von Kai Agthe
Das Kunsthaus Apolda geht auf Reisen und bleibt doch zu Hause. Die erste Ausstellung 2012 ist dem graphischen Werk William Turners (1775-1851) und speziell jenen Radierungen gewidmet, die er nach seinen zahllosen Reisen durch Europa anfertigte. Die hier gezeigten und in der seltenen Mezzotinto-Technik gefertigten, das heisst malerisch ausgeführten, Radierungen sind Teil des sogenannten „Liber Studiorum“. Das ist eine Sammlung von Graphiken, die Turner zwischen 1807 und 1819 in loser Folge publizierte. Sie waren auch, aber nicht nur, als Studienbuch für seine Studenten gedacht. Die Arbeiten wurden, eingeschlagen in grobes Papier, in Sätzen zu je fünf Stichen verkauft und dürfen, so Kurator Hans-Dieter Mück, auch als früher Versuch verstanden werden, die Kunst und den Kunstmarkt zu demokratisieren.
Der größte Teil der Exponate stammt aus dem Besitz des Bury Art Museums. Zur Vernissage war mit Richard Burns auch dessen Chefkurator in der Glockenstadt zu Gast. Das Museum im nordenglischen Bury mit seinen 61.000 Einwohnern ist, so Burns, eine kleine Einrichtung und spezialisiert auf britische Kunst des 19. Jahrhunderts sowie zeitgenössische Kunstwerke.
William Turner war ein sehr mobiler Künstler. So fuhr er 1817 und 1825 am Rhein entlang sowie 1833 über Berlin nach Dresden. Von seinen Reisen brachte er reich gefüllte Skizzenbücher mit, die er im heimatlichen Atelier in den unterschiedlichsten Techniken und oft in mehreren Varianten gestaltete. Die im „Liber Studiorum“ enthaltenen 71 Blätter – ursprünglich waren 100 Graphiken vorgesehen – sind in mehrere Rubriken unterteilt. Turner kündigte das Studienbuch seinerzeit als Versuch an, die „verschiedenen Stile der Landschaft“ zu klassifizieren, und zwar „in historische Landschaft, Gebirgslandschaft, Pastorale, Seestück und Architekturvedute“. Die Apoldaer Schau folgt des Künstlers Einteilung auch räumlich.
Turner porträtiert in seinen Mezzotinto-Radierungen die Landschafts- und Meeresmotive nicht, er inszeniert sie vielmehr. So werden aus den von ihm tatsächlich erlebten Gegenden idyllische Landschaften. Englische und kontinentaleuropäische Landstriche erfahren in Turners Graphiken, was etwa die Licht-Schatten-Wirkung anbetrifft, eine hochartifizielle Dramatisierung. Und in seinen „historischen Landschaften“ illustriert er spezielle Szenen aus der griechischen Mythologie, dem Alten und Neuen Testament sowie der Literatur.
Es ist ein Vorzug der Mezzotinto-Radierung, so Hans-Dieter Mück, dass sie nicht wie ein graphischer Druck wirke, sondern – da die Konturen wesentlich weicher gelingen als bei einem Kupferstich – eher wie eine Sepia- oder Rötelzeichnung. Der Kurator ist überzeugt, dass es heute keinen Künstler mehr gebe, der die Mezzotinto-Technik beherrscht. Auch unter diesem Aspekt ist für Mück das graphische Werk Turners zu würdigen. Bevor dieser selbst zum Vorbild für die romantische Kunst wurde, waren dessen Vorbilder die französischen Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts: Nicolas Poussin und Claude Lorrain. Nach den oft gezogenen Parallelen zur Bildwelt seines deutschen Zeitgenossen Caspar David Friedrich befragt, sagte Mück: „Den Vergleich mit Caspar David Friedrich halte ich für falsch.“
Ergänzend zu den Mezzotinto-Radierungen zeigt man in Apolda eine kleine Auswahl von Aquarellen William Turners, die maßgeblich zu seinem Ruf beigetragen haben, einer der wichtigsten englischen Künstler des frühen 19. Jahrhunderts zu sein. Allein das Aquarell „Bridport, Dorsetshire“ (um 1815) – auf dem sich die Brandung wie ein Malstrom zu öffnen scheint – macht deutlich, was Hans-Dieter Mück meint, wenn er zur Eröffnung betonte, dass Turners Kunstwerke zahllose expressionistische und impressionistische Momente aufweisen.
Die Ausstellung „Reisen mit William Turner“ ist erst die zweite ihrer Art in Deutschland. 2008 war eine gleichnamige Schau in Waiblingen zu sehen. Von dort hat der Kunstverein Apolda Avantgarde e.V. in Ermangelung eigener finanzieller Möglichkeiten auch den Katalog übernommen. „Reisen mit William Turner“ wird im Frühjahr nach Paderborn weiterziehen. Die nächste Ausstellung im Kunsthaus wird ab 22. April Werke von Honoré Daumier, dem „Michelangelo der Karikatur“, zeigen. Damit verbunden ist in Apolda die Hoffnung, 2012 ähnlich viele Besucher anlocken zu können wie im letzten Jahr. Da kamen immerhin 34.128.
„Reisen mit William Turner“. Kunsthaus Apolda Avantgarde, Bahnhofstraße 42, 99510 Apolda. Dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr. Der Katalog kostet als Paperback 17 und als Hardcover 21 Euro. Infos: (03644) 515364, www.kunsthausapolda.de.
Schlagwörter: Kai Agthe, Kunsthaus Apolda, Mezzotinto-Radierung, William Turner