Friedrich Ebert und die Novemberrevolutiom

Abreißkalender

von Ignaz Wrobel

8. Dezember
Deutsch sein heißt
eine Sache um ihrer selbst willen tun.
Griesgrütze
Falscher Hase
Gedämpftes Apfelkompott

Es gibt in Deutschland eine ganze Reihe gebildeter Abreißkalender – wenn nichts Besonderes dabeisteht, sind sie deutsch-national und fälschen Geschichte und Geographie, um das Andenken des Rentenempfängers in Doorn hochzuhalten. Also davon wollen wir nicht reden. Es gibt doch auch andres.
Der Verlag Carl Hoym in Hamburg hat für das Jahr 1926 einen Arbeiterkalender herausgebracht, der als eine Illustrierung unsrer alten Forderung gelten darf: hier haben wir die Tendenzfotografie in ihrer höchsten Vollkommenheit, Als ich hier neulich davon sprach, dass die Fotografie eine gefährliche Waffe im politischen Kampf sein könnte, wenn man sie nur benutzen wollte, griff die nationalistische Provinzpresse das auf, und von Bogenhausen bis Palmnicken ergoß sich ein Strom von Talentlosigkeit in unser Ausschnittbüro. „Man sollte Herrn Wrobel und Ludendorff neben einander fotografieren – da wollen wir einmal sehen, wer besser abschneidet!“ Gut gegeben. „Die vergiftende Waffe, die hier von dem berüchtigten Ignaz Wrobel vorgeschlagen wird …“ Oh, diese Dackel … ! Kurz: ‚Fliegende Blätter’. Von mir gefordert war: die Verwendung der Fotografie, wenn möglich unretuschiert – die Tendenz nur in der Auswahl der Bilder und in der Unterschrift. Hier ist die Erfüllung.
Der Kalender enthält in klarem Druck auf schönem Papier:
Auf der Rückseite jedes Blattes gut ausgewählte Stellen aus der politischen Literatur; Abdrucke von Zeitungsausschnitten; Blamagen der Gegner; Mahnungen, Rufe, Erinnerungen – sehr schätzenswerte und notwendige Erinnerungen. Auf der Vorderseite das deutliche Datum, kommunistische Gedenkdaten und eben das, weswegen er hier angezeigt werden soll: auf jedem Blatt ein Bild.
Es sind in den meisten Fällen Fotografien, die da abgebildet sind – und soweit ichs beurteilen kann, ist keine einzige retuschiert. Es sind also keine fotografischen Scherze, die man gemacht hat – gegen die freilich nichts einzuwenden wäre –, sondern es ist das Abbild der Wirklichkeit hergenommen, eine kurze, schlagende Unterschrift besagt: „Seht, so war das!“ – und nun sehen die Leser;
„15. Januar, Freitag. ‚Karl Liebknecht nach seiner Einlieferung als Unbekannter im Leichenschauhaus.’“ Auf der Holzpritsche liegt der Erschlagene – mit nacktem Oberkörper, die Augen sind schon zugedrückt. Ich weiß noch alles: die begeisterten Straßengespräche der Bürgerlichen, als der ‚Kerl’ endlich ‚erledigt’ war, die Komödie von Gerichtsverhandlung, wo sechs Offiziere der allerübelsten Prägung teils logen, teils sich brüsteten, und es waren Söhne guter Familien darunter – haben Sie sich noch ein kleines Andenken an den Fez aufbewahrt, Herr Liebmann? Ja, da liegt er also – und für Freitag, den 15. Januar, wird die Erinnerung wohl reichen.
Politische Hiebe folgen. Eine Fotografie der Nationalversammlung ist mit der erledigenden Unterschrift versehen: ‚Am Grabe der ersten deutschen Revolution.’ ‚Ruhe und Ordnung herrscht wieder in Berlin’ – und man sieht sie herrschen. ‚Im Stechschritt durch die deutsche Republik’ – nun, man weiß, wem diese Beine und wem diese Gesichtskopien gehören … Bilder aus dem Proletarierleben folgen: Elendsszenen, mit einer Schärfe fotografiert, die nur noch von der Schärfe der Texte überboten wird. ‚Proletarisches Feierstündchen’ – aber diese Bitterkeit ist gerecht, kommt aus brennendem Herzen, bleibt haften.
Sehr schöne Bilder aus Rußland wechseln mit den Porträts der russischen Revolutionsführer, es sind Aufnahmen dabei, die man sicherlich nicht wegwerfen wird; wenige, aber schlagende Karikaturen, Greuelbilder aus den politischen Kämpfen unsrer Zeit, Gehenkte und Zerstückelte, Rebellen fremder Länder – und fast hätte ich unsern Entlaufenen vergessen: den reich dotierten Imperator Rex. Was dieser Kalender gegen Wilhelm unternommen hat, gehört zu dem Stärksten seiner Art und steht sogar noch über dem Zivilbild des Kaisers in Emil Ludwigs Buch; ja, es läßt sich auch neben dem Wagenbild sehen, wo Eduard der Siebente den feixenden Feldwebel dick und peinlich berührt von der Seite anblickt. Der Kalender hat weiter nichts getan, als den Kaiser bei einem Manöver fotografiert – da steht dieses Stück Unglück, hält den Arm in die Höhe und grinst. „30. März, Dienstag. Jetzt wollen wir sie dreschen. Wilhelm beim Kaiser-Manöver.“ Neben ihm ein fetter Junge, als Kürassier angezogen, der strahlt über sein ganzes deutsches Sektgesicht. Und ER … ! Es ist der ganze Mann: die große Geste, die Hohlheit, die Schwäche, der kleine Oberleutnant, der hinter allem Gerassel stak – das Bild erklärt Niederlage, Flucht und nachfolgende Rente.
Zwischendurch bekommt die Republik, wie sie geworden ist, eins aufs Dach. Dazu ist vielleicht etwas zu sagen.
Es findet sich in diesem Kalender das Äußerste an Hohn und Spott, an Wut und Empörung gegen Fritz Ebert, in Bild und Wort. Der Mann ist tot, und wenn man die sentimentale Saite im Deutschen anschlägt – „Mutter!“ und „De mortuis nil …“ –, so kann man seines Erfolges ziemlich sicher sein. Der Mann wird in diesem Kalender als Verräter an seiner Klasse gezeichnet – und hier wird vielleicht der Republikaner stocken. Er sollte das nicht tun.
Die persönliche Rechtlichkeit des ersten Präsidenten steht hier nicht zur Diskussion – sie ist kein Verdienst, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wenn aber heute allen Ernstes versucht wird, diesen mittelbegabten Funktionär, der seine eigne Stunde, aber niemals die des Reiches begriff, neben Bismarck zu stellen – so muß man doch wohl den übereifrigen Demokraten, die dergleichen aus tiefer Brust herausrollen, raten, sich Beffchen umzubinden, damit sie sich nicht bepredigen. Die Herren, die im Prozeß Cossmann für Ebert aussagen wollten, haben ihn vernichtend belastet. Richtig ist, dass die Soldatenräte nicht allzu viel taugten; dass da ein Chaos geherrscht hat; dass schlechte Elemente unter den Aufrührern wider Willen und ohne Willen dabei waren. Aber vom Mittag des 9. November an Angst vor dem Bolschewismus haben; Auswüchse einer Revolution verhindern wollen, die überhaupt noch nicht da war; nach rechts und immer nur nach rechts sehen; mit Hilfe der übelsten Erscheinungen des Militärs eine Heeresmacht wiederaufrichten, die die Pest dieses Landes gewesen ist: das ist Verrat an der Arbeiterklasse und an der Idee der Revolution. Und Fritz Ebert durfte das nicht, er hatte nicht das Recht, so zu handeln, denn er war ein Beauftragter, ein vom Volk Beauftragter. Vielleicht war das seine persönliche Politik … Es waren aber die Arbeiter, die ihn zum Vorsitzenden gemacht hatten, die Arbeiter, die ihre Knochen im Krieg zu Markte getragen hatten, während er in Stabsquartieren den artigen Sozialdemokraten machte, die Arbeiter, die reinen Tisch haben wollten. Diesen Willen hat er verfälscht, aufgefangen und abgeleitet. Er ist schuldig.
Und weil die Genossen, die er sich ausgesucht hat, noch schlimmer waren, weil in diesen Jahren die anständige Opposition der Sozialdemokratischen Partei nie zu Worte gekommen ist, durch Geschäftsordnungsmanöver geknebelt, an ihrer schwachen Stelle, an der falsch verstandenen Disziplin gepackt: deshalb ist auch Ebert und sein Regime schuld an den Arbeitermorden, die er verschwiegen und Herr Noske vergessen hat, an diesem Richtertum, an der feigen Personalpolitik in den Ämtern – an dieser Republik.
‚Reichsbanner! Zurück zur Klassenfront!’ heißt eine eindrucksvolle Fotografie des Kalenders. Man sollte sich auch hier besinnen, und ich hoffe, dass man nachdenkt. Der Weg, den die Sozialdemokratische Partei gegangen ist, sie, die heute noch nicht weiß, wie man ihr das Fell gegerbt hat, noch in der tiefsten Niederlage stolz auf eine Charakterlosigkeit, die sie Taktik getauft hat – der Weg ist glatt, bequem, verlockend. Der Reichsbanner sollte ihn nicht auch noch gehen.
Der Kalender aber ist ein Zeugnis und ein Dokument. Ein Zeugnis für eine Partei, die trotz der allerelendesten Führung eine immanente Kraft besitzen muß, größer als die Sturheit ihrer Bezirksfeldwebel. Ein Dokument unsrer Zeit – unsrer Kämpfe, dessen, was uns angeht.
Haben das die andern nicht –? Doch. Warum wirkts da nicht –? Weil es so aussieht:
„Das Jahrbuch Kinderland, der bekannte und beliebte Kalender für die Buben und Mädels des Proletariats, ist für das Jahr 1926 erschienen. Text und Bild, von denen unsre Streubilder eine Probe geben, fesseln und agitieren in dezenter Weise für die sozialistische Ideenwelt.“ 1789 –? Moskau –? Viel zu indezent!
Die Vollbärte, die da noch aus der friedrichshagener Zeit Wilhelm Bölsches übrig geblieben sind und zu ihrem wenigen nichts dazu gelernt haben – sie lähmen die Sozialdemokratische Partei, sie stecken die Jungen an, und vierzigjährige Redakteure und Funktionäre sind an Verkalktheit und Parteitrott kaum noch von den Hundertdreißigjährigen zu unterscheiden. Man hat sie aus allen Stellungen herausgeworfen; wird schon mal einer Landrat, dann verwaltet er, wie Ebert, sein Amt ‚selbstverständlich nicht nach parteipolitischen Grundsätzen’, worauf man sich zu fragen hat, weshalb er denn eigentlich die Macht erstrebt, wenn er sie doch nicht anzuwenden gewillt ist; vor Gericht werden sie behandelt wie die Stiefelputzer; die Reichswehr geht mit den sächsischen und thüringischen Genossen um, wie eben die Reichswehr mit Sozialdemokraten umgeht; sie taumeln von Niederlage zu Niederlage, nichts erreicht, nichts gewonnen, alles verloren … Aber dezent.
Man berufe eine Redaktionskonferenz von Durchschnittsrepublikanern, von kindlich ehrgeizigen Kongreß-Pazifisten, von sozialdemokratischen Partei-Redakteuren (Ausnahme: Frankfurt am Main, Leipzig und noch ein paar Orte) – und lege diesem Gremium diesen Kalender vor: jedes Mitglied würde drei Stunden über jedes Blatt sprechen und haarscharf beweisen, warum ‚das nicht geht’. Hier ist es gegangen.
Wer einen solchen Abreißkalender herausgeben kann, so frisch, so neu, so spritzig-jung, so kämpferischen Geistes und der Unbedenklichkeit voll – der zeigt, dass er lebt.
Wenn die KPD nun noch Führer hätte, dann könnte jeder Tag von den 365 ein Gedenktag fürs nächste Jahr werden.

Die Weltbühne, Nr. 50 / 1925

 

Die Revolution des Vierten Standes

von Robert Breuer

In der unsterblichen Rede, durch die Ferdinand Lassalle am 12. April 1862 der Arbeiterschaft das Programm der Revolu­tion gibt, zitiert er zur Kennzeichnung des Verfalls der Feudal­herrschaft den köstlichen Brief der Herzogin von Orleans vom 29. November 1719, wie sechs der vornehmsten Damen, die bei dem Händler Law um Aktien (achtfachen Nominalwertes) peti­tionierten, von dem bürgerlichen Plebejer aber damit abge­fertigt werden, daß er, wenn man ihn nicht ließe, platzen müsse, keineswegs verzichten: „Eh bien, monsieur, pissez, pourvu que vous nous écoutiez“. Lassalle will durch diese glorreiche Epi­sode beweisen, daß die Revolution von 1789 schon 1719 ent­schieden gewesen ist: „Die Revolution war bereits in dem Innern der Gesellschaft, in den tatsächlichen Verhältnissen derselben eingetreten, lange ehe sie in Frankreich ausbrach, und es war nur noch erforder­lich, diesen Umschwung auch zur äußern Anerkennung zu bringen, ihm rechtliche Sanktionen zu geben. Dies ist über­haupt bei allen Revolutionen der Fall! Man kann nie eine Re­volution machen; man kann immer nur einer Revolution, die schon in den tatsächlichen Verhältnissen einer Gesellschaft ein­getreten ist, auch äußere rechtliche Anerkennung und konse­quente Durchführung geben.“
So fundamentale Erkenntnis vom Wesen und vom Gesetz der Revolution scheint den Kritikern des 9. November 1918 unbekannt zu sein. Es gab an diesem 9. November kaum tat­sächliche Verhältnisse, die zu äußerer Anerkennung zu bringen waren, oder denen rechtliche Sanktionen gegeben werden konnten. Weil am 9. November 1918 eine Revolution, wie Lassalle sie versteht, als logisches Ergebnis des technischen und wirtschaftlichen Prozesses, als treibendes Lebensprinzip der sittlichen Entwicklung und als eingeborene Notwendigkeit zum Fortbestehen der Kultur nicht stattfinden konnte, hat tat­sächlich auch keine stattgefunden. Wer das begreift, wird den Männern des 9. November nicht vorwerfen, daß sie nichts er­reicht haben, was nicht zu erreichen war.
Zu Denen, die vom 9. November mehr erwartet haben und nun unzufrieden sind, gehört, wie hinreichend bekannt ist, Ignaz Wrobel. In Nummer 50 der ,Weltbühne‘ hat er wieder einmal seinem Unmut den Lauf gelassen: „Ebert, ein mittelbegabter Funktionär, der ab Montag, den 9. November, Angst vor dem Bolschewismus hatte, immer nur nach rechts sah, die Pest des Militarismus wieder organisierte, ein Verräter an c!en Arbeitern und an der Idee der Revolution. Es waren die Arbeiter, die Ebert zum Vorsitzenden gemacht hatten, die Arbeiter, die reinen Tisch haben wollten. Diesen Willen hat Ebert verfälscht, aufgefangen und abgeleitet. Er ist schuldig. Schuldig an den Arbeitermorden, an dieser Recht­sprechung, an dieser Republik, an der Charakterlosigkeit der Sozialdemokratie.“
Interessant, daß die große französische Revolution, deren Guillotinen es an Energie nicht gefehlt hat, sich .ganz ähnliche Kritik gefallen lassen mußte. So schrieb Filippo Buonaroti: „Die Erfahrungen der französischen Revolution und nament­lich die Uneinigkeit und Verfehlungen des Konvents zeigten zur Genüge, daß ein Volk, dessen Ansichten sich unter der Herrschaft von Ungleichheit und Despotismus gebildet haben, wenig geeignet ist, bei einer revolutionären Neugestaltung durch seine Abstimmung die Männer zu wählen, die beauftragt sind, die Revolution zu leiten und zu vollenden. Diese schwie­rige Aufgabe kann nur weisen und mutigen Männern anver­traut werden, die, ganz von Vaterlands- und Menschheitsliebe ergriffen, lange nach den Ursachen der allgemeinen Übel geforscht, sich von den Vorurteilen und allgemeinen Lastern freigemacht haben, an Wissen ihren Zeitgenossen voraus sind und in Verachtung des Goldes und der gemeinen Ehrenbezeu­gungen ihr Glück darin suchen, der Gleichheit den Sieg zu ver­schaffen. Vielleicht müßte man bei Beginn einer politischen Revolution, grade aus Achtung vor der wirklichen Demokratie, weniger auf Wahlzettel sehen als darauf, die oberste Gewalt in weise und starke revolutionäre Hände zu legen.“
Buonaroti, der offenbar auf eine Diktatur zielt, war der geistige Vater Babeufs, dessen Verschwörung die Revolution weitertreiben und proletarisieren sollte, stattdessen aber – welche Vorahnung des Weges von Karl Liebknecht zu Seeckt und Geßler! – dem General Bonaparte zum ersten großen innenpolitischen Erfolg verhalf.
Noch heftiger als Buonaroti rannte der Abbe Jacques Roux gegen die Versandung der Revolution: „Es sind die Bourgeois, die sich seit vier Jahren an der Re­volution bereichern; schlimmer als der grundherrliche Adel ist der neue Handelsadel, der uns erdrückt, denn die Preise stei­gen und steigen, ohne daß man ein Ende absehen könnte.“
Und grundsätzlich und wiederum wie eine grimme Fata Morgana der Cuno-Wallraf-Schiele-Republik: „Die Freiheit ist nur ein Phantom, wenn eine Klasse im­stande ist, die andre auszuhungern, wenn der Reiche durch sein Monopol das Recht auf Leben und Tod der Armen hat. Die Republik ist nur ein Phantom, wenn die Gegenrevolution sich auswirkt in der fortgesetzt wachsenden Steigerung der Lebensmittelpreise.“
So herbe, fast verzweifelte Unzufriedenheit entrang sich den französischen Sozialrevolutionären, im Zeichen der Ver­fassung von 1793, die abermals das Privateigentum für unver­letzlich erklärte, die aber gegenüber der Verfassung von 1791 ein bedeutender Fortschritt war, ein Fortschritt freilich, der kaum Dauer haben konnte, weil er komödienhaft zugestanden worden war. Robespierre, zwischen der Reaktion der Kriegs­gewinnler, der Bodenspekulanten, der Valutaspekulanten, der Nahrungsmittelfälscher, der Lebensmittelwucherer und dem Hungerradikalismus des Proletariats vermittelnd, erschlich eine Formel, die Luthers Kornzoll- und Preissenkungspolitik ebenbürtig ist: „Eigentum ist das Recht eines jeden Bürgers auf den Genuß desjenigen Teils der Güter, den das Gesetz ihm sichert.“
Nicht von ungefähr erinnert das kommunistisch kandierte Raffketum an die kalmierenden Plakate von 1919: Die Sozia­lisierung marschiert — die Sozialisierung ist da.
Die Verfassung von 1793 trat nie in Kraft. Der morali­sierende Spießbürgerterror Robespierres, den materialistischen Instinkt des Proletariats und den Idealismus der Intellektuellen gleichermaßen treffend und vernichtend, setzte wie eine betäu­bende, alle Klarheit verfinsternde Lawine ein. Der Ausgang; der Aufstieg der Gegenrevolution, die antidemokratische Ver­fassung von 1795 und Napoleon. Es war eben auch der großen französischen Revolution nicht möglich, über ihre Voraus­setzungen hinauszukommen; auch sie mußte sich damit begnü­gen, den im Innern der Gesellschaft bereits tatsächlichen Ver­hältnissen die äußere Anerkennung und die rechtliche Sank­tion zu geben. Diese tatsächlichen Verhältnisse erschöpften sich in der Überwindung des Feudalismus durch die Bourgeoisie, des Agrarkapitals durch das Merkantilkapital, des Absolutis­mus durch das Klassenwahlrecht. Am 18. März 1793 beschloß der Konvent die Todesstrafe gegen alle Agitation, die den Zweck verfolgt, die Eigentumseinrichtungen umzustürzen. Die Verfassung von 1791 teilte die Franzosen ein in aktive Bürger, passive Bürger und Lohnempfänger; nur die erste Klasse war eigentlich wahlberechtigt. Wenige Tage nach dem Bastille­sturm wurde jegliche journalistische Tätigkeit verboten den Leuten ,,sans existence connue“. Die eigentliche revolutionie­rende Macht waren: die Arbeitsteilung, der Weltverkehr, die Verbilligung der Rohstoffe, die Maschine; das eigentliche Ziel, der eigentliche Ertrag der Revolution war der Herrschafts­antritt der Bourgeoisie, die die Maschinen erfinden, kaufen, auf­stellen und für Massenabsatz arbeiten ließ. Eine Herrschaft, die eine zu beherrschende Arbeitnehmerschaft voraussetzte: den vierten Stand. Dieser vierte Stand war nicht Träger der Produktion, sondern deren Instrument; darum war die Revolu­tion von 1789 nicht die Revolution des Proletariats, vielmehr die seiner neuen Herren.
Von diesem vierten Stand und dessen Revolution spricht nun Ferdinand Lassalle im Jahre 1862; er verkündet ihm die Stunde seiner Befreiung. Mehr als fünfzig Jahre später aber hat dieses Proletariat noch nicht genug Tatsächliches aufzu­weisen, um durch dessen äußere Anerkennung und rechtliche Sanktion eine neue Revolution, die proletarische, zu vollenden, das heißt: sichtbar zu machen. Darum konnte der 9. November 1918 keine neue Welt erstehen lassen, darum mußte er sich damit begnügen, einige Einzelheiten erkennbar werden zu lassen. Faktoren, die tatsächlich keine Macht mehr waren, verschwanden; Kräfte, die seit langem wirkten, wurden aner­kannt. Hier sind zu nennen: der Zusammenbrach der Mo­narchie und die Stabilisierung des demokratischen Parlamen­tarismus. Hier muß notwendig vermißt werden: die Umschich­tung der Herrschaft, der Wirtschaftsführung und der Produk­tionsleitung von dien Ausbeutern zu den Ausgebeuteten, von den Besitzern der Produktionsmittel zu deren Sklaven, vom Kapital zum Proletariat. Die vermeintlich so radikalen Kritiker des 9. November glauben tadeln zu sollen, daß Ebert einen Zylinder trug, die Richter der Republik schwarz-weiß­rotes Recht sprechen, die Reichswehr auf die Traditionskom­pagnie schwört. Diese vermeintlich radikalen Kritiker ver­gessen, daß das Alles belanglos ist, gemessen an der erschüt­ternden, die Entwicklung bestimmenden Wirklichkeit: es gab am 9. November keine tatsächlich neuen Verhältnisse im Innern der Gesellschaft, deren äußere Anerkennung und recht­liche Sanktionierung möglich gewesen wäre. Die französische Revolution enthüllte die Herrschaft des Bürgers, der schon seit langem die gesamte Produktion und Kultur leistete. Der 9, No­vember hatte für den vierten Stand Derartiges nicht zu ent­hüllen, weil — alle Emanzipation des Proletariats und dessen Organisationen anerkannt—das Proletariat nicht, wie 1789 die Bourgeoisie, den Staat, die Wirtschaft und die Kultur bereits darstellte. Wer das voll erfaßt, wird es nicht paradox, viel­mehr Konsequenz materialistischer Geschichtsauffassung nennen, wenn behauptet wird, daß der 9. November keine andre Wirkung gehabt hätte, wäre statt Liebknecht Ebert erschossen worden, wären statt Noske Ledebour und statt Scheidemann Rosa Luxemburg an entscheidende Plätze gekommen. Im Gegen­teil: wäre das geschehen, so wäre der Rückschlag noch viel empfindlicher gewesen. Der rote Oberbau wäre in kürzester Zeit zusammengebrochen, weil ihm das tatsächliche Fundament gefehlt hätte: die Fähigkeit des Proletariats, Produktion und Wirtschaft zu führen.
Das große Verdienst Eberts und seiner Leute ist: dieses Nichtvorhandensein tatsächlicher, die Herrschaft des vierten Standes garantierender Verhältnisse erkannt und so ein Ex­periment vermieden zu haben, das nur mit einem bittern Ver­sagen enden konnte. Es ist bourgeoise Romantik, anzunehmen, daß der Staat regiert, ja gebildet werden könnte von einer Arbeiterschaft, die zwar mit Stolz sagen darf: Alle Räder stehen still, wenn wir es wollen – die aber kaum Antwort geben kann auf die Frage: Wieviel Räder bewegen sich durch unsern star­ken Arm, ohne daß die Bourgeoisie sie zuvor erfunden und ihnen Aufgaben diktiert hätte? Die Revolution des Bürgertums von 1789 siegte, weil die Übersetzung, die Lassalle dem be­rühmten Wort des Abbes Sieyès gibt, zutraf: „Was ist der dritte Stand taktisch, tatsächlich? Alles. Was aber ist er rechtlich? Nichts.“
Am 9. November hätte solche Frage für den vierten Stand nicht eindeutig beantwortet werden – sie hätte kaum gestellt werden können. Die Stunde der Revolution ist für den vierten Stand noch nicht gekommen: darum konnte sie am 9. November 1918 auch nicht zum Schlage anheben. Darum sind auch Die nicht zu tadeln, die als Führer der Arbeiter wilde Grimassen unterließen, die nicht vortäuschen wollten, was nicht war, die vielmehr in nüchterner Einsicht dem Proletariat so viel Ein­fluß zu sichern versuchten, wie es sich bereits erworben hatte, und wie es Einfluß auszuüben vermochte.
Der Kampf um die Monarchie und alles Das, was damit zusammenhängt, ist nur noch eine Farce oder eine Attrappe; der Kampf um. die Kapitalsrente, um den Mehrwert, um den Herrn im Hause ist erst im Aufmarsch. Der 9. November konnte keine Entscheidung bringen und hätte sie auch nicht gebracht, wenn Ludendorff und seine Trabanten geköpft, die finstern Richter entlassen und in die Reichswehr nur Arbeiter eingestellt worden wären.

Die Weltbühne, 52 / 1925