von Holger Politt, Warschau
Nun auch Polen. Das Einstiegsalter für die Altersrente soll auf 67 Jahre steigen – für Frauen und Männer gleichermaßen. So will es Ministerpräsident Donald Tusk, so will es seine Partei, die Bürgerplattform PO, die im Parlament an Sitzen fast die absolute Mehrheit hält. Fast. Der kleine Koalitionspartner, die Bauernpartei PSL, sträubt sich aber, schlägt Kompromisse vor, die vor allem den Frauen zugutekommen sollen. Derzeit können sie bereits mit 60 Jahren in die Rente gehen. Also schlägt die PSL vor, im Gegenzug zur Erhöhung des Einstiegsalters den Müttern für jedes Kind drei Jahre Arbeitszeit zu erlassen. Tusk hat bereits angekündigt, auf diesen, wie er es nennt, Kuhhandel nicht einzugehen.
Nun ist man in der Medienwelt gespannt, ob Tusk die Koalition wegen der Rentenfrage gar platzen lässt. Ersatz stünde bereit, denn die im vergangenen Herbst frisch in den Sejm eingezogene Palikot-Bewegung spricht sich für den Reformvorschlag des Ministerpräsidenten aus. Da die Bevölkerung immer gesünder werde und länger lebe, so ein vor Gesundheit strotzender Janusz Palikot, gebe es keine Alternative, könne an Regeln aus Bismarcks Zeiten nicht länger festgehalten werden. Manch Beobachter argwöhnt deshalb, der Tusk habe bis 2011 das Thema gemieden, weil eine parlamentarische Mehrheit in dieser Frage nicht in Sicht gewesen sei. Denn die Linksdemokraten (SLD) und die Nationalkonservativen (PiS) verweigern sich solchen Plänen.
Bereits 2007 hat die PO in ihrem Wahlprogramm von einer demographischen Herausforderung gesprochen, allerdings offen gelassen, was genauer darunter zu verstehen sei. Danach ist die große Regierungspartei nie wieder auf das Thema zurückgekommen. Im Gegenteil. Die weitgehende Privatisierung des gesetzlichen Rentensystems in der letzten Legislaturperiode wurde noch mit der Botschaft verpackt, das ganze System werde dadurch sicherer, weil besser den modernen, also flexiblen Erfordernissen angepasst. Nun aber, so Tusk in tiefster Winterzeit, habe sich herausgestellt, dass die Kassen immer leerer werden, weshalb die Lebensarbeitszeit heraufgesetzt gehöre.
Neben der neuen parlamentarischen Mehrheit, die sich in dieser Frage deutlich abzeichnet, setzt Tusk auf den Rückenwind in der Gesellschaft. Schnell haben Meinungsforscher herausgefunden, dass es unter den 20- bis 40-Jährigen für die Renten-Pläne der PO eine deutliche Mehrheit gäbe, erst bei den 50- bis 60-jährigen würde sich mehrheitlich Unmut und Widerstand einstellen. Das ermutigt das Reformlager, das sich selbst nun als Interessenvertreter der heranwachsenden Generationen sieht. Da es Übergangsfristen geben soll, die in Abstufungen die heute 50- bis 60-Jährigen noch verschonen, könne außerdem gar nicht verstanden werden, weshalb nun eben diese Altersgruppe sich dem Reformwerk versperre. Und schon wird der schwarze Peter den Parteien zugeschoben, die Widerstand signalisieren. Populistisch seien sie, würden billig mit den Ängsten der Menschen spielen. Außerdem seien ihre Argumente altbacken, passten nicht ins 21. Jahrhundert.
Der mit allen Wassern gewaschene Haudegen Leszek Miller, der seit Dezember letzten Jahres wieder die Linksdemokraten führen darf, steht dabei in einer Front mit der Gewerkschaft „Solidarnosc“, die ihrerseits die entschiedene Unterstützung durch Polens zweitgrößte Gewerkschaftszentrale OPZZ begrüßt. Fast beschleicht einen der Eindruck, hier ziehe Jugend gegen Gewerkschaft auf den Plan. Oder Alt gegen frische Individualität, wenn man es andersherum betrachtete. Da bei den unter 40-Jährigen der Zuspruch für die PO und die Palikot-Bewegung anhaltend hoch und überdurchschnittlich ist, scheint denen die Herausforderung des bereits angekündigten Gewerkschaftsprotestes aushaltbar.
Es ist ein neuerlicher Beweis, dass auch in Polen das Industriezeitalter allmählich seinen Abschied nimmt. Mit ihm verschwindet die soziale Bindungskraft dessen, was in einem umfassenden Sinne Arbeiterbewegung genannt werden kann. Etwa die Solidarität zwischen den Generationen, die verdrängt wird durch eine Mischung aus traditionellen Familienbeziehungen und der sehr in den Vordergrund gerückten sogenannten Eigenverantwortung, die zu einem selbstbestimmten Leben gleich einem untrennbaren Attribut dazugehöre. Jeder sei nun wieder seines eigenen Glückes Schmied, auf die richtige Versicherung komme es an. Zwischen Oder und Bug glaubt kaum einer der jüngeren Menschen daran, bei Erreichen des 67. Lebensjahrs noch ein funktionierendes staatliches Rentensystem vorzufinden. Doch dieses gleich ganz abzuschaffen, das traut sich Donald Tusk heuer dann doch nicht.
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