von Thomas M. Wandel
Ein Bundespräsident zerfällt für gewöhnlich in zwei Teile: den natürlichen Körper und den politischen. Insofern steht er in der Tradition der Königshäuser des Mittelalters.
Ernst Kantorowicz zitiert in seinem Werk „Die zwei Körper des Königs“ dazu englische Kronjuristen, die im 15. Jahrhundert feststellten: „Denn der König hat in sich zwei Körper, nämlich den natürlichen (body natural) und den politischen (body politic). Sein natürlicher Körper ist für sich betrachtet ein sterblicher Körper, der allen Anfechtungen ausgesetzt ist, die sich aus der Natur oder Unfällen ergeben, dem Schwachsinn der frühen Kindheit oder des Alters und ähnlichen Defekten, die in den natürlichen Körpern anderer Menschen vorkommen. Dagegen ist der politische Körper ein Körper, den man nicht sehen oder anfassen kann. Er besteht aus Politik und Regierung, er ist für die Lenkung des Volks und das öffentliche Wohl da. Dieser Körper ist völlig frei von Kindheit und Alter, ebenso von den anderen Mängeln und Schwächen, denen der natürliche Körper unterliegt. Aus diesem Grunde kann nichts, was der König in seiner politischen Leiblichkeit tut, durch einen Defekt seines natürlichen Leibs ungültig gemacht oder verhindert werden.“
Damit wäre das ganze öffentliche Salbadere um die „Beschädigung des Amtes des Bundespräsidenten“ durch den Noch-Bewohner von Schloss Bellevue mit einem Schlussstrich zu beenden. Denn ganz gleich, was ein Christian Wulff, angetrieben von „ähnlichen Defekten, die in den natürlichen Körpern anderer Menschen vorkommen“, auch getan haben mag, kann er doch den „politischen Körper“ – sprich „das Amt“ – „durch einen Defekt seines natürlichen Leibs“ in keinster Weise beschädigen.
Abgesehen davon, dass dem politischen Körper „Bundespräsident“ durch die vielzitierten Väter des Grundgesetzes, zu denen auch drei Mütter gehörten, die Potenz zur Regierung entzogen wurde, soll er nach innen und außen die Bundesrepublik repräsentieren und in seiner vorgeblichen parteipolitischen Neutralität „für die Lenkung des Volkes und das öffentliche Wohl da“ sein, um die alten Engländer es noch einmal auf den Punkt bringen zu lassen. Der Bundespräsident ist also des Deutschen König. Im echten Republikaner muss sich sofort die Frage auftun: Was aber will eine Republik mit einem König, der sich Bundespräsident nennt? Die nicht aussterbenden deutschen Royalisten werden rufen: Eben, das sagen wir ja auch! Lasst ihn uns durch einen richtigen König ersetzen!
Lassen wir die Republikaner und die Royalisten ihren Streit allein ausfechten –stellen wir die Frage grundsätzlicher. Im Mittelalter bedurfte es schon deshalb des zweigeteilten Königs, weil nur seinem politischen Körper die Weihen der Transzendenz, des Überirdischen, des Göttlichen, gehörten. Welch natürlicher Schweinehund er im Einzelnen auch gewesen sein mag – sein politisches Handeln hatte die Legitimation des Göttlichen. Damit aber war nicht nur sein politisches Handeln legitimiert, sondern das ganze, ohne Religion nicht vorstellbare, mittelalterliche Gesellschaftsgefüge, damit auch dessen Machtstrukturen.
Nun ist im Laufe der Jahrhunderte währenden Entwicklung des Kapitalismus die Transzendenz vom König auf das alles durchdringende Medium Geld übergegangen und die Religion verdientermaßen eher ins Private abgewandert (was noch nichts über die völlig unrepublikanische Position der Kirchen in Deutschland sagt). Die Legitimation all dessen, was in Deutschland und allerorten geschieht, erteilt einzig und allein das Medium Geld als Erscheinungsform des Wertes. Das steht zwar nicht im Grundgesetz, aber es ist so. In der politischen Sprache heißt das ganz einfach: „Aber es muss finanzierbar sein“. Was auch die Opposition bereits auswendig gelernt hat.
Oder anders ausgedrückt: Jede Regierung in jedem Lande dieser Erde erlangt ihre Handlungsfähigkeit und damit ihre Legitimation vorm Volk einzig aus der Größe ihres verfügbaren Staatsbudgets. Das muss in einer Welt auch so sein, die hartnäckig an der Fiktion festhält, dass sich ihr Reichtum in der Realabstraktion Geld darstellen lassen muss, oder, um mit Marx zu sprechen, nur als „eine riesige Ansammlung von Waren“ erscheint.
Nun hat aber das warenproduzierende Patriarchat auch ein ihm adäquates politisches System hervorgebracht, Demokratie geheißen. Und da steht in allen Sprachen aller Länder, abgesehen von Saudi-Arabien, Swasiland, Brunei, Oman und Katar, ach und fast hätte ich´s vergessen, dem Vatikan, in der einen oder anderen Formulierung, dass „die Gewalt vom Volk ausgeht“. „Aber wo geht sie hin?“, fragte schon Tucholsky. Aber das war in den Wind gefragt, denn bis heute ist das Volk in aller Welt und in großen Mehrheiten davon überzeugt, dass die Gewalt von ihm ausgehe, weshalb es regelmäßig in konstanter Begeisterung in so genannte Wahlurnen („Urne“ sagt eigentlich alles) seine Stimme „abgibt“ (was auch alles sagt). Woher diese Sucht, sich zu entmündigen?
Die Bevölkerung, um ein klein wenig zu entmystifizieren, hat eben zu großen und größten Teilen das System der kapitalistischen Zwangsarbeit, das ihr erst über viele Generationen eingeprügelt werden musste, mittlerweile so weit verinnerlicht, dass es auch seine politische Erscheinungsform mit Namen Demokratie als die ihr gemäße, natürliche und erstrebenswerte versteht. Zu dieser ideologischen Selbstkasteiung würde es aber nun überhaupt nicht passen, wenn man der Realität Gerechtigkeit widerfahren und den jeweils Gewählten zum Zeichen ihrer Legitimation einen aus Dollar- oder Euro-Scheinen geflochtenen Kranz aufsetzen würde.
Ein bisschen Transzendenz muss schon sein, ein bisschen überirdisch sollen die gewählten Eliten schon daher kommen. Ein bisschen Selbstbetrug macht das tägliche Elend erträglicher. Sonst stünde ja auch ständig die Frage im Raum, ob alles und jede und jeder in dieser Gesellschaft nur am Gelde, sprich nur an seiner Verwertbarkeit, gemessen werden solle. Das hätte auf Dauer gesehen verheerende Wirkungen. Da möchte man lieber ein wenig aufschauen beziehungsweise aufschauen lassen.
Und deshalb schmückt sich die Bevölkerung in fast jedem Lande dieser Erde mit einem König oder einem Präsidenten oder einer ähnlichen Repräsentanz. Die müssen und sollen auch keine Regierungsgewalt ausüben, sondern das vorspiegeln, was sich alle Beteiligten aus jeweils eigenen Gründen erhoffen: Dass die politische Machtausübung nicht etwa eine vermittelnde Funktion der Verwertung ist, sondern dass sie höheren Werten verpflichtet sei. Diese kann zwar niemand so genau beschreiben, aber in der aktuellen Debatte um den natural body des Christian Wulff wird dann immer der „westliche Wertekanon“ beschworen. Was dann wohl immer all das aus der Kantschen Aufklärungsideologie Abgeleitete meint, mit der man der Diktatur der Verwertung die höheren Weihen von Freiheit und democracy verleihen will.
Und deshalb braucht Deutschland das Amt des Bundespräsidenten. Es wird dabei immer die Hoffnung der politischen Kaste wie des Restes der Bevölkerung bleiben, dass bei dessen Findung weitestgehende Übereinstimmung herstellbar sei zwischen dem politischen Körper, der den Anspruch des „westlichen Wertekanons“ repräsentieren soll, und dem natürlichen des jeweiligen Amtsinhabers, der über möglichst wenige „Defekte, die in den natürlichen Körpern anderer Menschen vorkommen“, verfügen sollte. Der Bundespräsident als das Vorbild der Verinnerlichung der Zumutungen des Kapitalismus.
Die ganze aktuelle Aufregung geht ja nur um die beim Herrn Wulff öffentlich gewordene Differenz: Der Lack des bestehenden politischen Systems, das – neben vielen anderen Funktionen – der fortgesetzten Selbstverwertung Legitimation verleihen soll, könnte weiter abbröckeln. Und das wünschen aus verständlichen Gründen die politisch Herrschenden nicht, aber auch nicht die politisch Beherrschten, die um ihr irrationales Gesellschaftsbild fürchten. Das beweist sich schon allein daran, was dem Noch-Bundespräsidenten so im Einzelnen vorgeworfen wird.
Die – auch einsichtige – Frage zu stellen, ob die Bundesrepublik überhaupt einen Präsidenten braucht, ist entweder zu klein oder die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Kapitalismus überhaupt. Aber wer will die Frage schon hören?
Schlagwörter: Bundespräsident, Demokratie, Legitimation, Thomas M. Wandel