von Heiner Flassbeck, Genf
Heute muss ich einen Brief an den deutschen Finanzminister schreiben, der in einer Stellungnahme zur europäischen Krise provokante Thesen vertreten hat:
Sehr geehrter Herr Schäuble, mit großem Interesse habe ich Ihre Stellungnahme zur Überwindung der Eurokrise durch die Konsolidierung der Staatshaushalte in Europa in der Financial Times gelesen. Es hat dazu ja vor allem in englischsprachigen Zeitungen schon viel und heftige Kritik gegeben, die ich nicht wiederholen will. Ich weiß nicht, wer Sie beraten hat, aber ich möchte Ihnen doch noch einmal vor Augen führen, welche Ideen dahinter stehen, weil ich unsicher bin, ob der- oder diejenige Ihnen die Implikationen Ihrer Aussagen in ausreichender Offenheit erklärt hat.
Gegen die Warnung, staatliche Spardiktate ließen den Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in ohnehin geschwächten Volkswirtschaften eskalieren, geben Sie zu bedenken, dass ein kurzfristiger Einbruch beim Konsum mittelfristig dadurch ausgeglichen werde, dass die Sparpolitik das Vertrauen von Investoren und Konsumenten erhöht und die Arbeitslosigkeit senkt. Sie bauen also darauf, dass die Wirtschaft in der mittleren Frist, auf einen stabilisierenden Faktor zurückgreift, der nichts mit der desolaten Lage in Gegenwart und nächster Zukunft zu tun hat.
Was sollte das sein? Sie wissen genau wie ich, dass die mittlere Frist eine Fiktion ist, die sich aus vielen kurzen Fristen zusammensetzt. Hätten beispielsweise die Unternehmen tatsächlich ein relativ sicheres über die kurze Frist hinausgehendes Wissen, auf dessen Basis sie investierten, würden wir derzeit nicht die Schwankungen sehen, die wir Konjunktur nennen. Das kann man leicht an dem nur sechs (!) Monate im Voraus die Geschäftserwartungen abfragenden ifo-Geschäftsklima-Index sehen, der wie das Fähnlein im Wind die Unsicherheit der Privatwirtschaft widerspiegelt.
Selbst wenn viele Investoren in ihren politischen Stellungnahmen staatliches Sparen gutheißen, haben sie doch keine andere Möglichkeit, als ihre Entscheidungen nach den konkreten Signalen auszurichten, die sie von ihren Märkten erhalten. Wer heroisch gegen den Markt investiert, wird bald sein blaues Wunder erleben. Wie der globale Investitionseinbruch in der Krise von 2008 klar zeigte, haben daran auch 30 Jahre Angebotspolitik und eine extrem gute Gewinnsituation der Unternehmen nichts geändert.
Gerade weil die Privaten sich nicht über die kurze Frist hinwegsetzen können, kommt der Politik eine Stabilisierungsaufgabe zu, die sie nicht an die Wirtschaft zurückgeben kann. Daher sind gesamtwirtschaftlich betrachtet Sparen und Stabilisieren in einem konjunkturell unsicheren Umfeld ein Widerspruch in sich. Für die gesamtwirtschaftliche Stabilisierung kann nur der Staat zuständig sein, niemals die Privatwirtschaft, weil es in Unternehmen rational ist, in unsicherer Zeit zu sparen und kein Risiko einzugehen. Da das gesamtwirtschaftlich zu einer sich selbst treibenden Abwärtsspirale führt, muss der Staat einspringen und über die kurze Frist hinweghelfen, indem er sich verschuldet.
Warum, werden Sie vielleicht fragen, hat das früher besser funktioniert, warum waren konjunkturelle Schwächephasen nie so gefährlich wie heute? Entscheidend ist, dass früher die Zukunftserwartungen der Konsumenten viel stabiler waren. Das lag daran, dass die Abschwünge vor 30 bis 50 Jahren kurz und die Aufschwünge lang anhaltend waren, dank einer Lohnpolitik, die kontinuierlich die gesamte Produktivität in die Lohneinkommen schleuste, statt der Ideologie zu folgen, Produktivität könne für Beschäftigung reserviert werden.
Weil weltweit der normale Arbeitnehmer erwarten konnte, dass nach dem Abschwung sein Einkommen schnell wieder steigen wird, hat er sein Konsumverhalten nicht fundamental geändert. Damit ist Schluss. Die USA erleben, dass ihr Aufschwung nach nur zwei Jahren zu versanden droht, denn zum ersten Mal seit Menschengedenken steigen die Einkommen der Arbeitnehmer in einem Aufschwung nicht. Die Folge ist auch für die Gesamtwirtschaft Stillstand, obwohl die Unternehmen in Gewinnen schwimmen, weil sie fast den gesamten vom Staat durch höhere Defizite initiierten Zuwachs des Einkommens in den letzten beiden Jahren für sich in Anspruch genommen haben. In Japan kann man seit zwei Jahrzehnten eine Wirtschaft studieren, der ihre positive Dynamik abhanden gekommen ist, weil die privaten Haushalte endgültig mit der Vorstellung abgeschlossen haben, sie würden noch einmal teilhaben können an einem dynamischen Aufschwung der Wirtschaft.
Das mit Abstand beste Beispiel aber ist Deutschland. Der hiesige Durchschnittskonsument weiß kaum noch, wie man mehr konsumiert; er muss seit zehn Jahren mit dem »zufrieden« sein, was er hat, weil sein Einkommen in dieser Zeit nicht gestiegen ist. Die hoch gelobte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Rekordgewinne und Steuersenkung für Unternehmen, der Anstieg der Beschäftigung, der Rückgang der gemessenen Arbeitslosigkeit und Exportboom – haben diese dazu geführt, dass die Unternehmen mehr investieren und die Schwäche anderer Bereiche ausgleichen oder dass die Konsumenten Geld ausgeben, das sie nicht haben, weil sie optimistisch in die Zukunft schauen? Fehlanzeige. Die Investitionen sind in der Krise stark eingebrochen und haben sich danach wenig erholt. 2011 sind sie noch weit vom Niveau 2008 entfernt, das bereits sehr niedrig war.
Wo soll die Dynamik einer Weltwirtschaft herkommen, in der, wie Sie meinen, auch noch der private Konsum und der Staatsverbrauch reduziert werden müssen? Für die USA, Japan und Europa zusammen macht der Bruttoexport an der gesamten Produktion nur zehn Prozent aus, der Konsum aber über 80 Prozent. Wo soll da ein Konsumeinbruch aufgefangen werden? Bricht die Welt wirtschaft jetzt ein und gerät in die japanische Spirale von Stagnation und Deflation, werden wir Generationen nach uns ein schlimmes Erbe hinterlassen.
Aus Wirtschaft und Markt 10 / 2011. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Arbeitslosigkeit, Eurokrise, Heiner Flassbeck, Investoren, Konsum, Sparen, Sparpolitik