15. Jahrgang | Nummer 4 | 20. Februar 2012

Kiesinger, seinesgleichen und die NPD

von Korff

Aktivitäten von Nazis, zunehmend korrekt „Nationalsozialisten“ genannt (ein Schelm, wer  das Prinzip einer sprachlichen Nähe zu jeglichen Sozialismen dahinter vermutet) und Spekulationen um die NPD haben wieder einmal Konjunktur, womit auch weniger Interesse, Zeit, Platz und Unmut für anderes bleibt – ganz so, wie es der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt entspricht. Freilich wird „aufgeklärt“, in jeder Hinsicht heißt es – gern in Denkerpose und abwägend, manchmal auch grüblerisch, eingeschlossen die Frage, ab wann es  das Problem eigentlich gibt.
Zeitgenossen mit Kurzzeithorizont, die trotzdem den Anspruch erheben, hinter den Ereignissen nach Ursachen zu suchen, kommen nicht selten zu dem Ergebnis, das hätte etwas mit dem Beitritt der bis dahin unerlösten Provinzen zu tun; denn im Osten Deutschlands wuchert es besonders, und vermutlich wurzelt es dann auch dort.
Wäre zugleich eine entlastende Erklärung in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung mit Nebeneffekt – ein weiterer Posten auf der „Abrechnungsliste“ mit der DDR …
Einige Zeitgenossen kommen bei ihren Recherchen allerdings zu anderen Ergebnissen, die den Vorgenannten unbekannt sein müssen. Oder – Sakrileg, so zu denken und gar öffentlich zu fragen! –  wollen die Gedächtnis-Geschichtsschreiber womöglich gar nicht wissen, wie alles begann?
Am 28. September 1964 (!) wurde die NPD gegründet, was seinerzeit honorige Bundesbürger veranlasste, lautstark die Politik aufzufordern, dies zu verhindern oder sofort ein Verbot durchzusetzen. Korff rechnet und fragt: Das geht also in den originären Bundesländern schon seit 47 Jahren um; warum kam ein Verbot denn nicht schon damals zustande?
Am 11. Februar 1968 definierte einer der seinerzeit prominentesten Ideologen der Bundesrepublik, William S. Schlamm, in der zum meinungsbildenden Springer-Konzern gehörigen Welt am Sonntag, die Nationaldemokratische Partei als „im Bonner System fest installierte, unverbietbare Opposition mit berechtigtem Anspruch auf Sitz und Stimme im Bundestag.“
Auch in der DDR nahm man diese bundesrepublikanische Praxis und solche Bewertung der NPD zur Kenntnis. Infolge des „verordneten Antifaschismus“ erließ der Innenminister der DDR am 10. März 1968 eine Anordnung, Mitgliedern der NPD und solchen Bundesbürgern, die sich im neonazistischen Sinne betätigen, die Ein- und Durchreise in / durch das Hoheitsgebiet der DDR zu versagen. Nicht erst davon zu reden, dass nach innen besondere Sorgsamkeit gegenüber etwa aufkeimenden ähnlichen Tendenzen verordnet wurde.
Bundesregierung, Westberliner Senat und Bonner Regierungsparteien empörten sich geschlossen gegen die Transit-Anordnung und versuchten, die Besatzungsmächte zur Intervention zu bewegen – gegen die DDR, zugunsten der NPD. Also nach dem staatlichen Anspruch: Auch die organisierten Alt- und Neonazis sind unsere, und das geht andre nichts an. So, wie wir nach Belieben auch mit Kommunisten umgehen können; deren Partei und Ideologie waren ja bekanntlich ohne größere Bedenken schon Jahre zuvor, am 17. August 1956, verboten worden. Es kann also ganz schnell gehen, wenn ein entschlossener politischer Wille dem voransteht.
In diesem Kontext erinnert sich Korff einiger historischer Episoden, die hier zu allgemeinem „Nutz und Frommen“ (veraltet für: nützlich), wenn auch in gebotener Kürze, vorgetragen werden sollen.
Nach Konrad Adenauer und Ludwig Erhard wurde Kurt Georg Kiesinger Kanzler-Kandidat der CDU. Die National- und Soldatenzeitung, der NPD sehr nahe stehend, kommentierte dies am 18. Februar 1966 so: „Damit hat der beste Mann der Union eine Chance, das Steuer herumzureißen, die Partei zu retten und – vor allem – den Staat zu stabilisieren. Er versteht das politische Geschäft […], hat einen Sinn für das Wesentliche und ist außerdem redlich und rechtschaffen, kein Gauner wie die meisten in der Politik Tätigen. Aber hoffen wir, dass Kiesinger sich durch die einstige, weder sein Charakterbild noch sein Lebensbild verdunkelnde, nominelle Zugehörigkeit zur NSDAP nicht von interessierten Kreisen in die Ecke treiben lässt. Wenn Kiesinger drei Grundforderungen unseres Volkes erfüllt, dann wird er in der Geschichte bestehen und zugleich wesentliche Voraussetzungen für die Wiedervereinigung schaffen: Generalamnestie für alle Kriegsverbrechen; Schluß mit Tributen aller Art; Außenpolitik nach der deutschen Interessenlage.“
Am 1. Dezember 1966 wurde Kiesinger Bundeskanzler.
Bedrängt von einer späteren diplomatischen Note der Sowjetunion, die sich  gegen „Renazifizierungs“-Tendenzen in der Bundesrepublik wandte, reagierte die Bundesregierung einerseits lautstark mit dem Hinweis, dass diese inneren Angelegenheiten Moskau nichts angingen. (Aktuell auch als Anmerkung zur gegenwärtigen Kritik Deutschlands an Russlands Innenpolitik interessant!), andererseits äußerte sich Kiesinger selbst mit verbal milder Nachsicht: Wie könne sich die „große“ Sowjetunion wegen ein paar Leuten nur so haben …
Mit dieser Abwiegelung kam Kiesinger aber nicht nur mit der Wahrheit in Konflikt, sondern vor allem auch mit führenden Ideologen der Bundesrepublik und den Spitzen der „Rechtsradikalen“, (damals gängiger Begriff für einen gesellschaftlichen Pfeiler der bundesdeutschen Nachkriegsordnung), die dem zuvor von ihnen favorisierten Bundeskanzler ob dieser Taktik nicht nur ihr Missfallen kund taten, sondern auch direkt ihre „Folterwerkzeuge“ hervorholten. Sie kannten sich ja in ihren gemeinsamen Vergangenheiten aus.
Am 26. Januar 1968 erschien in der NPD-Zeitung Deutsche Nachrichten der Hauptartikel mit dem beziehungsreichem Titel: „Kiesinger und das falsche Schwein“: „Sie, Herr Bundeskanzler, haben im zweiten Weltkrieg für die ‚Nazis’ an weit prominenterer und wichtigerer Stelle gewirkt, als irgendein Mitarbeiter der NPD-Spitze“.
Eine Kampfansage dieserhalb? Nein, nur eine ordinäre Desavouierung durch Auflistung von Fakten und den Verweis auf persönliche Vorteilnahme: „Kein Volk ist so reich an Begabungen, dass es sich leisten könnte, seine gesamte Führungsschicht abzuservieren, um mit der zweiten oder dritten Garnitur weiterzuwursteln.“ Nach einer Schilderung der Position und der Verdienste Kiesingers im Apparat des Auswärtigen Amtes (AA) und in der Auslandspropaganda der Nazis kam der Beitrag auf den Punkt: „Bereicherung“ im Dritten Reich: „Er nahm seine Aufgabe, wie aus vielen erhaltenen Dokumenten hervorgeht, sehr ernst. Daß es ihm gelohnt wurde, zeigt die Tatsache, dass er nicht nur auf der Lohnliste des AA stand. Kiesinger hatte zur Gründung der ‚interradio’ (einer verdeckten, „privaten“ Rundfunkgesellschaft des AA für Auslandspropaganda – Korff) zehn Millionen Reichsmark eingebracht, natürlich nicht als Privatperson aus eigenen Mitteln, sondern für Rechnung des Auswärtigen Amtes. Daß dennoch Aufsichtsratsvergütungen für ihn abfielen, zeigt, welche Annehmlichkeiten es hat, wenn man immer dabei ist.“
Dem Artikel beigefügt war als Fotokopie ein Brief des „Rechtsanwalt Kurt Georg Kiesinger“ vom 4. 4. 1942 an besagte Gesellschaft mit dem Betreff Aufsichtsratsvergütung“ und folgendem Inhalt: „Ich bitte um gefällige Überweisung der Aufsichtsratsvergütungen auf mein Postscheckkonto Berlin 1283, Heil Hitler! “ sowie der handschriftlichen Unterschrift Kiesinger.
Insgesamt ging es davor – und auch danach – aber recht gut miteinander. Am 11. Dezember 1966, Bundeskanzler Kiesinger war gerade zehn Tage im Amt, charakterisierte sein Innenminister Lücke die Mitglieder und Wähler der NPD als zum größten Teil „national denkende konservative Bürger, an deren demokratischer Gesinnung ich nicht zweifele“. Auf den Tag genau ein Jahr später, also am 11. Dezember 1967, versicherte der Kanzler höchst selbst im Fernsehen, „dass ein übereiliges Verbot nicht die richtige Reaktion wäre“. Selbst die SPD, damals Partner in einer großen Koalition, sekundierte, so. am 14. Dezember 1967 Herbert Wehner als stellvertretender Vorsitzender der SPD: „Ich kann mich nicht dazu erklären zu sagen, kein Verbot. Ich habe auch nicht gesagt, jetzt Verbot.“ So nimmt es nicht Wunder, dass schon Tage zuvor, am 6. Dezember 1967, der damalge Führer der NPD, Adolf von Thadden, im westdeutschen Fernsehen sichtlich zufrieden erklärt hatte: „Wenn die große Koalition zunehmend  Teile des NPD-Programms auf ihre Fahnen schreibt und sogar verwirklicht, kann sie des Beifalls der NPD gewiß sein. Die gegenwärtige Innenpolitik der Bundesrepublik ist in einer Übergangsphase, in der Bonn lernt, mit der NPD zu leben.“
Nach nur zwei Jahren wurde Kiesinger abgelöst – allerdings nicht ob seiner Vergangenheit. Seither kamen und gingen diverse Kanzler  unterschiedlicher politischer Färbung, doch die NPD blieb als parteipolitischer Auswuchs und zugleich Nährboden der Rechtsradikalen unangetastet. Aber immer „intensiv aufgeklärt“ – so „intensiv“, dass der Verbotsversuch, der dann vor einigen Jahren doch noch folgte, genau daran, an der Durchdringung mit zu vielen V-Männern bis in die Führung hinein, scheiterte.

P.S.: Dass der spezifisch bundesdeutsche Umgang mit der NPD in den 60er Jahren in entscheidendem Maße daraus resultierte, dass es eine breite personelle Kontinuität von Funktionsträgern aller Ebenen des Dritten Reiches in die sich bildende und entwickelnde Bundesrepublik gegeben hat, die gleichermaßen Gesellschaft, Staatsapparat und Wirtschaft betraf, dürfte heute kaum mehr ernstlich zu leugnen sein. Wie heißt es noch mal im Alten Testament (1. Buch Mose 2, 23): „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch […].“ Das wurde jedoch heftigst bestritten, als die DDR zum Beispiel 1965 mit dem so genannten Braunbuch Belege für die braune Vergangenheit bundesdeutschen Führungspersonals präsentierte.
Heute, bereits (!) knapp 50 Jahre später, steht dergleichen – kompakt und zum Teil als Neuigkeit serviert – im Spiegel. So jüngst: „Welle der Wahrheiten“ – http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-83422497.html.* Seinerzeit hatte dieses „Sturmgeschütz der Demokratie“ zwar Einzelheiten der Aufarbeitung durch die DDR aufgegriffen, aber stets mit dem Tenor – Zweck der Enthüllungen sei Verleumdung, und diese seien daher nicht weiter relevant.
Dergleichen Relativierung fehlt bei der jüngsten Veröffentlichung. So gesehen, meint Korff, ist das jetzt ein Fortschrittchen. Sehr marginal, da – allein aus physischen Gründen – ohne praktische Konsequenzen. Selbst die Witwe des Volksgerichtshofschlächters Freisler könnte ja die stattliche staatliche Witwenrente, die sie nach dem Kriege erhielt, heute nicht mehr zurückzahlen. Sie ist – wie inzwischen so viele, deren Namen der Spiegel jetzt nennt – längst verstorben.
Doch was wäre, wenn der Spiegel noch etwa in petto hätte, eine bedeutende Aktion, Stichwort: Sturmgeschütz, sinniert Korff im Konjunktiv. Mit einem Ohr am Radio. Dort wird gerade auf eine Spiegel-Meldung Bezug genommen, wonach mehr als ein Drittel der Parteiführung der „Linken“, einschließlich ihrer Bundestagsabgeordneten, die Aufmerksamkeit der Verfassungsschützer genießen, die ihrerseits erklären, damit nur Aufgaben zu erfüllen, die ihnen der Rechtsstaat vorgibt. Das ist Indikativ. Und in der Sache? Nichts Neues unter deutschen Sonnen – und damit keine Überraschung für Korff, auch wenn er es lieber anders hätte.

* – Siehe dazu in der vorliegenden Ausgabe auch unter ANTWORTEN, Ralph Giordano – Anm. d. Red.