von Norbert Podewin
Am 18. Juni 1948 erfolgte durch die westlichen Besatzungsmächte die provokatorische öffentliche Aufkündigung des Potsdamer Abkommens: Sie ordneten für ihre Zonen eine insgeheim vorbereitet Währungsreform an, die Einführung der D-Mark West. Damit war die vierseitige Vereinbarung vom 2. August 1945 gebrochen, die besagte: „Während der Besatzungszeit ist Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu betrachten.“
Der sowjetische Oberbefehlshaber Marschall Wassili Sokolowski reagierte empört auf die Geheimaktion: „Sie bedeutet die Vollendung der Spaltung Deutschland.“ Zugleich wurde für die Ostzone unter Einschluss der Vier-Sektorenstadt Berlin der sofortige Währungsumtausch – Termin: 24. Juni – angeordnet. Der westliche „Blitzschlag“ erzwang im Osten anfangs eine Notlösung: Alte Geldscheinen erhielten Aufkleber. In Berlin hieß das kurzzeitige Notgeld, versehen mit dem Stadtsymbol, schon tags darauf „Bären-Mark“. Die Westmächte setzten jedoch für ihre Berliner Sektoren die sowjetische Anordnung aus und befahlen dort die Übernahme der D-Mark als gültiges Zahlungsmittel. Fortan waren die „geteilten Berliner“ für mehr als ein Dutzend Jahre mit dieser „Rechtslage“ konfrontiert. Zur Jahreswende 1948/49 beanspruchten dann auch die getrennten Stadtverwaltungen unter den Oberbürgermeistern Friedrich Ebert und Ernst Reuter jeweils die alleinigen Hoheitsrechte.
Zeitgleich wurde der deutsche Wortschatz bereichert: „Grenzgänger“ wurde in Berlin samt Umland ein gängiger Begriff. In dem alljährlich vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen/Bonn veröffentlichen „Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands – SBZ von A bis Z“ war 1962 unter diesem Stichwort unter anderem nachzulesen: „Im allgemeinen Sprachgebrauch Bezeichnung für Personen, die in West-Berlin arbeiten und in Ost-Berlin oder in dem sowjetzonalen Randgebiet wohnen oder umgekehrt dort arbeiten und in West-Berlin wohnen. Der Begriff des Grenzgängers entstand nach der Währungsreform vom Juni 1948. Die in West-Berlin arbeitenden Grenzgänger erhalten nur einen Teil ihres Lohnes in DM West, der restliche Lohn wird vom Arbeitgeber in DM Ost ausgezahlt. Der West-Berliner Arbeitgeber muss den entsprechenden Betrag in DM West an die Lohnausgleichskasse in West-Berlin abführen. Aus dieser Kasse wird der Umtausch eines Teils des in Ostgeld empfangenden Lohnes der in Ost-Berlin oder der SBZ arbeitenden Grenzgänger in Westgeld finanziert. 1949 arbeiteten mehr als 100.000 West-Berliner in Ost-Berlin und in der SBZ. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung West-Berlins und der Abnahme der Arbeitslosigkeit ging diese Zahl ständig zurück und betrug Anfang August 1961 nur noch 13.000. Darunter rd. 6.000 Eisenbahner und annähernd 3.500 freischaffende Künstler, Artisten und Schausteller. Demgegenüber arbeiteten vor dem 13. August 1961 noch annähernd 60.000 Ost-Berliner oder Bewohner der Randgebiete in West-Berlin gegenüber etwa 70.000 im Jahre 1949.“
Vor allem Konzerne wie AEG, Siemens, OSRAM und Schering nutzten die Möglichkeiten der DDR-Fachkräfte und „Billiglöhner“ intensiv. Der Westgeld-Anteil bot zugleich – bei einem langjährig durchschnittlichen Umtauschkurs „1 DM-West = 4 DM-Ost“ – beträchtliche Vorteile für Grenzgänger aus dem Osten: Für sie verbanden sich dauerhaft niedrige Mieten sowie Strom- und Wasserpreise, gesundheitliche Versorgung ohne finanzielle Eigenbeteiligung und stabile Niedrigpreise bei öffentlichen Verkehrsmittelsich problemlos im Westen Berlins mit Produkten einzudecken, die im östlichen Wohnbereich als „Bückware“ galten oder gar nicht zu haben waren.
Der Ebert-Magistrat unternahm zahlreiche Versuche, um mit dem städtischen Kontrahenten vertragliche Regelungen zu erzielen, doch da es im politischen Duktus des Schöneberger Rathauses keinen zweiten deutschen Staat geben durfte – die Bonner Vorgaben lauteten „Sowjetische Besatzungszone“ und „Pankow“ – blieben alle Vorschläge unbeantwortet.
Seit der sowjetischen Initiative vom 10. November 1958 – der Vorschlag an Westmächte und BRD, Berlin-West in eine Freie entmilitarisierte Stadt umzuwandeln – wurden die Profiteure der speziellen Lage in Berlin zusehends besorgter. Der Senat beriet am 18. Oktober 1960 eine interne Studie und folgerte: „Der Bericht macht eindringlich darauf aufmerksam, dass im Faiie östlicher Absperrmaßnahmen ein Ersatz für die Grenzgänger aus der Arbeitskräftereserve in West-Berlin nicht mehr möglich sein würde, da selbst bei Eingliederung der sicher nicht immer für einen Austausch geeigneten bisherigen ‚Auspendler‘ ein ungedeckter Bedarf von weit mehr als 36.000 Arbeitskräften bliebe. Um diese Lücke auszufüllen, müssten – die Familie nur zu drei Personen im Schnitt gerechnet – etwa 110.000 Personen aus dem Bundesgebiet zuziehen.“
Am 31. Juli 1961 erhielt der Regierende Bürgermeister ein Schreiben aus dem Roten Rathaus. Friedrich Ebert appellierte ein weiteres Mal: „Die Bevölkerung in beiden Teilen Berlins verlangt immer dringlicher die Lösung des so genannten Grenzgängerproblems. Es liegt in Ihrem Interesse, eine solche Regelung durch Verständigung zwischen den politischen Vertretungskörperschaften beider Teile herbeizuführen. Der Magistrat von Groß-Berlin wiederholt daher seine bereits früher gegebene Anregung, eine Kommission aus Mitgliedern des Magistrats und des Senats zu bilden, die unverzüglich Vorschläge zur Lösung ausarbeiten sollen. Wegen der Dringlichkeit der Angelegenheit bitte ich um alsbaldige Stellungnahme unter Benennung der Vertreter des Senats für diese Beratung.“
Da auch dieses Angebot unbeantwortet blieb, erließ der Magistrat einen Beschluss, der am 5. August 1961 in der Presse erschien und Grenzgänger verpflichtete, „[…] mit Wirkung vom 1. August 1961 an ihre Miete, Pacht für Grundstücke und die Abgaben für Strom, Gas, Wasser und öffentliche Gebühren in Westmark zu bezahlen“. Mit Datum 13. August 1961 – dem Beginn des Mauerbaus – diese Regelung allerdings schon wieder Geschichte.
Die Konzerne in der Weststadt aber standen im Wortsinn über Nacht vor leeren Arbeitsplätzen; Ersatz in der benötigten Größenordnung hätte langfristiger Anwerbung bedurft. Die vermeintliche Alternative schien jedoch bereits am 20. Oktober 1961 gefunden – mit dem Abschluss eines Abkommens zwischen der BRD und der Türkei über die Zuführung türkischer Arbeitskräfte. Innerhalb weniger Monate fanden sich erste größere Kontingente in Westberlin ein und veränderten im Laufe der Zeit durch ihre Sitten und Gebräuchen die lokale Szene. Der Berliner Volksmund hatte für das Zentrum der Neusiedler – Kreuzberg – sehr rasch den passenden Begriff parat: „Klein-lstanbul.“
Doch es blieb trotz des massiven Zuzugs der „Lückenbüßer“ ein Mangel an Fachkräften. Das hatte den Abzug führender Unternehmen aus der einstigen Grenzgänger-Oase zur Folge; nur der Schering-Konzern erhielt seine Produktion im Stadtbezirk Wedding aufrecht.
Dem 50. Jahrestag des Mauerbaus galt immenses Medieninteresse. Einstige Grenzgänger als Zeitzeugen blieben weitgehend unbeachtet. Das nur 69 Tage später folgende 50jährige Jubiläum der Geburtstunde von „Klein-lstanbu!“ dagegen blieb in den Medien vergleichsweise unterbelichtet. Dabei hatte die Bundeszentrale für politische Bildung schon 1999 bestätigt: „Menschen türkischer Abstammung bilden heute die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in Berlin […]. Die deutsche Hauptstadt gilt als die weitweit größte ‚türkische Stadt’ außerhalb der Türkei […]“
Der Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde steht bislang noch aus.
Schlagwörter: D-Mark, Grenzgänger, Klein-Istanbul, Mauerbau, Norbert Podewin, Währungsreform