von Reinhard Wengierek
Was wohl tun die Bücher im Bücherregal, fragt sich Herbert Fritsch, seit er lesen kann. Ganz einfach, sie murmeln vor sich hin. Und weil einst sein alter Freund, der ziemlich abwegige Schweizer Aktionskünstler Dieter Roth (1930-1998), den Text „Murmel Murmel“ schrieb, der aus dem einen, endlos auf 176 Seiten wiederholten Wort „Murmel“ besteht, inszenierte Fritsch diese serielle Seltsamkeit jetzt in der Volksbühne Berlin. Die war trotz des völlig unbekannten Vier-Silben-Titels randvoll mit Kritikern. Denn Fritsch gilt als der momentan heißeste Regisseur im Theaterkessel. Die gängigen Stichworte: Schalk von hohen Graden, hysterischer Theaterschreck, extrem komisch, durchtrieben dämlich, total genial.
Was aber liefert Frisch mit der undramatisch-sinnarmen Murmelei? Ein edel gestyltes, musikalisch fein gestütztes Entertainment für elf super gelenkige Showspieler, die zum enorm variantenreichen Gemurmel das jeweils passende, aus dem alltäglich absurden Leben gegriffene Geschichtchen solistisch, in Grüppchen oder chorisch vorführen. Ein Füllhorn von Einfällen kippt über die bonbonbunte Bühne. Sehr witzig, gar zauberhaft, schick und kunstvoll. Und mit seinem tolldreisten Charme den Muff aus dem Gemüt pustend. Der Herbert Fritsch also neuerdings nicht wie sein Etikett (der anarchistische In-Wunden-Wühler und hysterische Maske-vom-Gesicht-Reißer), sondern als schlitzohriger Zirkusdirektor, der prima amüsiert, aber – verliebt in seine vielen Ideen – das Timing verpfuscht. Von den 90 Minuten sind 30 zu viel. Trotzdem: „Murmel Murmel“ wird Kult und – endlich gestrafft – ein Hit werden im globalen Festivalbetrieb. Willkommen im Mainstream. Bye-bye Anarchie, Hysterie, Wühlen, Reißen. Jedenfalls diesmal.
Aber wer ist dieser Fritsch, den neuerdings ganz Theater-Deutschland ventiliert? Sein Anfang war: Keine Kuschelkindheit, sondern ein zerzaustes Zuhause. Der Vater mit 18 aus dem Kriegsgefangenenlager, die Mutter Bürokraft bei der US-Army in Augsburg ‑ da schreit Herbert störend dazwischen. Die Eltern trennen sich. Das Kind kommt zu den Großeltern, dann nach Hamburg, dort in die Schule. Als bayrischer Bub in einer katholische Schule: „Das war Diaspora, da lief es besonders streng. Und ich wurde behandelt wie ein Stück Dreck; igitt, ein Scheidungskind.“ – Das prägt, da keimt Renitenz! Mit 17 schmeißt Fritsch die Schule, treibt sich rum, liest Hesse, Kerouac, solche Sachen. Will Dichter werden, spinnt rum, träumt. Und wird Junkie. Kommt frei auf Bewährung, kriegt die Auflage: Lern einen Beruf! Er sagt: „Schauspieler.“
Weil man da spinnen kann, träumen, toben. So denkt sich der Halbstarke die Schauspielerei. Bis heute. Kein Beruf, ein Daseinszustand. Mit dem fiel er schnell auf im Münchner Off um 1968. Man war (und so sollte es bleiben) überrumpelt, irritiert, angetan. Es fanden sich verbissene Kritiker, fanatische Förderer. Und der wilde Fritsch landet – zumindest für kurze Zeit (lange wird er es nirgends aushalten) – in der A-Liga: Münchner Kammerspiele. Dann dort wieder weg und für länger ab in die Provinz – bis schließlich Mitte der neunziger Jahre wieder nach ganz oben: Ins Hauptstadt- und Welttheater Volksbühne Berlin zu Frank Castorfs Höchstglanz-Zeit. Der exzessive Turbo-Spieler befeuerte als komisch keuchender Slapstick-Tragiker den Castorf-Kult: „Clockwork Orange“, „Die Nibelungen“, „Der Idiot“, „Berlin Alexanderplatz“, „Schneekönigin“.
Nach der Jahrtausendwende wieder weg aus Berlin. Weg vom Fenster: Krankheit; die schweren Nachwirkungen aus den alten Zeiten voll Rausch, Ekstase, Totalverausgabung. Und auch die Knochen knicken nicht mehr wie früher beim Toben, da lässt er das fortan andere tun: Als Regisseur mit Graubart, Halbglatze, Hornbrille zieht er ab Mitte der nuller Jahre über Land. „Bei mir dürfen Schauspieler all das machen, was ihnen schon auf der Schauspielschule verboten wurde. Das ist die Gegenposition zum authentischen Spielen. Grimassenschneiden, Körperverrenken, seltsam Sprechen sind naive Grundelemente von Theater. Damit will ich die Leute entkrampfen, Gefühle lostreten.“ So inszenierte er sich alsbald in die Premiumklasse: Als wuchtiger Einschläger beim Theatertreffen 2011, von Jubel und Buh umtost mit seinem Regie-Doppel „Nora“ aus Oberhausen (Ibsens Emanzipations-Klassiker als groteske Bloßstellung bloß peinlicher Macho-Ballermänner) und „Der Biberpelz“ aus Schwerin (die Hauptmann-Komödie als gallige Comic-Raserei). Fritsch beim Berliner Best-of-Schaulaufen auf Anhieb mit gleich zwei Stadttheater-Inszenierungen. Sensationell!
Damit thront er an der Spitze und „frühstückt erhobenen Hauptes“. Denn alle wollen Herbert, der sich lauthals als tabuloser „Entkrampfer“ versteht – von den Krämpfen in den Seelen des Publikums und denen in den Regietheaterköpfen. Auch Castorf, sein Compagnon aus alten Zeiten, will den „Wunderheiltheaterer“ (O-Ton Fritsch). Und so mischt er den angejahrten Volksbühnenbetrieb auf mit Slapstick-Tempo, Clowns-Humor und greller Verkleidung: Seine Inszenierung der Spießerklamotte „Die (s)panische Fliege“ vom wilhelminischen Autorenduo Arnold & Bach ist der zurzeit lauteste Knaller im Hauptstadttheater und kracht prompt ins – schon wieder! – Theatertreffen; demnächst im Mai.
Vom Gipfel nochmal der Blick zurück und nach unten: Auf Herbert Fritschs Schauspiel-Tollerei durch die Provinz in den siebziger-achtziger Jahren. Das erste echte Stadttheater-Engagement war Heidelberg – „war Gängelei und Langeweile“. Der Frust trieb 1980 zur Kündigung und zum eigenen Ding: zum Herumtoben jenseits aller Schamgrenzen. Das Ding hieß „Null-Show“. „Es gab kein Thema, keine Proben, keinen Text, nur Spontanität, Ekstase, Gesumm und Gekreisch.“ Fritsch war die Riesen-Rampensau, der monomanische Hysterie-Performer. Der freilich gab keine feinsinnigen Rollenporträts, keinen komplexen Seelenrealismus, der skizziert Comic-Figuren, pinselt Plakate. Und passte dann – göttlicher Zufall! – genau in Castorfs fantastisches Verfremdungs-Volksbühnen-Volkstheater der 1990er Jahre.
Jetzt setzt Fritsch das auf seine Art fort als Regisseur (für Rampensäue). Als Abstraktionist dirigiert er gigantische Übertreibungen, tollkühne Slapstickiaden, virtuose Sprechartistik und stellt so das Komische, Groteske und, ja doch, das Pathologische und Zwanghafte aus. Das – und sein Sinn für papageienbunten bis rabenschwarzen Humor –, das macht ihn zum so bewunderten wie beschimpften König der Farce, wie besoffen wankend zwischen Ironie, Zynismus und Sentimentalität, zwischen Tiefsinn und Allotria. Ein toller Meister von durchaus hochartifiziell arrangierten Shows, die unser aller Neurosen und Ängste laut brüllend oder aasig kichernd durchexerzieren. Sein Credo: „Theater nicht als Schule, nicht als Kirche, sondern als Kraftwerk. Oder Boxkampf, der die Leute in Rage bringt.“ Gerade aber macht Fritsch mal eben murmelnd Pause von Kraftwerk und Boxkampf. Und tänzelt als Scherzkeks juxend auf dem Boulevard. Schöööön! Aber genug. Wir wollen wieder in Rage, wollen Wühlerei und Boxen. Los Herbert!
Schlagwörter: Dieter Roth, Herbert Fritsch, Murmel Murmel, Reinhard Wengierek, Theater, Volksbühne Berlin