von Regina Kohler
„Wir machen uns viel zu selten einen Begriff davon, wie viel Freiheit dazu gehört, den kleinsten eigenen Gedanken frei zum besten zu geben“, hat Walter Benjamin einmal eigene Erfahrungen resümiert. „Jede inhaltliche Befangenheit raube dem Autor auch ein Stück seiner Sprachfertigkeit, und somit ein Stück seiner Welt, möchte man hinzufügen“, hat Marie Luise Knott ihrerseits ergänzt im Vorwort eines Buchs, das nicht nur für all jene mit Gewinn gelesen werden kann, die Hannah Arendt schätzen. Knott untersucht in ihrem essayistischen Band Arendts Aufbrüche aus solcher Befangenheit, die die Philosophin 1933, am Beginn ihres Exils vor der apokalyptischen Hitlerbarbarei und damit vor dem Bankrott von Denken und Urteilskraft zunächst zu dem ultimativen Schluss hatte kommen lassen, „nie wieder eine intellektuelle Geschichte“ anzurühren. Marie Luise Knott untersucht und zeichnet nach, durch welche Erkenntniswege Hannah Arendt nicht nur zu ihrer tiefschürfenden Analytik zurückgefunden, sondern diese vervollkommnet und eben auch unangreifbarer gemacht hat, was auch dann gilt, wenn sie freilich die Ergebnisse ihres Denkens nicht in den Status sakrosankter Unfehlbarkeit gehoben hat. „Denken ohne Geländer“ hat Hannah Arendt einst in perfekter Trefflichkeit genannt, was jene Erkenntniswege ausmacht, die so einfach scheinen und doch so schwer zu realisieren sind; ist der Mensch doch von Kindesbeinen an umstellt von Geländern. Solange diese dem Denkenden zwischenzeitliche Stützen sind, ist dagegen sicher auch nichts einzuwenden, können Halte- und Leitstangen also durchaus hilfreich sein. Geländer führen indes in vorgegebene Richtungen, und dem eigenen Denken kann letztlich nichts gefährlicher und verderblicher sein. Der Schritt zur Religion, christlicher oder dem dazu gemachten Marx, zum Glauben also statt zum Denken, ist dann nur ein ganz ganz kleiner.
Dass Hannah Arendts berühmter Bericht „Eichmann in Jerusalem“ einen ihrer neu erschlossenen Denkwege, das Lachen, gerade an diesem Schreibtisch-Massenmörder praktiziert und an ihm die „Banalität des Bösen“ ausgemacht hat, hat ihr seinerzeit viel Unverständnis, Ablehnung, ja Feindschaft eingebracht; Reaktionen, die bald aufgegeben hatte, wer in den rationalen Kern dieses Urteils einzudringen vermochte.
Das Lachen ist eine von eine von vier Methoden beim „Verlernen“ eingefahrenen Denkens, die Marie Luise Knott bei Hannah Arendt nachzeichnet: „Im Lachen unterbricht sich das lähmende Entsetzen aus der Begegnung mit dem Phänomen Adolf Eichmann; durch tätiges Übersetzen – als Denkbewegung – wird das Leid der Emigration und der Fremdheit gewendet in eine ‚Unbekümmertheit des Paria‛, der, da er nicht in gleichem Maße in die sozialen Realitäten des Ankunftslandes verstrickt ist, in der Fremde einen freieren Blick schweifen lassen kann. Im Verlernen des Verzeihens geht es pars pro toto um den verzweifelten Kampf, sich Bilder und Begriffe auszutreiben, deren überlieferter Sinn und deren tradierte Bedeutung am Denken hindern; und mit dem Mittel des Dramatisierens kann der Text selbst zur Bühne werden. So erhalten die Menschen, die drohen, zu Marionetten des Sozialen zu werden, verlässliche Orte, ihre ‚personale Einzigartigkeit‛ zu offenbaren“, so fasst Knott zusammen.
Und fügt ihren intelligenten Essays ein Credo Hannah Arendts bei, das den Kreis zu Walter Benjamins eingangs zitierter Feststellung wieder schließt: „Jede neue Generation, jedes neue Menschenwesen muss, indem ihm bewusst wird, dass es zwischen eine unendliche Vergangenheit und eine unendliche Zukunft hingestellt ist, den Pfad des Denkens neu entdecken und mühsam bahnen.“
Marie Luise Knott: Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt, Matthes und Seitz, Berlin 2011, 151 Seiten, 19,90 Euro
Schlagwörter: Eichmann, Hannah Arendt, Marie Luise Knott, Matthes und Seitz