von Günter Hayn
Wer die Erfurter Messehallen verlässt und in Richtung Stadtzentrum will und nicht über einen PKW verfügt, muss mit der Straßenbahnlinie 2 fahren. Eine sehr zuverlässige Angelegenheit – wenn da nicht eine zweispurige Straße zwischen Messe und der Tram-Haltestelle läge, deren Überquerung auch noch ampelgeregelt ist. Für etliche Delegierte des jüngsten Linkspartei-Parteitages – genauer: der 2. Tagung des 2. Parteitages, soviel Ordnung muss sein! – wurde genau dies zum Problem. Kein Auto nirgends, aber thüringische Landespolizei auf der anderen Straßenseite, die nur darauf lauerte, dass sich diese Roten ordnungswidrig verhalten würden… Sie verhielten sich ordnungswidrig. Als wenige Stunden zuvor eine Handvoll Nazis versuchte herumzupöbeln, war bemerkenswerterweise kein Polizist zu sehen. Deutlicher hätte man den vereinigten Linken nicht zeigen können, wie sehr sie im grünen Herzen Deutschlands erwünscht sind.
Nur war bei vielen Delegierten Euphorie angesagt, da übersieht man leicht auf Revanche wegen was auch immer lauernde Polizisten. Auch die Tatsache, dass sich am selben Wochenende gegen einen Nazi-Aufmarsch in Erfurt nur 400 Menschen stemmten – bedeutend weniger als Linke im Tagungssaal zugange waren, irritierte niemanden. Parteioffiziell gibt es sowieso seit Erfurt weder Nazis noch Faschisten. Mehrheitlich sind das nur noch „Neos“, klingt irgendwie harmloser. Rechtsextremismus gibt es im Linksdeutsch auch nicht mehr. Wurde im Programm gestrichen, dann gäbe es nämlich auch Linksextremismus – und wenn es den gäbe, dann könnte man ja selber in den Verdacht geraten… Aber das haken wir einmal unter Randerscheinung ab. Ebenso die zunehmend peinlicher werdenden Versuche, eine Bewegung, die nichts, aber auch gar nichts mit Parteien zu tun haben will, die „Occupy-Bewegung“, für sich zu vereinnahmen. Einige schwärmerische Delegierte wollten gar, dass die Linke die „Internationale der Empörten für eröffnet“ erkläre. Aber es wäre unfair, über Menschen zu spotten, die voller Sehnsucht auf das Aufbrechen der Verkrustungen dieser siechen Gesellschaft warten.
Anders muss man allerdings mit dem Linken-Parteivorstand umgehen. Der hat kein Recht auf Naivität und Plattheiten. Aber davon strotzt eine Resolution nur so, die dieser am Vortage des Parteitages in die Welt setzte: „’Occupy’ – Profiteure der Krise zur Kasse!“ nennt sich das Ding. Gott sei Dank wurde es von niemandem zitiert, allein ein falsch gesetzter Bindestrich würde das angestrebte Bündnis mit dem „Widerstand gegen die Finanzmafia“ arg beschädigen. Immerhin fordert der Linken-Vorstand „die Verantwortlichen auf, weitere Protestaktionen wie das Zelten vor Banken und Parlamenten nicht zu verhindern.“ Das erinnert irgendwie an Erich Mühsams Lampenputzer und passt durchaus zur Einordnung der Partei auf „die mehr linke Seite des politischen Spektrums“, wie sie der thüringische Landesvorsitzende Knut Korschewsky in seiner Eröffnungsrede vornahm.
Was das nun ist, die „mehr linke Seite“, bleibt abzuwarten. Immerhin meinte die Vorsitzende Gesine Lötzsch, die Linke sei die Partei, „die die Empörung der Mehrheit in ihr Programm“ aufnähme. Wenn sie dann noch ehrlicherweise eingeräumt hätte, dass sie auch die Vorsitzende eines Kreisverbandes ist, der gerade eine respektable Wahlniederlage eingefahren hat, wäre ihre Rede weniger übertrieben pathetisch ausgefallen. Empörung war in Berlin-Lichtenberg schon, aber eher gegen die Linke…
Egal: „Wir haben uns hier zusammengefunden, um Geschichte zu schreiben“, so die Vorsitzende. Aber zunächst schrieb man ein Programm. Im Vorfeld der Tagung gab es mehrere Entwürfe. Die Mit-Verfasserin eines solchen, der aus Gründen einer gewissen Oskar-Lafontaine-Resistenz entstand, Halina Wawzyniak (stellvertretende Parteivorsitzende, MdB aus Berlin) war am Ende so verärgert, dass sie sich bei der Schlussabstimmung der Stimme enthielt. Wawzyniak steht dem Forum Demokratischer Sozialismus (FDS) nahe, eine der maßgebenden „Strömungen“ der Partei. Manche sprechen vom rechten Flügel, was die FDSler empört von sich weisen. „Regierungssozialisten“ wäre richtiger. Sie sind auch nur einer von insgesamt 40 neben den Regionalstrukturen der Partei arbeitenden „Zusammenhängen“, von denen die meisten allerdings auf einer fachlichen Basis arbeiten. Das FDS und sein wichtigster Widerpart, die Sozialistische Linke (SL) – ein eher gewerkschaftsorientierter Zusammenschluss – dominierten denn auch im Vorfeld die Programmdebatte, in deren Verlauf sich der Programmentwurf des Parteivorstandes, der so genannte „Leitantrag“ herauskristallisierte. Dem wurden etwa 1.400 Änderungsanträge teilweise auch von anderen „Strömungen“ entgegengesetzt, was zu Beginn der Beratungen bei manch Delegierten zu erheblichen Irritationen führte.
Die Vorstandsstrategen wussten zu helfen. Man begann die Verhandlungen mit einer „szenischen Lesung“ aus dem „Erfurter Programm“ der SPD des Kaiserreiches – das justament am 20. Oktober 1891 angenommen worden war. Die Traditionslinie war damit klar. Die Aufnahme eines „Willy-Brandt-Corps“ als Vorschlagsalternative zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr war dann nur noch das Sahnehäubchen auf die Provokationsrituale der großen alten Schwester gegenüber. Auch durch andere nette kleine Verzögerungen wurde schon am ersten Verhandlungstag klar, dass der Zeitplan nicht einzuhalten sei. Eine Katastrophe deutete sich an. „Lasst uns dieses Programm beschließen, dann haben wir eine Arbeitsgrundlage, von der aus alles nur noch besser werden kann“, beschwor auf gut lutherische Weise die aus Luther-Land stammende Rosemarie Hein (MdB, ehemalige Landesvorsitzende der PDS in Sachsen-Anhalt – auch FDSnah) die ihr Mandat, also die Anträge, ernst nehmen wollenden Delegierten. „Wir wollen nicht zuspitzen“, erklärte auch die Genossin Wawzyniak und Wolfgang Gehrcke – ansonsten ein zutiefst raufwütiger Geselle, einer der Wortführer der SL – sekundierte in einem anderen Zusammenhang: „Kompromisse, die man geschlossen hat, muss man durchhalten!“ Vertrauen verspiele man nicht.
Da wurde das Problem deutlich: Im Vorfeld des Parteitages gab es offenbar einen „Programmkompromiss“ zwischen den Strömungshäuptlingen und den Wortführern des Parteivorstandes, was denn an Änderungsanträgen zum Programmentwurf akzeptabel sei und was nicht. Was dann folgte war einer der merkwürdigsten Beschlüsse, die ein Parteitag der deutschen Linken jemals gefasst hat: Man beschloss, sich mit Änderungsanträgen nur zu befassen, wenn dies ausdrücklich mehrheitlich beschlossen werde, diese also de facto in die Tonne zu werfen. Das Programm wurde „durchgestimmt“. Die „zentralen Kompromisse des Parteivorstandes“ – der Begriff fiel – wurden in keinster Weise in Frage gestellt. Die auch nur noch verbalradikale Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, erklärte in kämpferischem Gestus „Wir sind keine Kungelpolitiker.“ Natürlich nicht. Eventuellen Zweiflern an der politischen Belastbarkeit manch schwammiger Aussage nahm der saarländische Fraktionsvorsitzende Oskar Lafontaine den Wind aus den Segeln. „Ich heiße Oskar Lafontaine … Ihr könnt Euch auf mich völlig verlassen. Stimmt zu.“ Ein den inneren Zustand der Partei geradezu auf klassische Weise charakterisierender Satz.
Man folgte ihm auch. Mit einem kleinen Ausrutscher: Drogenpolitisch wollte man besonders taff sein und ließ eine problematische Formulierung zur völligen Freigabe harter Drogen passieren. Frischfutter für die Medien, deren Vertreter sich wie der Blättchen-Korrespondent ansonsten ziemlich langweilten. Nach der Endabstimmung wurde diese Passage noch einmal korrigiert, was einen spottlustigen Berliner Delegierten zu der Bemerkung verführte, man sollte das Programm doch künftig gleich von der Tagesschau-Redaktion schreiben lassen… Zumindest ist diese kleine Anekdote ein weiterer Beleg dafür, wie unsicher die Partei im Umgang mit ihren eigenen Thesen ist, wenn sich diese abseits des politischen Mainstreams befinden.
Aber wie auch immer: Vier Jahre nach Parteigründung hatte man in Erfurt etwas vollbracht, was niemand mehr so richtig für möglich hielt. Der Parteitag verabschiedete mit 96,9 Prozent aller abgegebenen Stimmen einen vierzigseitigen Programmentwurf, der nun der Mitgliedschaft zur schlussendlichen Bestätigung vorgelegt werden wird. Dieses Papier ist ob seiner Unentschiedenheiten künftig mit großer Gewissheit mehr als umstritten, aber es könnte eine Grundlage sein, auf der die Linke wieder zur Sacharbeit zurückkehrte. Das wäre bitter nötig und könnte auch gelingen. Wenn sie sich endlich von ihrem offenbar in jahrelangen Grabenkämpfen verschlissenen Führungspersonal verabschieden würde. Noch am Abend des letzten Beratungstages grub dieses seine schartigen Kriegsbeile aus und seitdem bestimmen wieder Personalfragen die Debatte. Diese Führung – einschließlich ihrer beiden Überväter – bringt nicht die Lösung der Probleme der Linken. Sie ist das Problem. Da helfen auch die besten Programme nichts.
Schlagwörter: Bundesparteitag, Die Linke, Erfurter Programm, Günter Hayn, Oskar Lafontaine, Strömungen