von Eckhard Mieder
Am Main wächst derzeit ein Gebäude, das mich fasziniert und immer wieder anzieht. Es ist ein Hochhaus-Double, das eines Tages durch ein gläsernes Atrium verbunden sein wird. Sehenswert, und ahnenswert schon heute, ist, wie die zwischen 1926 bis 1928 nach Plänen des Architekten Martin Elsässer gebaute Großmarkthalle einbezogen wird. Unter anderem ihretwegen, inzwischen denkmalsgeschützt, stand der Bau des neuen Hauptsitzes der Europäischen Zentralbank jahrelang auf der Kippe.
So morbide wie die Halle war, konnte sie nicht bleiben. Gänzlich aus der Stadt getilgt werden sollte sie aber auch nicht. Es hieße denn, das Angriffswerk amerikanischer Bomber des Jahres 1944 und das Angriffswerk der Stadtbauer des Nachkriegs und der Wirtschaftswunderjahre zu vollenden.
Jeden dritten, vierten Monat fahre ich seit Jahr und Tag ins Frankfurter Ostend und überquere auf der Deutschherrnbrücke den Main. Ich bleibe etwa auf der Mitte stehen. Hinterm Rücken rauschen Züge vorüber und lassen die Stahlkonstruktion der Brücke und mich schwingen.
Ich betrachte das Gelände, auf dem die Europäische Zentralbank für geplante 500 Millionen Euro bauen lässt, und mache ein paar Fotos. Die Skyline, der Main, die Ufer-Bebauung – diese Motive gehören zu den meist abgebildeten Sujets, die Frankfurt den Touristen, Knipsern aller Qualifikationen und Kameraleuten bietet.
Das Internet ist voller Bilder. Frankfurts Hochhäuser sind ein Hit, die Skyline ist quasi romantisch. Wenn ich mich auf der A 5 der Stadt nähere und mal wieder – daran wird sich nach den nächsten Krisen, Revolutionen oder Attentaten nichts ändern – rechts der Taunus mit dem Großen Feldberg erscheint, dann fühle ich ein Hingezogensein, das ich in den ersten Jahren meines Frankfurter Lebens nicht für möglich gehalten hätte.
Natürlich ist das Kitsch. Das ist ebensolcher Kitsch wie die Fotos vom Main, von den Hochhäusern in der City im Abendlicht. Aber es ist der Kitsch der Realität. Wat willste dajejen machen? „In aller Freundschaft“ kieken? Na Hülfe!
Von der Brücke aus gesehen, verdecken mittlerweile die beiden kontinuierlich wachsenden Türme weite Teile der einstigen „Gemüsekirche“. Die sich ihrerseits gefallen lassen musste, teilweise zerstört zu werden, um zu überleben.
Es hatte, bevor die Stadt Frankfurt am 1. Januar 2005 das Areal der Großmarkthalle endgültig und offiziell der Europäischen Zentralbank übergab (gekauft hatte sie das Großmarkt-Gelände drei Jahre zuvor), einigen Hickhack gegeben. Wie geschützt müssen/dürfen/sollen denkmalsgeschützte Bauten bleiben? Gab es ein Urheberrecht des Architekten Elsässers, auf das einige seiner Nachfahren pochten, ein Recht, das erst 70 Jahre nach dem Tode Martin Elsässers erloschen wäre – im Jahre 2027? War und ist es nicht eine Chance für die Bankenstadt, ein einigermaßen braches Gelände zu beleben und eine Bank zu binden, die sonst, wer weiß, ihren neuen Hauptsitz in Paris, London oder Moskau eingerichtet hätte?
Der Sieger des international ausgeschriebenen Architekturwettbewerbs, das Wiener Büro Coop Himmelb(l)au, ging immerhin schonend mit der Halle um. Ein Riegel schiebt sich durch die Halle. Sie wird der Haupteingang des Bankgebäudes sein und Räume für Besucher, Pressekonferenzen, Kantine, Konferenzen, Bibliothek haben.
Als ich das letzte Mal auf der Deutscherrnbrücke stand und dem Bauen zuschaute, dachte ich darüber nach, ob Architekten über eine besondere Phantasie verfügen. Ein Haus zu planen, den Stadtteil, gar die Stadt mit zu sehen, in dem es stehen wird, eine Gestalt zu finden, die nicht fremd, aber auch nicht beliebig wirkt, das Alte einzubeziehen, ohne das Neue unter den Scheffel einer artifiziell-avantgardistischen Ambition zu stellen.
Das Material eines Architekten könnte, dachte ich da auf der Brücke, eben zog ein Lastkahn Richtung Offenbach durch, vielleicht das sein, was einem Kinde die Knete ist. Eines studierten, handwerklich versierten und hoffentlich zur Empathie gebildet-befähigten Kindes; gibt es das?
Ich hatte mir vor Jahren im Architekturmuseum die Modelle angeschaut, die für den Wettbewerb eingereicht wurden. Es waren welche darunter, die mir den Atem nahmen. Weltraumbahnhöfe am Main. Miteinander verflochtene Ellipsen. Wellenförmige Bauten, keine Hochhäuser, ein erstarrtes Stück Meer. Glasumhüllte, auf hohen Betonbeinen stehender Raum über der Großmarkthalle. Drei Hochhäuser, die aussehen wie die papiernen Stehlampen von IKEA. Oder die fünf fingerartigen schlanken und runden Türme, die mit einem Glasseilnetz überzogen werden und im Modell aussahen wie die Saugnäpfe eines Tintenfischs. Rundes, Eckiges, Gestapeltes, Transparentes, Organisches, Fließendes, Festungsähnliches, Kubisches … Die Wiener von Coop Himmlb(l)au machten das Rennen. Ich erinnere mich mit dem Vergnügen des Misanthropen an die Süffisanz des Professors Wolf D. Prix, als er nach der Preisverleihung an seinem Modell stand und die Urkunde den Fotografen und den Kameraleuten entgegenstreckte und schmähte: „So habt’s doch gerne, oder?“ Dem Sieger wird selbst die Bosheit zu Charme.
Jedes Mal, wenn ich mir die Baustelle anschaue, versinke ich in einem Gefühle-Matsch. Er setzt sich aus Erleichterung und Beruhigung zusammen, aus Furcht und Irritation, aus Genuss und Bedrängnis. Es ist das Konstruktive, das unbeirrt wächst und ein Stadtbild verändert, als drohte keine Gefahr. Es hat 9/11 nie gegeben.
Da ist auch das Kapriziöse. Hier stehen wir, wir können nicht anders. Die Kaprice verweigert sich der Katastrophe. Das ist keine Wort-Laune. Das ist eine Unruhe, die auch zu dem Gefühle-Matsch gehört. Was ist das, was da entsteht? Ein eigenwilliges Bank-Haus, auf dem mit Neon-Buchstaben stehen könnte Trotz alledem? Oder Wir kennen keine Krise, wir können nur Geld?
Da es ringsum wankt und zittert und bibbert und wabert – wie wenn die Waggons in meinem Rücken über die Deutschherrnbrücke donnern? – wächst da ein Gebäude. Was Konstruktives. Das entweder mit einer Katastrophe nicht rechnet oder Bestandteil der Katastrophe ist.
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Europäische Zentralbank, Frankfurt am Main, Martin Elsässer