15. Jahrgang | Nummer 8 | 16. April 2012

Bemerkungen

Heinz Kahlau

Die Gabe der Prophetie war ihm wohl auch eigen. Schon Anfang der 80er Jahre hatte Heinz Kahlau geschrieben:

Ich lebe schon lange im Osten
und hab’ einen guten Posten.
Es wäre natürlich am Besten,
ich hätte den Posten im Westen.
Doch wäre der Westen im Osten,
hätt’ ich gar keinen Posten.

Doch vertrauter war der Dichter den Lesern in der DDR durch seine einprägsamen Kinderverse – wie „Der Rittersporn blüht blau im Korn“ oder „Dem Löwenzahn zum Ruhme gibt es die Pusteblume“ – und durch seine Liebeslyrik aus dem Bändchen „Du“ von 1971.
Dabei war es Heinz Kahlau keineswegs an der Wiege gesungen, Dichter zu werden. Sein Elternhaus hatte keine Affinität zu Büchern und zum Lesen. Der Teenager, Jahrgang 1931, lernte Drechsler und arbeitete als Traktorist. Sein „Erweckungserlebnis“ hatte er mit 19 Jahren – in einer Tbc-Heilstätte, in deren Bibliothek er auf Gedichte stieß. Er begann, selbst welche zu schreiben. Zu seinen Vorbildern zählten Ringelnatz und Morgenstern. Und Brecht, dessen Meisterschüler er ab 1953 wurde.
Heinz Kahlau war vielseitig, er schrieb Hörspiele für Kinder, Stücke, Texte für Karat und war Mitverfasser des Drehbuches von „Auf der Sonnenseite“, das Ralf Kirsten 1961 mit Manfred Krug und Marita Böhme verfilmte.
In Nachwendezeiten war der Dichter PDS-Bezirksverordneter in Pankow. Als Künstler schlug ihm im vereinigten Deutschland allerdings überwiegend Ignoranz entgegen, was die Süddeutsche Zeitung in einem Nachruf mit dem ihr eigenen Understatement in die Worte fasste: „[…] aber einen Platz im gesamtdeutschen Literaturbetrieb fand Kahlau nicht“.
Er emigrierte nach Usedom. In seinem dortigen Refugium ist er am 6. April gestorben.

Alfons Markuske

90 Jahre Rapallovertrag

Dieser, zwischen Deutschland und der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (einer Vorgängerin der Ende 1922 gebildeten UdSSR) am 16. April 1922 abgeschlossene Vertrag wurde in der sowjetischen wie auch in der DDR-Geschichtsschreibung sehr positiv bewertet – als früher Erfolg der Lenin zugeschriebenen Konzeption der friedlichen Koexistenz.
Mit dem Vertrag nahmen beide Länder ihre zuvor unterbrochenen diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen wieder auf. Profitiert haben davon beide Seiten: Für die Weimarer Republik, deren Waren von den ehemaligen Kriegsgegnern in Westeuropa und Nordamerika boykottiert wurden, öffnete sich der russische Markt, und Sowjetrussland, das vergleichbaren ökonomischen Restriktionen ausgesetzt war, erhielt Zugang nach Deutschland. Und er schuf die Basis für die spätere enge Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, durch die Deutschland die Bestimmungen des Versailler Vertrages unterlaufen konnte – etwa im Hinblick auf die Entwicklung von Panzern und Kampfflugzeugen. Die UdSSR erhielt Zugang zu modernem waffentechnischen Know-how.
Dass der Vertrag in Deutschland nicht nur bei besonders konservativen und bei extrem rechten Kräfte – letzteren diente er zum Anlass, den damaligen deutschen Außenminister Walther Rathenau zu ermorden – äußerst kritisch gesehen wurde, zeigt die Rubrik Vor 90 Jahren in dieser Ausgabe.

WS

Irritationen beim Lesen seiner Termine

Beim Überfliegen der vorgemerkten Tagestätigkeiten stockte ich:
Bank
Notar
Urologe
Friedhof.
Es erschien mir zu folgerichtig.
Ein recht gläubiger … nicht ein Rechtgläubiger, also einer, der an das Recht glaubt, sondern ein im allgemeinen recht gläubigen Mensch, der so recht glaubt, dass es einen Gott gibt, der also riet mir, einen Kirchenbesuch dazwischen zu schieben.
Zwischen Bank und Notar?
Da hilft mir kein Gott.
Zwischen Notar und Urologe?
Um zwischen der Hinterlassung meines Testaments um Gnade für das Urteil des Urologen zu bitten?
Zu spät, meine ich.
Ich sollte die Reihenfolge ändern.
Zuerst zum Urologen, dann zum Notar und dann zur Bank? Oder erst zum Friedhof.
Für den Kirchenbesuch gibt mir die Bank nichts. Aber Gott könnte mir beim Urologen helfen und für nach dem Friedhof.
Ist alles nicht überzeugend. Gottes Hilfe brauche ich sowieso für ganz was anderes.

Dieter Hildebrandt


Friedenstaube Eli

Eli Jischai, der israelische Innenminister  und Vorsitzender der orthodoxen Schas-Partei Israels hat das  Einreiseverbot für Günter Grass getoppt und die Aberkennung des Nobelpreises für den Literaten gefordert, der für ihn in die Kategorie „Nazi“ abgerutscht sei. Dem hiesigen Leser, dem Jischai möglicherweise kein Begriff sind, sei ergänzend einiges zur Person hinzugefügt, das einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2010 entnommen ist. So bezeichnet der Innenminister die rund 250.000 Gastarbeiter als eine Gefahr für die „jüdische Identität“ des Landes. In eingewanderten Afrikanern sieht er potentielle Terroristen, Seuchenträger und Drogendealer. „Meiner Meinung nach“, so Jischai, „sollten sie (die Hamas-Terroristen) ausradiert werden, deswegen werden Tausende Häuser, Tunnel und Industriegebäude zerstört.“ Ein Zitat, das immerhin Eingang in den sogenannten Goldstone-Bericht der UNO fand, der Israel Kriegsverbrechen vorwirft.
„Wir werden dafür arbeiten, dass in den Siedlungen so viel wie möglich gebaut wird“, ist Jischais Position zu einem der friedensgefährdendsten Akte seiner Regierung im Nahen Osten. Die Palästinensergebiete sind für ihn heiliges Land, das niemals aufgegeben werden dürfe. Seine Auffassung, dass Schwule und Lesben „krank“ sind und entsprechend zu behandeln wären, ist im Reigen von so viel Scharfmacherei schon nicht mehr überraschend.
Als einen „Jean Marie Le Pen mit Bart“ hat der linke Haaretz-Kolumnist Gideon Levy den Innenminister einmal beschrieben. Jischai und Netanjahu hätten aus der Geschichte nichts gelernt, wenn sie einerseits ausländerfeindliche Ressentiments schürten und andererseits wie Ende Januar der Welt predigten, die Verfolgung der Juden durch die Nazis nicht zu vergessen, erklärte er. Das Nationaltheater „Habima“ hatte Jischai 2010 in einem Sketch sogar als Nazi karikiert.

Horst Jakob

Musik für Kopf und Seele: Elin Furubotn

Wer bei skandinavischer Musik bei Abba und A-ha stehen geblieben ist, sollte sich durchaus mal die aktuellen Musikströmungen aus dem hohen Norden zu Gemüte führen.
Die norwegische Musikerin Elin Furubotn bietet auf ihrem ersten internationalen Album “Heilt Nye Vei” hörenswerte Lieder an, die im weiten Grenzbereich zwischen Pop und Jazz angesiedelt sind.
Die eigenkomponierten und -getexteten Lieder hat sie mit Hilfe norwegischer Musiker, unter anderem mit dem Saxofonisten Karl Seglem, aufgenommen. Gerade die ruhigeren, musikalisch dezent begleiteten Stücke hinterlassen den stärksten Nachklang.
In den deutschen Frühstücksradiosendern dominiert das massenkompatible, englische Liedgut. Insofern muten die norwegischen Texte, die im CD-Booklet ins Englische übersetzt wurden, beim ersten Hören sicherlich etwas ungewohnt an.
Doch wer sich auf Elin Furubotns „ganz neuen Weg“ (so das titelgebende Lied) einlässt, wird mit lässig-leicht vorgetragener Musik mit lyrischem Tiefgang beglückt.
Die Seele lächelt und das Herz tanzt im Lied „Stillheten“ (Stille), während „En Drom“ (Ein Traum) im gleichnamigen Lied freundlich Einlass begehrt und zum Tanze auffordert.
Elin Furubotns Liedtexte zeichnen sich durch eine sehr bildhafte Sprache aus; es sind helle, pastellfarbene Töne, die sie dem Leben abschaut.
Und sie fordert dazu auf, sich im Kopf die eigenen Gedanken bunt zu färben – selbst Regenbogen kann man sich in der Gedankenwelt schaffen.
Das dazu passende Liedgut liefert Elin Furubotn praktischerweise gleich mit.

CD Elin Furubotn: Heilt Nye Vei, erschienen 2012 bei Ozella Music

Thomas Rüger

Geh-danken

Erst die Stille des Waldes lässt uns wieder den wirklichen Lauf der Welt hören. Töne, die nicht vom Machen und Tun kommen, sondern vom Wachsen, dem Leben selber. Solch ein Wachsen treibt die Welt an, nicht ein Motor. Das Rauschen der Blätter ist eine nur schwer deutbare Antwort der Bäume an den Wind.
Der leichte Aufschlag einer reifen Frucht kann Schlusspunkt, aber auch Anfang eines neuen Satzes sein. Die Rufe der Tiere, der Gesang der Vögel, all dies sind unmittelbare Äußerungen des Lebendigen, Notenzeichen, die dem Kundigen, im Zusammenhang gehört, die Sinfonie des Lebens vermitteln.
Leider kennt das Land nicht mehr viele Orte und Stunden, in denen solche Melodien unverfälscht zu hören sind.

Die Jahresringe der gefällten Kiefern,
Zeilen in einem Tagebuch,
die sich einmal weit in den Himmel
streckten.

Der persönliche Nordpol, nach dem sich die Kompassnadel des Lebens ausrichtet, liegt zunehmend in den Kaufhäusern.

Siegfried Haase

Osterlemminge

Was ist der kreuzbeschwerte Passionsweg auf der Via Dolorosa gegen jenen der Via Konsumenta, dem vorösterlich Zehntausende allein in Berlin zu Kreuze gekrochen sind? Von „Kaufrausch“ war in den Medien – mehrheitlich stolz – die Rede. Wie die Lemminge zogen sie durch die Gassen der bunten Warenwelt, gehört doch Ostern längst nicht mehr zu jenen Festen, bei denen es mit Braten und – für die Kinder – Süßigkeiten abgeht. „Die Kids sind anspruchsvoller geworden“, wusste im TV ein Papa zu begründen, warum es schon mal Spielzeug für hundert Euro sein durfte, das die lieben Kleinen (oder war´s nur eines?) dann gewiss im Bio-Gras unter Bio-Büschen suchen und finden durften.
Betrachtet man, was sich – und das keineswegs nur vor den (ehemaligen) Familienfesten –  heutzutage abspielt, dann weiß man: Mit der Kollektivierung auf kapitalistisch, wie die daseinsethische Abrichtung auf den Konsum allemal genannt werden kann, hat der kommunistische Grundgedanke die freiheitlich-demokratische Grundordnung sozusagen meuchlings kontaminiert. Dialektischer Weise ist dieser Kollektivismus nun wieder aber auch in der Lage, das egoismusorientierte deutsche Wirtschaftswunder dauerhaft zu stabilisieren: Führte man gesetzlich 80 weitere geschenkpflichtige Feiertage ein, wäre des Produzierens und Konsumierens kein Ende. Diese  Idee würde todsicher zur materiellen Gewalt, denn sie hat die Massen ja bereits ergriffen.

Helge Jürgs

P.S. Wer an kaufoffenen Feiertagen in (Berliner) Konsumtempel schaut, fragt sich, was Menschen eigentlich gegen Legebatterien für Hühner haben.

Bekloppte

Den Film- und Fotobildern nach zu urteilen sind die meisten zwischen 20 und Mitte 30, die sich am „Internationalen Tag der Kissenschlacht“ (den scheint es wirklich zu geben!) auf zentralen Plätzen von Großstädten in aller Welt versammelten hatten. Der Bezeichnung dieses Datums entsprechend, kloppten sie sich solange daunengefüllte Kissen um die Ohren, bis die benutzen Areale wie schneebedeckt aussahen.
Das alles war für die Beteiligten ungeheuer lustig, muss man wissen, und wenn einigen Orts irgendwann die Polizei dem verkehrsbehindernden und stadtbildversauenden Treiben ein vorzeitiges Ende bereitete – umso besser, denn das macht Events wie diese noch viel cooooler. Es ließe sich hieran mühelos eine Exegese über den Geisteszustand der Akteure anschließen; zum Glück aber kann man die auch ganz kurz fassen: Ähnliches haben wir früher mit Geschwistern zu Hause oder mit Kumpels im Ferienlager getrieben, da waren wir 10 oder 12.
Der Siegeszug des Infantilismus scheint unaufhaltsam…

HWK

Dauerbrenner Morgenstern

Von Peter Ramsauer, das ist ein bundesdeutscher Minister, ist wenig zu hören. Und das ist auch gut so, denn so bleibt unsereinem doch einiges erspart. Aber auch ihn betreffend gilt: Es war beziehungsweise ist nicht alles schlecht, was sein ministerieller Geist dann und wann in die Öffentlichkeit entlässt. Zuletzt durfte das allemal dafür gelten, dass er – für den Verkehr in diesem Lande zuständig – sich bitter und deftig über das Verhalten von Radfahrern geäußert hat, deren inflationäre Missachtung von Verkehrsregeln und Rücksichtnahme besonders auf Fußgänger ihn zum Gebrauch des längst etablierten Begriffes der „Kampf-Radler“ veranlasste. Selbstredend hat dies Protest nach sich gezogen, denn die Radfahrer haben mit dem ADFC eine Lobbyorganisation, die sich verpflichtet fühlt, ihre Klientel in Schutz zu nehmen. Was sie dafür zur Hand hat ist das Zaubermittel per se: die Statistik. Und die belege, dass noch immer die Mehrzahl der Unfälle von Autofahrern verursacht werde. Als ob dies der Gegenstand der Kritik sei … Aber Statistik geht immer. Schließlich wird unsereinem ja bereits zehn Jahre lang damit bewiesen, dass die nahezu übereinstimmende Erfahrung, dass sich mit der Euro-Einführung die Preiswelt mehrheitlich massiv zuungunsten der Konsumenten verschoben hat, jeder Grundlage entbehrt. Mit der richtigen Statistik ausgerüstet gilt noch immer Christian Morgensterns Lebensweisheit: „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“

HWK

Wirsing

In einem Nachruf auf den großen Lyriker Heinz Kahlau hebt die Berliner Zeitung hervor, dass er eine Zeitlang PEN-Präsident der DDR-Sektion gewesen wäre. „Auch engagierte er sich im Schriftstellerverband der DDR“, fährt die Autorin fort, „ und schreit Texte für die Berliner Rockgruppe Karat.“ Nun gut, es müsste korrekt „schrie“ heißen, aber dass Kahlau dem Herbert Dreilich Konkurrenz gemacht haben sollte, wäre neu. Vielleicht geschieht das ja jetzt in einer anderen Welt.

Fabian Ärmel