15. Jahrgang | Nummer 4 | 20. Februar 2012

Hinter den grünen Lichtern

von Frank-Rainer Schurich

Die Kriminaltaktik erklärt bekanntlich, in welchen Schritten sowie mit welchen Mitteln und Methoden eine kriminalistische Untersuchung zu erfolgen hat. So gibt es bei der deutschen Polizei noch immer den ziemlich martialischen Begriff des Ersten Angriffs, obwohl es einen Zweiten Angriff in Theorie und Praxis nie gegeben hat.
In den USA beschäftigte sich Richard H. Sylvester, der Chef der Polizei von Washington DC, 1910 mit dem ersten Angriff auf amerikanische Art. Wird jemand verhaftet („arrested“), so sei dies der erste Grad der Untersuchung, der Transport zum Gefängnis („transportation to jail“) der zweite Grad und die Untersuchung („interrogation“) einschließlich der Vernehmung der dritte Grad. Aus diesem dritten Grad im Sinne der Wahrheitsfeststellung durch die Vernehmung eines Beschuldigten wurde der Dritte Grad (third degree) – in seiner Blütezeit in den 20er und 30er Jahren ein „würdiger Erbe der Folterer des Mittelalters“, wie es der Italiener Enrico Altavilla in seiner „Forensischen Psychologie“ (deutsch 1959) treffend formulierte. Der Dritte Grad ist für US-amerikanische Kriminalisten ein weiter Begriff ohne genau bestimmten Inhalt. Er bedeutet jeden Trick, jeden psychologischen Kniff, jede Tätlichkeit zur Erlangung eines Geständnisses – einschließlich roher Gewalt.
Cornelius Willemse, seinerzeit Leiter der New Yorker Mordkommission, bekannte sich zur damals gängigen Folterpraxis in seinem Buch „Behind the Green Lights“ (Hinter den grünen Lichtern, New York 1931): „Gegenüber einem hartnäckigen Verbrecher habe ich nie gezögert. Ich habe Schuldbekenntnisse mit der Faust, mit dem Stock und mit dem Gummischlauch von Leuten erzwungen, die weiter geraubt und getötet hätten, wenn ich sie nicht zum Sprechen gebracht hätte.“ Und er schlug die folgenden „Vernehmungsmethoden“ vor: demonstratives Aufrollen der Ärmel, sorgfältige Auswahl eines Gummischlauches vor den Augen des Festgenommenen, die künstliche Nachahmung von Schreien, Stöhnen und Schlägen im Nebenraum, Gebrauch von Lügen oder bewusst falschen Behauptungen, Aufenthalt von Beamten in der Zelle des Verdächtigen, die als Mitgefangene verkleidet sind, Erregung von Eifersucht und anderes mehr.
Die brutale Gewalt hinter den grünen Lichtern, diesen Erkennungsmerkmalen der Polizeistationen, hatte schließlich so erschreckende Formen angenommen, dass der Staat gezwungen war einzugreifen.  Das Ausmaß des Dritten Grades in den 20er Jahren wird im Bericht einer 1931 vom Präsidenten der USA eingesetzten Kommission („Wickersham-Commission“) ersichtlich. In ihm heißt es unter anderem: „Die Zufügung von Schmerzen physischer und psychischer Art mit dem Ziel, Geständnisse oder Aussagen zu erpressen, ist in diesem Lande weit verbreitet (third degree). […] Physische Brutalität wird vielfach angewandt. Die Methoden sind verschiedenartig. Sie reichen von Schlägen bis zu härteren Formen der Folter. Die gebräuchlicheren Formen sind Schläge mit den Fäusten oder mit bestimmten Gegenständen, wie z. B. der ‚Gumminase’, die Schmerzen zufügt, aber nicht geeignet ist, sichtbare Narben zu hinterlassen. […] Die am häufigsten benutzte Methode ist andauernde Vernehmung. Hierbei meinen wir Vernehmungen, die gelegentlich durch sich abwechselnde Vernehmungspersonen durchgeführt werden und so lange andauern, bis die Energien des Gefangenen verbraucht und seine Widerstandskräfte überwunden sind. Zuweilen ist diese Art der Befragung die einzig benutzte Methode, zuweilen ist die Befragung begleitet durch Schläge und dadurch, dass blendendes Licht ununterbrochen in das Gesicht des Beschuldigten gestrahlt wird. Zuweilen wird der Beschuldigte stundenlang zu aufrechter Haltung gezwungen, ihm Nahrung oder Schlaf entzogen oder sein Schlaf in bestimmten Zeiträumen unterbrochen, um die Befragung wieder aufzunehmen. […] Methoden zur Einschüchterung, angepasst an das Alter oder die Mentalität des Opfers, werden häufig benutzt, entweder allein oder in Verbindung mit anderen Praktiken. Sie sind bis zu dem Extrem gesteigert worden, dass ein Geständnis durch vorgehaltene Pistole oder durch die Furcht vor dem Mob erpresst wurde.
Andauernde widerrechtliche Festhaltung ist eine weithin geübte Praxis. Das Recht fordert die unverzügliche Vorführung eines Inhaftierten vor einen Magistrat. In der überwiegenden Mehrzahl der Städte, in denen wir Untersuchungen angestellt haben, wird diese Rechtsregel andauernd verletzt.“
In jedem Polizeirevier gab es einen speziellen Raum, in dem die Verdächtigen traktiert wurden. Besonders am Stadtrand gelegene Polizeistationen waren Stätten zügelloser Brutalität, aber auch Garagen, Kraftwagen, Aufzüge der Gefängnisse. Neben Kriminalbeamten betätigten sich sogar Abteilungsleiter der Kriminalpolizei und Bezirksstaatsanwälte.
Andere „Verhörsarten“ waren Pumpen von Wasser in die Nase des Verdächtigen (sogenannte Wasserkuren, heute moderner Waterboarding), Anwendung der Bohrmaschine durch einen Dentisten, Schläge mit Werkzeugen gegen alle Teile des menschlichen Körpers, Treten, Hoden abbinden und quetschen, unter Tränengas setzen, Chloroformieren, Leichname berühren lassen, Hände von Ermordeten halten, Frauen an den Haaren emporziehen. In einem Fall wurde ein Beschuldigter gezwungen, sich auf den Boden zu legen, und er wurde wiederholt an den Genitalien hochgezogen.
Im „Kampf gegen den Terrorismus“ ist der Dritte Grad auf perfide Weise auferstanden. Waterboarding wurde während der Präsidentschaft von George W. Bush Jr. vom US-amerikanischen Geheimdienst CIA und von anderen Regierungsbehörden in großem Umfang angewandt. Ein Regierungssprecher erklärte dazu sogar, die amerikanische Regierung sehe Waterboarding als akzeptable Verhörsmethode von Gefangenen an, weil es sich dabei nicht um Folter handele (!).
Der Zweck heiligt die Mittel? Natürlich, denn die Menschenrechte sind, wie wir heute wissen, nur zu oft ein Feigenblatt bürgerlicher Regierungen, das ihnen erlaubt, nach Belieben mit dem Finger auf andere zu zeigen, ohne zu den eigenen massiven Menschenrechtverletzungen Stellung nehmen zu müssen. Dazu kaufen sich die Herrschenden ganze Armeen von Wissenschaftlern, Anwälten und anderen willigen Helfern, wie Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kürzlich geschrieben hat: „Sichere Bezahlung für die ideologisch Getreuen ist ein wichtiger Teil des Systems […]; strategische Denker, die rationale Gründe für Wahlkriege liefern; Anwälte, die Folter verteidigen – sie alle können einem Netzwerk von Organisationen zugerechnet werden, das von einigen superreichen Familien bezahlt wird.“