von Werner Richter
Verzweifelt hatte ich an dieser Stelle schon vor Jahren nach den großen Ökonomen gerufen, die ihr bisheriges Leben der „Kapital“-Forschung gewidmet hatten, immer einen gescheiten Eindruck zu hinterlassen bemüht waren und bei schlechter Laune ihrem Unmut gegen Marx freien Lauf ließen, denn der hatte nicht all ihre Fragen schon beantwortet. Ein richtiger Marxkenner ist dessen Interpret, aber nicht Verbesserer. Naive Fragen von Studenten nach der Marxschen Aktualität, noch schlimmer deren Infragestellung, boten dann ein weites Feld für arrogante Attacken gegen die Dummheit des Fragenden. Die tatsächlich klugen Professoren verwiesen auf die Aktualität der Marxschen Methodologie als einzig gültiges Erbe.
Mein Ruf blieb hier ungehört, auch von den namentlich Genannten, mein Glaube an die Kraft der ökonomisch Vernünftigen drohte zu zerbrechen. Bis auf Heerke Hummels geld- und werttheoretische Abhandlungen, die auch nicht zu viel Echo hervorriefen, kam mir nichts zu Gesicht, das bei Marx anknüpfend, dessen Methodik anwendend einer ökonomischen Basisanalyse zustrebte. Nun mag sein, und ich weiß inzwischen, dass mein Überblick sehr begrenzt ist, aber in der Öffentlichkeit kommen derartige Überlegungen nicht vor, dort spielen nur Hayek-Priester, bestenfalls sie tolerierende, aber öffentlich nicht widersprechende Antipoden mit. Zum Teil ist das zu verstehen, stehen doch persönliche Perspektiven zur Disposition. Gustav Horn hier bei uns oder Norman Finkelstein (Politologe) in den USA, nur zwei Beispiele von recht vielen, sind jedem, der abhängig operiert, Warnung genug, wie Unbequeme aus dem Weg geräumt werden. Meine Hoffnung war, einige Unabhängige zu erreichen, die nichts zu verlieren haben. Diese zusammengebracht könnte ein ständiges Forum der Weiterarbeit an wissenschaftlicher ökonomischer Theorie ergeben, denn, was an „marxistischen“ Theorien im linken oder auch bürgerlichen Ökonomenlager durch die Literatur geistert kann flacher nicht geboten werden. Akrobatien gleich werden zumeist Kategorien und Begriffe beliebig jongliert, dass einem schwindlig wird, Marx, obwohl fleißig zitiert, entfleucht im Nebel.
Marx sei Dank spülte mir der Zufall ein Buch auf den Tisch, das mir den Atem stocken ließ. Tatsächlich gingen meine stillen Gebete in seinen Gehörgang, ein Mensch, mit fundiertem Wissen ausgestattet, hatte meinem Wunsch entsprochen. Wer dieser Mensch auch sei, egal, mit Gründlichkeit und Engelsgeduld zerpflückt er alle umhergeisternden relevanten Theorien über Wert, Gebrauchswert, Warengesellschaft, Geld, Kapital in ihre Bestandteile, immer wieder auf die Marxsche Theorie zurückgreifend, dabei diese durchaus Marx folgend immer wieder prüfend, und an deren unstrittigen Theoremen messend und ordnet sie ein. Eine Meisterleistung, ohne Frage, die genau das trifft, was mir fehlte. Ich ziehe still den Hut vor dieser vermuteten Lebensleistung.
Ich lese und fühle mich in die Studienzeit versetzt, an die Aha-Erlebnisse beim „Kapital“-Lesen, die Seminare, Vorlesungen und Diskussionen mit Kommilitonen und Professoren. Ich muss auflachen ob der geradezu stoisch erbarmungslosen Wiederholungen der Gesamtheit eines Zusammenhanges nahezu vom Urschleim an, auf das ja kein Irrtum darüber aufkomme, was untrennbar zusammengehört. Und da fällt mich wie Schuppen aus den Haaren die Rückerinnerung an, diese Marxschen Sätze, auf die der Autor immer wieder zurückführt, kennst du, hast du gelesen, blieben dir ewig schleierhaft, hast du dank deiner anerzogenen und geförderten Denkweise als nebensächlich liegen gelassen. Ich fragte mich zwar, warum Marx die schrieb, aber da sie nicht als Gegenstand der „marxistischen“ Wirtschaftstheorie in die Diskussion eingingen, wurden sie letztlich eingespart. Dieses diffuse Verlustgefühl hatte ein jeder, der die Politische Ökonomie nicht als bloßen Lernstoff, sondern als Aufforderung zum Denken und Erkennen annahm. Derer gab es nicht allzu viele, aber es gab sie. Nicht, dass die Erkenntnis über die Mängel und unzulässigen Vereinfachungen der Politischen Ökonomie des Sozialismus, die eine Abkehr von Marx bewirkten, schlagartig eingeht, aber eine Ahnung davon schon. Dieses gewaltige Denksystem überfordert mich im Augenblick. Das braucht noch intensives längeres Nachdenken und wiederholtes Lesen. Dieser Autor, vielleicht bin ich anderen gegenüber ungerecht, die mögen mir verzeihen, erweist sich mir als bisher einziger, der sich des Marxschen Denkniveaus gewachsen zeigt, er ist ihm ebenbürtig. Er liefert zumindest den Beginn der Vollendung der Marxschen ökonomischen Theorie unter den modernen gesellschaftlichen Bedingungen, nicht mehr und nicht weniger.
Heerke Hummel und ihm gebühren das Verdienst, Ansatzpunkte für eine historisch notwendige laufende Diskussion über die ökonomischen Grundverhältnisse unserer Gesellschaft geliefert zu haben, damit die eigentlich überfällige Entthronung der geistigen Tiefflieger aus der neoliberalen Ecke von den Schalthebeln der Deutungshoheit und damit der Politikbestimmung in Angriff genommen werden kann. Auch wenn derzeit deutlich sichtbar die Alchimisten – so Erhard Cromes sehr treffende Charakterisierung – am Ende der Fahnenstange angelangt sind, von allein ziehen die nicht ab. Ihr Mechanismus, wenn ihre Empfehlungen regelmäßig zwangsweise in die Hose gehen, das dem Zuwenig an deren Umsetzung zuzurechnen, funktioniert voraussichtlich noch eine ganze Weile, auch wenn dann alles wieder mal in Scherben fällt und die entscheidenden Politiker, wohl wissend, dass Blödsinn verzapft wird, in Ermangelung besserer Einsichten folgen. Das muss ja nicht bleiben, wie die rasche Wendung in der Atomenergiepolitik zu aller Verblüffung zeigte.
Ganz im Stillen erhoffe ich mir zunächst eine Verständigung zwischen Heerke Hummel und Heinrich Harbach, wenn dem auch hohe Hürden schon wegen der Anonymität des letzteren entgegenstehen. Auf den ersten Blick sind beider Theorien etwas gegensätzlich, das ist auch normal. Aber ich ahne das Überwiegen der Gemeinsamkeiten, die notwendige Symbiose. Beide gehen die Thematik mit gleichen Überlegungen an, betrachten annähernd gleiche Ergebnisse nur aus einem anderen Blickwinkel. Denn eine entscheidende Gemeinsamkeit haben die beiden: Sie gehören zu einer fast ausgestorbenen Art, die ein Leben lang einen Gegenstand beobachtend diesem auch auf den letzten Grund zu gehen nicht aufgibt, sich dabei von modischen Nebentönen nicht beirren lassend.
Neue Foren zum „Kapital“-Studium sind nicht nötig, aber die Fortschreibung wie uns vom Autor vorgeschlagen. Möge Das Blättchen der Startpunkt der Vernetzung williger Ökonomen sein, denn als Forum kann es nicht herhalten. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht klappen würde.
Wer zum Kuckuck ist denn in diesem Bild eigentlich der Teufel?
Heinrich Harbach: Wirtschaft ohne Markt. Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit, Karl Dietz Verlag, Berlin 2011, 224 S., 14,95 Euro; Heerke Hummel: Die Gesellschaft im Irrgarten, Nora Verlag, Berlin 2009, 144 S., 14,90 Euro.
Schlagwörter: Das Kapital, Heerke Hummel, Heinrich Harbach, Marx, Politische Ökonomie, Werner Richter