Afghanistans Zorn und das Dilemma des Westens

von Thomas Ruttig

Sechstägige Demonstrationen in etwa der Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans. Blockierte Straßen. Versuche, ISAF-Stützpunkte und UN-Büros zu überrennen. Jihad-Aufrufe selbst im afghanischen Parlament. Mehr als 25 Todesopfer: Demonstranten, afghanische Polizisten, amerikanische Berater. Es waren wohl die größten Proteste, die Afghanistan seit dem Sturz der Taleban erlebt hat. Darauf folgte der Abzug aller britischen, französischen, deutschen und US-Berater aus den Kabuler Ministerien. „Zeitweise“ heißt es – aber auch das ist präzedenzlos.
Andererseits: Die meisten Proteste blieben friedlich. Meist gingen nur ein paar hundert Menschen auf die Straße. Auch nach dem Gebet am Freitag, dem folgenreichsten Tag der Proteste, kehrten die meisten Gläubigen ruhig nach Hause zurück. Wohl nicht jeder der zornig war, wollte den Aufrufen der Scharfmacher folgen, die oftmals selbst „Blut an den Händen“ haben, die seit den 1980er Jahren führend an den Bürger- und Fraktionskriegen beteiligt waren. Aber der Zorn rührt eben auch nicht nur von den Koran-Verbrennungen her. Viel tiefer sitzt, dass mehr und mehr Afghanen einfach nicht erkennen können, dass ihnen die ausländische Intervention – wie ursprünglich erhofft – mehr Sicherheit und ein besseres Leben bringt. Im Gegenteil: der Krieg wurde ausgeweitet, auch mit tätiger Mithilfe der Taleban. Eine kleine Oberschicht bereichert sich daran, während die soziale Kluft rapide zugenommen hat. Der Westen hat dagegen nichts unternommen, denn viele der Korruptionsbarone sind seine Verbündeten. Man kann also von „kumulativer Empörung“ sprechen, die durch die Koran-Verbrennung in Bagram entzündet wurde.
Waren die Protestierenden nun nur eine Minderheit, oder sprachen sie für breitere Bevölkerungskreise? US-Präsidentschaftskandidat Newt Gingrich sprach pauschal von den „undankbaren“ Afghanen, die schon „ein paar tausend Jahre damit verbracht haben Ausländer zu hassen“. (Ja, vor allem ungebetene und bewaffnete Ausländer, die ihnen sagten, wie sie ihr eigenes Haus gestalten sollten.) Die taz zitierte einen „amerikanischen Afghanen“, der die Protestierenden als „Minderbemittelte, die nicht einmal den Koran lesen können“ denunzierte. Das ist natürlich höchst arrogant, typisch für viele Exil-Heimkehrer. Um mit Haitis früherem Präsidenten Jean-Bertrand Aristide zu kontern: „Analphabète, pas bête“ – „Analphabet, aber nicht blöd“. Auch Afghanen sind in der Lage zu entscheiden, wann und mit wem sie protestieren. Der Zorn war groß nach der Koran-Verbrennung im US-Stützpunkt Bagram, nicht nur bei Islamisten. Aber natürlich geht nicht jede/r Zornige auf die Straße. Andererseits: Selbst wenn ein gläubiger Afghane von Zorn erfüllt ist, heißt das noch lange nicht, dass er den Mullahs folgt oder gar von ihnen regiert werden möchte.
Vorfälle wie der in Bagram spielen durchaus nicht nur den Taleban in die Hände. Neben vielen Mullahs (aber auch unter ihnen gibt es gemäßigte und gebildete, und viele hatten zu Mäßigung aufgerufen) betrifft das vor allem die früheren Warlords, die inzwischen als „Jihadi-Führer“ firmieren. Das meint den heiligen Krieg gegen die Sowjets, kann nach Bedarf aber auch auf andere „Ungläubige“ ausgedehnt werden. Sie bilden inzwischen Karzais engsten, wenn auch inoffiziellen Beraterstab. Sie werden immer dann in den Präsidentenpalast gerufen, wenn wirklich wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen. Sie arbeiten daran, kulturell wie politisch ihre Hegemonie zu festigen. Wer mag sie jetzt noch kritisieren, wenn sie etwa den Kulturminister dazu bringen, den afghanischen Fernsehsprecherinnen wieder einmal eine ordentliche Verschleierung und weniger Make-up zu verordnen? Wohlgemerkt: der Minister ist wohl der Liberalste im ganzen Kabinett, und er hat sich das kaum selbst einfallen lassen. Den Ratschlägen von Karzais Jihadi-Warlords kann er sich aber kaum widersetzen.
Die Jihadi-Führer haben auch erheblichen Einfluss auf die afghanische Jugend, insbesondere die Gebildeten unter ihnen. Viele junge Afghanen sind zwar entschlossen, etwas Besseres aus ihrem Land zu machen als sie und ihre Eltern es in den letzten Jahrzehnten unter wechselnden, aber ähnlich katastrophalen linken, islamistischen und prowestlichen Regimen erlebt haben. Aber Internet-Kompatibilität und Fernsehprogramme wie „Afghanistan sucht den Superstar“, Frauenfußballteams und Skater-Bahnen machen sie nicht automatisch zu Demokraten. Im Gegenteil: Karzais Dekret, an den Universitäten jegliche politische Aktivität zu verbieten, hat gerade den Islamisten einen Rekrutierungsraum eröffnet, den diese rege nutzen. Denn im Gegensatz zu den gesetzestreuen und schwachen demokratischen Gruppen scheren sich deren Parteien keinen Deut um Karzais Verbot. Sie stehen ohnehin über dem Gesetz, weil kein Richter sich an sie heranwagt.
Enttäuschung über das Versagen des Westens in ihrem Land ist nicht nur spezifisch für junge Afghanen. Die politische Alternativlosigkeit macht viele Afghanen inzwischen wieder anfällig für populistische „islamisch“- antiwestliche Parolen.
Dennoch halten viele in den USA die Koranverbrennung in Bagram immer noch für eine Lappalie – ein sonst durchaus kritischer Afghanistan-Blogger schrieb am Montag unverdrossen von „zufälliger Verbrennung“. Und deutsche Medien sprachen noch Tage nach der Entschuldigung durch ISAF-Kommandeur John Allen – was ja ein deutliches Eingeständnis des Vorfalls ist – von „angeblichen“ Verbrennungen.
Dabei kann dieser massive politische Fehltritt tiefgreifende Folgen für die gesamte westliche Strategie in Afghanistan haben. Die beruht ja darauf, dass man die afghanische Streitkräfte aufstockt, ausbildet und berät, um Ende 2014 alle ausländischen Kampftruppen abziehen – oder in Ausbilder umbenennen – zu können. (Darüberhinaus werden Sonder- und noch geheimere CIA-Einheiten im Land bleiben, die den Drohnenkrieg und die bereits jetzt intensiven „kill-or-capture“-Operationen gegen die Aufständischen fortführen werden.)
Es ist nicht zu erwarten, dass die westlichen Regierungen ihre jetzt aus Kabuls Ministerien zurückgezogenen Berater dauerhaft abziehen werden. Ein Totalrückzug wäre das Eingeständnis des Scheiterns der Übergabe- und Abzugsstrategie, und das können sie sich nicht leisten. Wer würde ihnen dann die zur Zeit noch gesponnene Geschichte abkaufen, dass die „Mission Afghanistan“ zwar durchaus ihre Schwierigkeiten habe, aber insgesamt erfolgreich abgeschlossen werden wird.
Ganz praktisch werden sich jedoch nach dem Doppelmord an US-Beratern im Kabuler Innenministerium durch einen Angehörigen der dortigen Sicherheitskräfte während der Proteste – und das war nur einer von etwa 45 Vorfällen, bei dem es über 70 ISAF-Todesopfer gegeben hat – vor allem in Europa kaum noch Freiwillige für solche Jobs finden. Da sich angesichts großen Wählerdrucks Regierungen wie die deutsche kaum noch weitere Opfer in Afghanistan leisten können, stehen sie vor einem wirklichen Dilemma.
Auf der afghanischen Seite würde die Abkehr von der Trainingsstrategie dazu führen, dass man die Verantwortung im Kampf gegen die Taleban nun selbst übernehmen müsste. Zwar zweifeln viele Beobachter zurecht an der Ausbildungsqualität und vor allem der Moral der afghanischen Soldaten und Polizisten, aber vielleicht kämen sie ohne westliche Berater besser zurecht. Allerdings könnten sich auch die afghanische Soldaten – so wie jetzt die ausländischen Berater – nicht mehr ihrer Nebenleute sicher sein. Vielleicht haben die schon einen Deal mit den Taleban gemacht.

Weitere Informationen zu Afghanistan unter www.aan-afghanistan.org