14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Austerität als einzige Lösung?

von Heiner Flassbeck, Genf

Heute muss ich einen Brief an den deutschen Finanzminister schrei­ben, der in einer Stellungnahme zur europäischen Krise provokante The­sen vertreten hat:
Sehr geehrter Herr Schäuble, mit gro­ßem Interesse habe ich Ihre Stellung­nahme zur Überwindung der Eurokrise durch die Konsolidierung der Staats­haushalte in Europa in der Financial Ti­mes gelesen. Es hat dazu ja vor allem in englischsprachigen Zeitungen schon viel und heftige Kritik gegeben, die ich nicht wiederholen will. Ich weiß nicht, wer Sie beraten hat, aber ich möchte Ihnen doch noch einmal vor Augen führen, welche Ideen dahinter stehen, weil ich unsicher bin, ob der- oder diejenige Ihnen die Im­plikationen Ihrer Aussagen in ausrei­chender Offenheit erklärt hat.
Gegen die Warnung, staatliche Spar­diktate ließen den Einbruch der gesamt­wirtschaftlichen Nachfrage in ohnehin geschwächten Volkswirtschaften eskalie­ren, geben Sie zu bedenken, dass ein kurzfristiger Einbruch beim Konsum mittelfristig dadurch ausgeglichen wer­de, dass die Sparpolitik das Vertrauen von Investoren und Konsumenten erhöht und die Arbeitslosigkeit senkt. Sie bauen also darauf, dass die Wirtschaft in der mittleren Frist, auf einen stabilisieren­den Faktor zurückgreift, der nichts mit der desolaten Lage in Gegenwart und nächster Zukunft zu tun hat.
Was sollte das sein? Sie wissen genau wie ich, dass die mittlere Frist eine Fik­tion ist, die sich aus vielen kurzen Fris­ten zusammensetzt. Hätten beispiels­weise die Unternehmen tatsächlich ein relativ sicheres über die kurze Frist hin­ausgehendes Wissen, auf dessen Basis sie investierten, würden wir derzeit nicht die Schwankungen sehen, die wir Kon­junktur nennen. Das kann man leicht an dem nur sechs (!) Monate im Voraus die Geschäftserwartungen abfragenden ifo-Geschäftsklima-Index sehen, der wie das Fähnlein im Wind die Unsicherheit der Privatwirtschaft widerspiegelt.
Selbst wenn viele Investoren in ihren politischen Stellungnahmen staatliches Sparen gutheißen, haben sie doch keine andere Möglichkeit, als ihre Entschei­dungen nach den konkreten Signalen auszurichten, die sie von ihren Märkten erhalten. Wer heroisch gegen den Markt investiert, wird bald sein blaues Wunder erleben. Wie der globale Investitionsein­bruch in der Krise von 2008 klar zeigte, haben daran auch 30 Jahre Angebotspolitik und eine extrem gute Gewinnsitua­tion der Unternehmen nichts geändert.
Gerade weil die Privaten sich nicht über die kurze Frist hinwegsetzen kön­nen, kommt der Politik eine Stabilisie­rungsaufgabe zu, die sie nicht an die Wirtschaft zurückgeben kann. Daher sind gesamtwirtschaftlich betrachtet Sparen und Stabilisieren in einem kon­junkturell unsicheren Umfeld ein Wider­spruch in sich. Für die gesamtwirtschaft­liche Stabilisierung kann nur der Staat zuständig sein, niemals die Privatwirt­schaft, weil es in Unternehmen rational ist, in unsicherer Zeit zu sparen und kein Risiko einzugehen. Da das gesamtwirt­schaftlich zu einer sich selbst treibenden Abwärtsspirale führt, muss der Staat ein­springen und über die kurze Frist hin­weghelfen, indem er sich verschuldet.
Warum, werden Sie vielleicht fragen, hat das früher besser funktioniert, wa­rum waren konjunkturelle Schwäche­phasen nie so gefährlich wie heute? Ent­scheidend ist, dass früher die Zukunfts­erwartungen der Konsumenten viel stabiler waren. Das lag daran, dass die Abschwünge vor 30 bis 50 Jahren kurz und die Aufschwünge lang anhaltend waren, dank einer Lohnpolitik, die konti­nuierlich die gesamte Produktivität in die Lohneinkommen schleuste, statt der Ideologie zu folgen, Produktivität könne für Beschäftigung reserviert werden.
Weil weltweit der normale Arbeitneh­mer erwarten konnte, dass nach dem Abschwung sein Einkommen schnell wie­der steigen wird, hat er sein Konsum­verhalten nicht fundamental geändert. Damit ist Schluss. Die USA erleben, dass ihr Aufschwung nach nur zwei Jahren zu versanden droht, denn zum ersten Mal seit Menschengedenken steigen die Ein­kommen der Arbeitnehmer in einem Aufschwung nicht. Die Folge ist auch für die Gesamtwirtschaft Stillstand, obwohl die Unternehmen in Gewinnen schwim­men, weil sie fast den gesamten vom Staat durch höhere Defizite initiierten Zuwachs des Einkommens in den letzten beiden Jahren für sich in Anspruch ge­nommen haben. In Japan kann man seit zwei Jahrzehnten eine Wirtschaft studie­ren, der ihre positive Dynamik abhan­den gekommen ist, weil die privaten Haushalte endgültig mit der Vorstellung abgeschlossen haben, sie würden noch einmal teilhaben können an einem dyna­mischen Aufschwung der Wirtschaft.
Das mit Abstand beste Beispiel aber ist Deutschland. Der hiesige Durchschnitts­konsument weiß kaum noch, wie man mehr konsumiert; er muss seit zehn Jah­ren mit dem »zufrieden« sein, was er hat, weil sein Einkommen in dieser Zeit nicht gestiegen ist. Die hoch gelobte Flexibili­sierung des Arbeitsmarktes, Rekordge­winne und Steuersenkung für Unterneh­men, der Anstieg der Beschäftigung, der Rückgang der gemessenen Arbeitslosig­keit und Exportboom – haben diese dazu geführt, dass die Unternehmen mehr in­vestieren und die Schwäche anderer Be­reiche ausgleichen oder dass die Konsu­menten Geld ausgeben, das sie nicht ha­ben, weil sie optimistisch in die Zukunft schauen? Fehlanzeige. Die Investitionen sind in der Krise stark eingebrochen und haben sich danach wenig erholt. 2011 sind sie noch weit vom Niveau 2008 ent­fernt, das bereits sehr niedrig war.
Wo soll die Dynamik einer Weltwirtschaft herkommen, in der, wie Sie meinen, auch noch der private Konsum und der Staatsverbrauch reduziert werden müssen? Für die USA, Japan und Europa zusammen macht der Bruttoexport an der gesamten Produktion nur zehn Prozent aus, der Konsum aber über 80 Prozent. Wo soll da ein Konsumeinbruch aufgefangen werden? Bricht die Welt wirtschaft jetzt ein und gerät in die japanische Spirale von Stagnation und Deflation, werden wir Generationen nach uns ein schlimmes Erbe hinterlassen.

Aus Wirtschaft und Markt 10 / 2011. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.