von Lutz Unterseher
Vielleicht hat die „realistische“ Denkschule in der Politikwissenschaft Recht – und nicht jene andere Fraktion, die das internationale Geschehen möglichst verrechtlichen möchte: sehen doch die Realisten die Welt als einen prinzipiell chaotischen Jahrmarkt, auf dem letztlich nur – militärische – Muskeln zählen.
Da ist die theokratisch-autoritäre Führung des Iran, die sich darin gefällt, das Gift des Antisemitismus zu versprühen, und die uns absichtsvoll das Rätsel aufgibt, ob man Atommacht werden wolle oder nicht.
Zur Information: Der Iran hat 2003 sein Kernwaffenprogramm gestoppt. Mittlerweile ist aber – unter Aufsicht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) – die Urananreicherung zu friedlichen Zwecken so weit fortgeschritten, dass die Erreichung einer waffenfähigen Stufe in Reichweite liegt. Außerdem könnte am Zündmechanismus für Atomsprengkörper weitergearbeitet worden sein (entsprechende Arbeiten entziehen sich leicht internationaler Kontrolle). Wenn das Programm wieder gestartet werden sollte, wofür es gegenwärtig freilich keinerlei Anzeichen gibt, könnten in näherer Zukunft drei oder vier einsatzfähige Gefechtsköpfe zur Verfügung stehen. Allerdings variieren die Expertenschätzungen im Hinblick auf den Begriff „nähere Zukunft“ zwischen neun bis zwölf Monaten und sieben Jahren, wobei die Mehrheit der Schätzungen zwischen diesen beiden Spannen liegt.
Und da ist die Rechts-Rechts-Rechts-Regierungskoalition der intransparenten Atommacht Israel (geschätzte Zahl der Gefechtsköpfe: 200 plus), deren Führung nicht müde wird, die iranische Gefahr zu plakatieren, und deren Ziel es offenbar ist, das postulierte Problem durch einen konventionellen Präzisionsschlag aus der Luft präventiv auszuräumen – am liebsten in Kooperation mit den USA, vielleicht aber auch im Alleingang.
Erste Nebenbemerkung: Wer altmodisch ist, wird daran denken, dass militärische Präventionen völkerrechtswidrig sind.
Zweite Nebenbemerkung: Unfairerweise ist daran zu erinnern, dass die konservativen Atomstrategen aus dem Kalten Krieg behaupteten, nukleares Gleichgewicht fördere die Stabilität.
Solche Strategen gibt es immer noch – gerade auch unter jenen, die mit einem Entwaffnungsschlag liebäugeln. Müssten die sich aber nicht eigentlich freuen, wenn der Iran zu Israel aufschließt und längerfristig ein Gleichgewicht herstellt?
Sowohl im Iran als auch in Israel dürften im Hinblick auf den Konfrontationskurs neben sicherheitspolitischen auch innenpolitische Kalküle, etwa solche der Machtstabilisierung, eine Rolle spielen. Wir wollen aber möglichst wenig spekulieren und strategisch sowie militärpolitisch durchspielen, was es bedeuten würde, wenn die Führung in Jerusalem sich entschlösse, bald und allein zuzuschlagen. Um der Leserschaft die Spannung zu nehmen: Dies erscheint rein praktisch so problematisch, dass jene Kräfte in Israel sich gestärkt sehen dürften, die für eine Vertagung bis Anfang 2013 eintreten, um zumindest die Chance zu haben, einen nach der Wahl handlungsfähigeren US-Präsidenten mit an Bord ziehen zu können.
Israels Luftwaffe hat gegenwärtig 270 Jäger und Jagdbomber. Etwa 130-140 davon sind für einen Luftschlag gegen Persien geeignet, aber nur circa 100 technisch verfügbar. Mit dieser Zahl lassen sich sechs oder sieben wesentliche Ziele des iranischen Atomprogramms so stark bombardieren, dass mehr als nur symbolischer Schaden entsteht. Das sehr dezentralisierte iranische Programm weist allerdings noch weit mehr wichtige Einrichtungen auf, die mit der angegeben Zahl von Flugzeugen nicht „bedient“ werden können. In dieser Zahl sind nämlich auch Maschinen enthalten, die zur Unterdrückung der iranischen Luftabwehr erforderlich wären. (Mit einer Abwehr der zu überfliegenden Nachbarstaaten ist vermutlich nicht zu rechnen.)
Die zumeist schwer beladenen Maschinen müssen auf dem Hin- und Rückweg in der Luft betankt werden. Fraglich ist, es gibt da eine Unklarheit in den Daten, ob die israelische Betankungskapazität dafür ausreicht. Sinnvoll erscheint hier auf jeden Fall amerikanische Unterstützung, die im Wahljahr 2012 durchaus nicht gesichert ist.
Die persischen Atomanlagen sind in zunehmendem Maße verbunkert oder in Bergwerksstollen untergebracht. Den tiefer gelegenen Anlagen ist mit den „Bunkerknackern“ der Israelis nicht beizukommen. Es bliebe nur das Bombardieren der Eingänge. Einzig die USA verfügen zurzeit über Präzisionsbomben, die eventuell zu den tiefsten iranischen Installationen vordringen könnten. Diese Bomben sind aber so schwer, dass sie von den israelischen Jagdbombern nicht getragen werden können.
Die unterirdischen Anlagen sind keine Punkt-, sondern Flächenziele. Man kann also präzise daneben bomben, wenn nicht hinreichend bekannt ist, wo genau im Bunker die wichtigste Technik verborgen ist. Die Satellitenaufklärung mittels Wärmebild- und anderen Sensoren, die unter die Erde zu blicken verspricht, hilft da nur begrenzt. Gibt es doch die Möglichkeit, Täuschziele (dummies) zu schaffen, die zu relativ bescheidenen Kosten auch hoch entwickelte Sensoren hereinlegen können.
Im Sommerkrieg (Libanon 2006) waren die massiven israelischen Luftangriffe gegen das netzartige Bunkersystem der Hisbollah auch deswegen so wenig effektiv, weil dieses System zahlreiche dummies umfasste. Man hatte sich von Spezialisten der iranischen Revolutionswächter (Pasdaran) beraten lassen.
Wenn Israel trotz aller Schwierigkeiten den Alleingang wagen und mehr als nur symbolischen Schaden anrichten sollte, würde dadurch das iranische Bombenprogramm, wenn es ein solches überhaupt gibt, um etwa ein Jahr zurückgeworfen. Dies ist eine Einschätzung aus militärischen Führungskreisen der USA. Würden die Vereinigten Staaten mitmachen, ließen sich noch drei Jahre hinzuzählen. Damit wäre also alle Nase lang ein Luftschlag fällig: eine Perspektive, die nicht wirklich fröhlich stimmt.
Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Iran nach dem Erziehungsmodell „Lernen durch Bestrafung“ klein bei und Pfötchen gibt. Geht es doch um eine stolze, alte Nation mit einer Führung, die offenbar Gegner braucht. Um ein Land, das an zweiter Stelle bei den bekannten Gas- und an dritter Stelle bei den Ölreserven liegt, und dessen Grenzen sich rundherum nicht abriegeln lassen.
Der Iran könnte nun erst recht Atomwaffen entwickeln – also eine Option wahrnehmen, mit der zuvor der internationalen Aufmerksamkeit wegen nur gespielt wurde. Der Iran könnte zudem den Verkehr durch Straße von Hormus behindern: durch die zahlreichen Raketenschnellboote der Pasdaran, die aus dem Radarschatten der küstennahen Inseln heraus operieren würden, sowie Treibminen. Diese Option wäre freilich für Teheran recht problematisch, würde sie doch auch dem eigenen Handel schaden und eine gefährliche Koalition aller ölabhängigen Staaten provozieren. Gleichwohl: Angriffe auf die Straße von Hormus sind ein spezieller Alptraum– wegen der üblen Folgen für die Weltwirtschaft.
Schließlich könnte der Iran die Hisbollah dazu motivieren, von deren gut verteidigten Basen im Südlibanon aus Israel erneut mit Raketenterror zu bedrohen: nur dieses Mal mit dichterem Feuer und größeren Reichweiten als 2006. Damals floh etwa eine halbe Million Israelis aus der Zone potenzieller Gefahr. Würde sich diese Zahl verdoppeln, wäre dies fast ein Siebentel der Gesamtbevölkerung (auf Deutschland umgerechnet: elf bis zwölf Millionen Menschen) – also ein veritables Desaster.
Die Frage ist, ob die Führung der Hisbollah sich so einfach wie früher aus Teheran dirigieren ließe: Da gibt es nämlich zum einen das Problem, dass mit einem möglichen Fall des Assad-Regimes der über Syrien laufende Nachschub aus dem Iran ausbleiben könnte. Und da ist zum anderen die Veränderung der Hisbollah zu einer Art „Sozialdemokratischen Partei Allahs“: einer Organisation mit zunehmend innenpolitischer Orientierung, zu deren Konzept militärische Opfergänge nicht mehr so recht passen. Doch wer weiß? Die Solidarität mit den schiitischen Brüdern im Iran mag in der Stunde der Not doch noch etwas bedeuten, und Israel geriete dann an die Grenzen seiner Existenz.
Schlagwörter: Atomwaffen, Iran, Israel, Lutz Unterseher, Naher Osten, USA