von Hans Jahn
Noch ein Buch zur DDR? Zu dem Thema ist doch nun wirklich alles gesagt: Stasi, 17. Juni, Mauerbau, Biermann, Mauerfall, aus die Maus – so die Erzählung der einen Seite. Arbeit für alle, gleiche Bildung, keine Obdachlosigkeit, Gleichberechtigung der Frau, FDGB-Urlaub, billiges Wohnen, harte Arbeit, und dann kam Gorbatschow, der Verräter – so die Erzählung der anderen. Schütrumpf scheint beide nicht zu mögen: „Ich bin nicht gewillt, der üblichen Phraseologie Zugeständnisse zu machen; weder der, die im Akademischen produziert wurde – vom sorgsam gepflegten Unrechtsstaat bis zur unvergesslichen Zwangstopfung – noch der jener, denen die wohlige Erinnerung an einstige Machtfülle zum zentralen Motiv des verbleibenden Lebens geworden ist und deren Trauer allenfalls für den erlittenen Machtverlust langt; nicht aber für die Trauer um sich selbst.“
1982 legte der spätere UTOPIE-kreativ-Redakteur (1990-2007) und Blättchen-Macher (1997-2009) in Leipzig bei Manfred Bensing die erste Studie zur Sozialpsychologie der DDR-Arbeiterschaft vor; hier zieht er Bilanz aus seinen seit 1980 betriebenen, immer wieder unterbrochenen Forschungen. Datiert hat er den Essay – wie es scheint, nicht zufällig – auf den 22. April 2010, den 140. Geburtstag Lenins; es ist ein Abschied von der DDR und der in den Massenterror entglittenen russischen Revolution. Schütrumpfs Nüchternheit und sein betont sachliches Herangehen – nirgends Häme, nirgends Trauer, keine Sarkasmen – wirken auf manche Leser schmerzerregend, scheinen aber aus verarbeiteten Schmerzen geboren zu sein, aus überwundener Wehmut und Wut.
Nein, hier wird nicht noch einmal die ganze DDR-Geschichte erzählt, statt dessen wird nach dem Warum? gefragt – danach, warum die DDR scheiterte, aber auch danach, warum sie so lange hielt. Um diese Frage zu beantworten, schaut Schütrumpf in die europäische Geschichte bis zu Aufklärung und französischer Revolution zurück. Für ihn ist die DDR kein Unfall, der aus der Geschichte von Otto I. bis Angela Merkel auszublenden sei, sondern integraler Bestandteil. Mit so einem Blick bekommt man natürlich an keiner deutschen Universität eine Stelle; Schütrumpf kann sich das leisten, hat er sie doch nie angestrebt – der freischwebende Intellektuelle kann schreiben, was der staatlich alimentierte sich meist nicht einmal zu denken wagt: „Der preußische Obrigkeitsstaat, dessen Faszination die Machthabenden der DDR sich in der Spätphase ihrer Herrschaft auch in aller Öffentlichkeit hingaben, sowie die Verwüstungen, die im 20. Jahrhundert Seelen, Siedlungsräumen und der Umwelt angetan wurden – der Täter waren da viele – bilden die eine Determinante. Die andere Determinante konstituierte das erzwungene Ausscheiden der emanzipatorischen Linken aus der Sozialdemokratie während des Ersten Weltkrieges, der das lange Zeit friedliche 19. Jahrhundert mit einem unheilbaren Zivilisationsbruch beendete. Nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gerann die 1918/19 entstandene Konstellation in die deutsche Zweistaatlichkeit – mit allen Folgen.“
Dieses Programm absolviert er bis in die Verästelungen hinein – mitunter unwillig stolpert man von Aha-Erlebnis zu Aha-Erlebnis, um dann, bevor das Finale – also die eigentliche DDR-Geschichte – beginnt zu lesen: „Statt dessen produzierte die für totalitäre Regime charakteristische Verlassenheit des einzelnen, herbeigezwungen durch die Angst eines jeden vor jedem, einen zwar emanzipierten, aber alles andere als angenehmen Menschentypus: tief misstrauisch, wenn auch nicht unbedingt missgünstig; bis in die Ohnmacht berechnend und deshalb zur offenen Auseinandersetzung unfähig; stets den Dolch im Gewande führend und trotzdem vor der eigenen Heimtücke zurückschreckend, zu kollektivem Handeln nur noch in äußerster Not bereit und gemeinsam zu verfolgender positiver, gar sozialistischer Ziele zutiefst entfremdet – zugleich leistungsfähig und bis zur Selbstaufgabe leistungsbereit; jeder Ideologie abhold, dafür jeder Ablenkung zugetan; geradezu liebessüchtig, aber tief beziehungsgestört. Das waren die Ingredienzien, die den deutschen Nachkriegsmenschen ausmachen sollten – Seelenkrüppel.“
Bitter, aber nicht völlig von der Hand zu weisen. Der Kommunist der ersten Stunde, Alfred Kurella, ein kluger, wenngleich nicht besonders angenehmer Mensch, der die DDR-Intellektuellen und Künstler ab 1957 als „Kulturpapst“ tyrannisieren sollte, hatte es schon 1943 im sowjetischen Exil geahnt und seiner Frau anvertraut: „Deutschland wird nach diesem Krieg nicht schön sein, Ruinen von Häusern und Menschen, vergrämt, verlogen, verarmt. Da hilft auch kein Frühling.“
Was hat diese DDR zusammengehalten? Schütrumpf meint ein Kompromiss zwischen Arbeiterschaft und SED-Führung als Resultat des 17. Juni 1953: „Obwohl unorganisiert, ohne Führung und auf die blanken Hände angewiesen, zog sie (die Arbeiterschaft – Hans Jahn) quer durch die Gesellschaft unübersehbar die Grenze, bis zu der sie gewillt war mitzugehen: euch die Macht, uns soziale Sicherheit und eine erträgliche Arbeitsbelastung. Wenn schon keine politische Freiheit, so doch ein hohes Maß an sozialen Freiheiten und die Gewissheit, dass sie nie wieder angetastet werden würden. Dieser unausgesprochene Klassenkompromiss zwischen Arbeiterschaft und Partei- und Staatsbürokratie hielt, bis sich 1988/89 – nachdem schon viele Kreative, die nicht der Arbeiterschaft angehörten, das Land verlassen hatten – nun auch die jüngeren Teile der Arbeiterschaft zur Massenemigration entschlossen, zu der schon 1960/61 ihre Elterngeneration angetreten, aber in ihrer Mehrheit durch den Mauerbau gehindert worden war.“
Auch wenn das Wort Sozialpsychologie im gesamten Text nicht auftaucht, es ist eine sozialpsychologische Arbeit, als solche jedoch erfreulich unakademisch. Dennoch ist das Lesen anstrengend: Oft ist der Text zu komprimiert, nicht nur durchgearbeitet, sondern zu sehr durchgearbeitet. Schütrumpf scheint nicht an die Leser, sondern nur an sich selbst gedacht zu haben – und hat damit ein Privileg in Anspruch genommen, das zwar jedem guten Belletristik-, nicht jedoch dem Sachbuchautor zusteht.
Inhaltlich bleibt anzumerken, dass Schütrumpf den „Berg“ und den „Sumpf“ im französischen Revolutionsparlament als „Linke“ und „Rechte“ verkauft (inhaltlich hat er Recht, historisch ist es natürlich Unsinn). Wusste er, der zu den wenigen gehörte, von denen sich der große Revolutionshistoriker und von der SED als „Titoist“ verstoßene Widerstandskämpfer Walter Markov duzen ließ, es nicht besser, oder wollte er die Leser nicht auch noch mit der Entstehung der Linken überfordern? Nach all der Überforderung, die dieser Text darstellt, hätte dem Buch diese „Überforderung“ auch keinen Abbruch mehr getan. Schade.
Jörn Schütrumpf: Freiheiten ohne Freiheit. Die Deutsche Demokratische Republik. Historische Tiefendimensionen, Karl Dietz Verlag, Berlin 2010, 144 Seiten, 12,90 Euro
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