von Reinhard Wengierek
Die absolut spektakulärste Vorstellung des Meininger Theaters im Jahr seines 180. Geburtstages dauerte genau 129 Minuten. So lange nämlich brauchten Ingenieure der Fluid-Technologie, die zuvor abgesägte Giebelwand des Bühnenhauses um fünf Meter nach hinten zu verschieben. 600 Tonnen Sandstein und Ziegel rutschten auf mit Stickstoff gefüllten Polstern sacht rückwärts. So wurde ohne Abriss und Neuaufbau ordentlich Platz geschaffen für die Organisation eines Bühnenbetriebs nach neuzeitlichen Standards. Also zwei neue Drehbühnen, neue Hubpodien, Obermaschinerie, Lüftung, neues Licht, neuer Ton und Brandschutz, neue Garderoben, Arbeitsräume, Depots und 540 km neue Kabel. Eine aufs Doppelte vergrößerte Hinterbühne, optimierte Transportwege, verbesserter Arbeitskomfort; ein erweiterter Orchestergraben für nunmehr 70 Musiker mit arbeitsrechtlich korrekt 130 Quadratzentimetern Platz pro Instrumentalist. Also eine Infrastruktur-Perestroika fürs alte Gehäuse von anno 1909. Und frisch neuklassizistischer Glanz im abendsonnig goldschimmernden Saal mit himmelblauen Seidentapeten und 728 bequem neu gepolsterten Sesseln sowie aufgemöbelten Prunk-Foyer.
Für diese längst überfällige Generalsanierung flossen reichlich 23 Millionen Euro aus Steuerzahlers Taschen; der Rest von Thüringens ansonsten brutal herunter gesparter Bühnenwelt blickt neidvoll auf. „Dem Volke zur Freude und zur Erhebung“ steht politisch-pädagogisch korrekt im Portikus der strahlend geputzten Sandsteinfassade. Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen ließ es 1909 einmeißeln in sein Hoftheater sowie in die Köpfe seiner Untertanen. Dieses für eine zwergenhafte Residenz riesengroße Hoftheater war der für unser Säkulum jetzt aufwändigst fit gemachte Neubau, für den der theaterbesessene Aristokrat – auch er sparte an keiner technischen Innovation – mehr als eine Million Mark beisteuerte, indem er sämtliche privaten Wertpapiere veräußerte. Der Kassensturz wurde notwendig, weil eine Feuersbrunst das 1831 von Vater Bernhard erbaute Theater 1907 hinweggerafft hatte.
Georg begann seine Regentschaft 1866. Und mit ihr begann der legendäre Ruhm dieses Bühnenbetriebs. Gustav Mahler brachte es auf den noch heute gültigen Punkt: „Meiningen ist eigentlich keine Stadt mit Theater, sondern ein Theater mit Stadt“. – Und das war einmal der Nabel der abendländischen Theaterwelt. Der Grund: Georgs reformerische Aufführungspraxis. Die pflegte akribische Textgenauigkeit, aufwändig geprobtes Ensemblespiel (weg vom solistisch hallenden Deklamatorischen) und erarbeitete wirklichkeitsnahe Bühnenbilder (brillante illusionistische Groß-Prospekte, modernste Lichttechnik, historisch-korrekte Kostüme und Requisiten).
Der große (2,06 m!) und aufgeklärte Aristokrat mit Rauschebart als Künstler auf dem Thron, als Geldgeber, Intendant und als künstlerischer Leiter, der kreierte im Kollektiv mit bürgerlicher Schauspielerin-Gattin Ellen Franz (die er adelte und ehelichte) und mit bürgerlichem Chefregisseur Ludwig Chronegk das, was wir heute Regietheater nennen. Und das stand im krassen Gegensatz zur damals üblichen Rumsteh- und Aufsagerei in einer irgendwie zusammen gebastelten Ausstattung. Die naturalistisch-historische Genauigkeit, dieses wissenschaftlich fundierte Ringen um ein den Autoren getreues realistisches Gesamtkunstwerk wurde zur Weltsensation. Die inspirierte erst Otto Brahm, dann Max Reinhardt in Berlin (Deutsches Theater) sowie Stanislawski in Moskau (Künstlertheater), André Antoine in Frankreich, Strasberg in New York und obendrein die Gründung der Royal Shakespeare Company. Und später die antiromantischen Naturalismus-Gegenspieler Meyerhold, Craig, Brecht. Reform-Meiningen war nationale, schließlich internationale Leitbühne.
Welttheater zwischen den Bergen von Rhön und Thüringer Wald im lauschigen Tal der Werra: extrem luxuriös. Bei aller Besessenheit und Generösität: Die herzogliche Schatulle wurde arg gebeutelt, der Ruhm in Insiderkreisen musste in die (zahlende) Welt getragen werden. Man ging auf Tour. Nicht mit Pferd und Wagen, sondern mit dem allermodernsten Transportmittel Eisenbahn; Meiningen ging, ein weiteres Signum herzoglicher Modernisierungsfreude, frühzeitigst an Netz. So reiste das Hoftheater zwischen 1874 und 1890 im Sonderzug quer durch Europa zu sage und schreibe 81 Gastspielen in 37 Städten und gab – logistische Meisterleistung! – 2887 Aufführungen von 41 Stücken, vornehmlich Klassiker. Auch die seit 1680 bestehende, noch heute so firmierende Hofkapelle mit ihren Dirigenten von Bülow, Reger, Brahms oder Richard Strauss, war eifrig unterwegs. „Die Meininger kommen!“, ein Schlachtruf der Theatermoderne, von Theodor Fontane bewundernd geprägt. Und zwischen Triest und London begeistert aufgenommen.
Der Nachhall ist bestens dokumentiert und aufgehoben im Theatermuseum, einst Reitstall von Elisabethenburg (die fein konservierte, vielräumige Lebenswelt des Theaterherzogs im Schloss darf täglich außer montags durchwandert werden). Kernstück der kostbaren Theatersammlung aber sind die spektakulären Prospekte, Markenzeichen der Meininger. Für teuerstes Geld gefertigt vom Coburger Star-Atelier Gebrüder Brückner, die auch von Wagner begehrten Lieferanten für Bayreuth.
„Meiningen mit seiner großen Tradition will nicht Museum werden. Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben, traditionell beliebte Werke durch moderne Regiekonzepte aktuell zu halten. Wir müssen vielmehr unserem Publikum den Weg in die Literatur und Musik der Gegenwart ebnen“, schreibt Intendant Asgar Haag allen so vergangenheitsseligen Meiningern und deren Gästen zur Wiederöffnung des Hauses jetzt vor Weihnachten ins Stammbuch.
Haag kam als leutseliger Chef des Ulmer Stadttheaters, das er mit „bunt gemischtem Programm“ beglückt an sein Haus band, vor sechs Jahren von der Donau an die Werra. Und ersetzte einen vorzeitig geschassten, eigenbrötlerischen, auf radikale Avantgarde-Formen sowie großfeuilletonistisches Presseecho erpichten Intendanten, der sein konservatives Kleinstadt-Publikum kalt als spießig und deppert schmähte und also schwere Wunden riss. Die Leute gingen auf die Barrikaden. Man holte Haag als Wundenheiler. Und der trat an mit Wärme, Charme, Kommunikationslust sowie einem populären, auch populistischen Programm für Kleinstädter, Dörfler sowie für von nah und fern anreisende Kulturtouristen, die immerhin 60 Prozent des Publikums ausmachen.
Haag ist beliebt im 20.000-Einwohner-Residenzlein, sein Theater als größter Arbeitgeber ebenfalls; es hat schon wieder 8000 Abonnenten. Dabei macht der Intendant seit geraumer Zeit und mit Fingerspitzengefühl Ernst mit dem Zeitgenössischen, mit verstörend Gegenwärtigen. Sogar jetzt, zur festlichen Wiedereröffnung: Da kommt traditionell Beliebtes auf provokant gegenwärtige Art, nämlich William Shakespeares bitterböses Korruptions- und Terrorstück „Maß für Maß“ sowie Richard Wagners Frühwerk „Das Liebesverbot“. Ein sinnfälliges Premieren-Doppel, denn das 23jährige Junggenie W. adaptierte für seine groß angelegte zweite Oper den alten Schüttelspeer. Dem geht es in „Measure of Measure“ um politischen Machtmissbrauch, Korruption und grausame Doppelmoral der Herrschenden, um zivilisatorischen Verfall – also um enorm harte Sachen, verpackt in ein grotesk aasiges Spiel mit dem Entsetzen, das Regisseur Veit Güssow mit Video-gestützten Schockbildern aus dem heutigen Unter- und Oberschichtenmilieu drastisch illustriert. Doch was – provokant gut gedacht – Gegenwärtigkeit ausstellen soll, kommt bloß plakativ, abgedroschen und schauspielerisch platt über die Rampe.
Anders Wagner: Der schiebt mit boulevardeskem Augenaufschlag den Shakespeare ins Komödische, macht aus der horriblen Vorlage von Diktatoren-Terror ein Stück aberwitziger Fürstenaufklärung: Die Herrschaft ist nicht besser als sein saufendes, vögelndes Volk. Hausherr Haag als Regisseur organisiert (im Gegensatz zum Kollegen Güssow) das Intrigenstück klar und dicht. Und stülpt ihm zum Finale kühn ein Neonazi-Warnbild über. Auch schockierend, auch eine wenig originelle Veraktualisierung, doch aus dem Ganzen deutlich logischer entwickelt. Das gewitzte Werk aus dem Wagner-Fundus hat Haags Aktuell-Halterei prima überlebt; allein schon des Hörens wegen (Dirigent: Philippe Bach). So gesehen: Eine schöne Belebung dieses gern beschwiegenen Wagner-Frühchens, das noch singspielt, aber schon heftig tannhäusert und lohengrient. Eine dankbare Herausforderung auch für größere Häuser jenseits von Kleinstadtresidenzen.
Doch hier, am lieblich sich schlängelnden Band der Werra hinter den Bergen, steht nunmehr fest gemauert und herrlich ausstaffiert die fantastische Theaterburg Meiningen. Mit Georgs, Gottes und Thalias Segen. Darauf einen „Rhöntropfen“; Meininger Magenbitter, 35 Prozent, seit 1877.
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