von Thomas Ruttig
Soraya Sobhrang kann man nicht vorwerfen, dass sie zur Gilde der Schwarzmaler zählt. Kein Wunder: Die Ärztin, die 2006 beinahe Afghanistans Frauenministerin geworden wäre, hätte die konservative Mehrheit im Kabuler Parlament dies nicht verhindert, kann sich nicht erlauben, ihr Land aufzugeben. Seit ihrer Rückkehr aus mehrjährigem Exil während der Taliban-Herrschaft, darunter drei Jahre lang in Deutschland, hat sie sich an prominenter Stelle – und das heißt in Afghanistan auch immer unter Lebensgefahr – engagiert. Vier Jahre lang war sie Vizeministerin für Frauenfragen, dann wechselte sie in die Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) des Landes.
„Seit dem Sturz der Taliban hat sich die Lage völlig verändert“, sagte die Menschenrechtlerin in ihrem Büro im Westen Kabuls. „Wir haben viel erreicht, davor kann man nicht die Augen verschließen: unsere Verfassung, das Wachstum der Zivilgesellschaft, die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, die Entwicklung des privaten Sektors, die Wiedereröffnung der Schulen und Universitäten. Es gibt sogar Beispiele für positive Diskriminierung, um die Rolle der Frauen zu stärken. Wir haben ein gesetzliches Verbot von Gewalt gegen Frauen durchgesetzt. Es gibt Frauenhäuser. Verfassungsartikel 22 besagt, dass Mann und Frau vor dem Gesetz gleich sind. Aber wir sind nicht damit zufrieden, dass es im Vergleich zu früher zwar viel besser geworden, aber es noch lange nicht so ist, wie es sein sollte.“ Das ist differenzierter als das Käsmann’sche Diktum, nichts sei gut in Afghanistan.
Diese Differenzierung ist es auch, der Sobhrangs Bilanz von den Reden vieler Politiker und Diplomaten unterscheidet, die sich und ihre Wähler davon zu überzeugen versuchen, dass die zehn Jahre Afghanistan-Intervention zwar schwierig, aber letztlich erfolgreich waren. Damit wollen sie den für 2014 angekündigten Rückzug des Westens rechtfertigen.
Aber deren Art von Erfolgsbilanz ist oberflächlich: Fast acht Millionen Kinder gehen zur Schule. 90 Prozent des Landes haben eine Gesundheitsversorgung. Es herrsche eine in der Region beispiellose Pressefreiheit.
Stimmt: 2,4 Millionen Mädchen besuchen heute eine Schule, 480 Mal mehr als unter den Taliban. Aber das sind weit weniger als Jungen, und 22 Prozent der Mädchen gelten laut Oxfam als „permanent abwesend“. „Es wird nicht gesagt, wie viele Kinder nicht zur Schule gehen“, kommentiert Sobhrang. „Und wie viele Kinder beenden die Schule denn? Die meisten schaffen es nur bis zur vierten Klasse.“
Schüler müssen ihre Lehrer schmieren, um durch Prüfungen zu kommen, Studenten Kommissionen, um zur Universität zugelassen zu werden. Viele Lehrer haben Zweitjobs, weil ihre Familien nicht vom mageren Monatsgehalt von umgerechnet 120 Dollar leben können, und fehlen während des Unterrichts. Erst Ende 2009 wurde auf Bezahlung nach Leistung umgestellt – Topgehalt: 428 Dollar.
Die Hälfte der 12.000 afghanischen Schulen besitzt kein Gebäude. In den Dörfern wird nach wie vor oft unter Bäumen oder in provisorischen Zelten unterrichtet.
Auswendiglernen ist die Regel, kritisch zu fragen steht nicht im Lehrplan. Gute Bildung gibt es nur gegen Geld, an Privatschulen und der Amerikanischen Universität in Kabul, die mit ihren hohen Gehältern gute Lehrkräfte von den staatlichen Hochschulen abzieht. „Bildung bleibt nur für privilegierte Afghanen“, resümiert die junge Frauenaktivistin Noorjahan Akbar in ihrem Blog.
Nach der Schule oder Universität fehlt es an Jobs. Geld oder Beziehungen gehen vor Qualität. In gut ausgebildeten Absolventen sehen die Staatsbürokraten, die ihren Schreibtisch oft mit der Kalaschnikow errungen und ihren Jobanspruch mit der Teilnahme am Anti-Taliban-Kampf legitimieren, als Gefahr. Das kennt man auch aus den arabischen Ländern, wo dies zur Revolte beitrug. Aber einer ähnlichen Reaktion steht in Afghanistan – noch? – entgegen, dass es keinen klaren Feind gibt. Karsai ist nicht Mubarak, und die Warlords mal mit ihm, mal gegen ihn.
Nicht zuletzt hat die militärische Eskalation, ausgelöst durch Obamas Truppenverstärkung Anfang 2009, Fortschritte untergraben. Viele Familien verzichten darauf, ihre Kinder oder Frauen auf den oft langen Weg in die Schule oder die Klinik zu schicken. Und in den meisten Dorfkliniken fehlt es an Medikamenten sowie an Personal, das in der ständigen Gefahr zwischen Taliban und US-Soldaten leben will.
Und was die Pressefreiheit angeht: Einschüchterung von und Repressalien gegen Journalisten sind an der Tagesordnung. Zu Ministern avancierte Warlords schicken Reportern ihre Schläger ins Haus, wenn die Namen nennen, oder überziehen sie mit Prozessen wegen „Blasphemie“. Darauf steht die Todesstrafe, und wehren kann man sich kaum. Das Resultat sind weite politische Tabuzonen und Selbstzensur. Unter Karsai sind die Mullahs wieder zur letzten Instanz geworden.
Eine Ausnahme sind die vielen Phone-in-Programme, wo Afghanen aus dem ganzen Land unter dem Schutz von Anonymität Klartext reden. Aber mehr und mehr Zeitungen, Fernseh- und Radiosender gehören den Warlords selbst, die sie aus nicht legalen Zuschüssen interessierter Nachbarländer oder dem Drogenhandel finanzieren. Dort wird nur Parteilinie gesendet. Die unabhängigen Medien kämpfen währenddessen finanziell ums Überleben.
So spricht Soraya Sobhrang aus, was die Obamas, Ban Ki-Moons und Westerwelles dieser Welt nicht sagen, obwohl sie es wissen: Die neuen, besseren Gesetze, die die seit 2001 erreichten Fortschritte garantieren sollen, „stehen häufig nur auf dem Papier und werden nicht umgesetzt“.
Auch vieler der ursprünglichen Ziele der Afghanistan-Intervention wurden nicht erreicht. Es herrscht kein Frieden, sondern die Gewalt ist eskaliert. Der Kampf gegen al-Qaida hat die Taliban gestärkt, und es dauerte fast zehn Jahre, bis Bin Laden gefunden wurde.
Ein Großteil der internationalen Hilfsmilliarden versickert in korrupten Kanälen oder fließt zurück in die „Geber“länder. Das recht erhebliche Wirtschaftswachstum Afghanistans kam vorwiegend den Korruptionsgewinnlern zugute, die mit ihren Positionen in Regierung, Wirtschaft und bewaffneten Kräften inzwischen eine veritable Oligarchie bilden, die, weil unsicher im Sattel, gefährlich ist. Die Gewaltenteilung steht nur auf dem Papier. Währenddessen vertieft sich die soziale Kluft. Die Lebensumstände vieler Menschen – zumal auf dem Lande und an den Stadträndern – grenzen weiterhin an das Unzumutbare.
Afghanistans staatliche Institutionen sind politisch wie fiskalisch alles andere als nachhaltig und scheren sich meist einen Kehricht um Ahmad und Dschamila Normalverbraucher. Vor allem blockiert Karsai seit längerem bewusst Maßnahmen, die zur Überwindung einiger Probleme beitragen könnten.
Die norwegische Analystin Astri (ohne ‚d’!) Suhrke beschreibt Afghanistan nach dem ISAF-Abzug 2014 wie folgt: „schwache Institutionen und eine Menge bewaffneter Männer“. Und eine desorientierte Jugend, muss man hinzufügen. Knapp zwei Drittel aller Afghanen sind jünger als 25. Sie oszillieren sozial zwischen Internetkonnektivität, indischen Seifenopern und konservativ-islamischen, antiwestlichen Emotionen. Gefüttert wird dieser Mix vom zunehmend antiwestlichen Populismus Karsais sowie der Mullahs und Warlords in seiner Umgebung, die es gelernt haben, für alle Fehler den Westen allein verantwortlich zu machen.
Unter diesen Vorzeichen sind Karsais Behauptung auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu Anfang des Jahres, Afghanistan werde 2015 „ein funktionierender Staat sein“, und der zynisch-demonstrative Applaus des Westens dazu ein Skandal.
Fazit: Trotz gewisser Fortschritte und mit Ansage des Abzugs in 2014 muss eine Bilanz zehn Jahre nach Beginn der westlichen Intervention in Afghanistan negativ ausfallen.
Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Thomas Ruttig