mit Nukleargefechtsköpfen erreichen zu können, die man allerdings, so lange man halbwegs bei Verstand ist, nicht einsetzen kann, weil man unweigerlich von atomarer Vergeltung getroffen werden würde …
Vor 25 Jahren schrieben Wissenschaftler vom damaligen Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (IPW), dass „Friedenssicherung durch Rüstungsbegrenzung und Abrüstung […] mindestens in vierfacher Hinsicht […] der Schlüssel für das Überleben der Menschheit“ sei: „Materiell: Abrüstung ist der einzige Weg, um die militärische Bedrohung der menschlichen Existenz in ihrer Substanz […] zu verringern und schließlich zu überwinden […]. Finanziell: Die Lösung der globalen Probleme (schon damals bezogen auf Entwicklungsangleichung der Dritten Welt und globalen Umweltschutz – Sarcast.) erfordert immense finanzielle Aufwendungen, die aber insbesondere die Industriestaaten und – in bestimmtem Maße – selbst die meisten Entwicklungsländer durchaus aufbringen können, wenn das Wettrüsten gestoppt und die Abrüstung eingeleitet wird. […] Wettrüsten und Lösung der globalen Probleme übersteigt die Leistungsfähigkeit der Wirtschaften der Staaten der Erde bei weitem; Lösung der globalen Probleme statt Wettrüsten ist die einzig praktikable Alternative. Wissenschaftlich-technisch: In der militärischen Forschung und Entwicklung ist heute […] ein erheblicher Teil der jährlichen Forschungsmittel und nicht zuletzt der wissenschaftlichen Spitzenkräfte gebunden, die für andere Bereiche […] nicht zur Verfügung stehen. Politisch-psychologisch: […] dem gegenwärtigen Niveau der militärischen Konfrontation“ folge „ein adäquat hohes Mißtrauen in den zwischenstaatlichen Beziehungen auf dem Fuße, so dass schon von daher eine komplexe internationale Zusammenarbeit […] über Ansätze nicht hinauskommt.“ (IPW-Berichte, 9/1987)
So zutreffend diese Erkenntnisse damals schon waren, so chancenlos sind sie offensichtlich noch heute sich durchzusetzen.