von Arthur Koestler
Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus Arthur Koestlers erstmals 1940 erschienenen Roman „Sonnenfinsternis“. „Das Schicksal des Mannes N.S. Rubaschow widerspiegelt die Schicksale einer Anzahl von Männern, die Opfer der sogenannten Moskauer Prozesse wurden“, so der Autor in der Widmung seines Romanes. Die von uns ausgewählte Szene schildert ein Verhör Rubaschows durch seinen ehemaligen Bürgerkriegskameraden Iwanoff. Der Titel für diesen Auszug wurde von der Redaktion gewählt.
Rubaschow hörte nicht mehr zu. Er ging auf und ab und überlegte, ob er die Arlowa, wäre sie noch am Leben, heute nochmals in den Tod schicken würde. Das Problem faszinierte ihn; es schien die Antworten auf alle Fragen zu enthalten … Er blieb vor Iwanoff stehen und fragte ihn: „Erinnerst du dich an Raskolnikoff?“
Iwanoff lächelte ihn ironisch an. „Ich sah voraus, daß wir früher oder später bei Dostojewski landen würden. ‚Schuld und Sühne’… Du bist auf dem besten Weg, kindisch und senil zu werden…“
„Warte mal“, sagte Rubaschow, während er in wachsender Erregung durch die Zelle marschierte. Bisher war alles Gerede, aber jetzt beginnen wir dem Kern der Sache näherzukommen. Soweit ich mich erinnern kann, besteht das Problem darin, ob der Student Raskolnikoff das Recht hatte, die alte Wucherin zu töten. Er ist jung und begabt; er hat sozusagen einen uneingelösten Scheck auf das Leben in der Tasche; sie ist alt und absolut unnütz in dieser Welt. Aber die Gleichung geht dennoch nicht auf. Erstens bringen es die Umstände mit sich, daß er einen zweiten Mord begehen muß – das ist der unberechenbare und unlogische Schatten, den anscheinend, noch so einfache und logische Aktionen werfen. Zweitens aber geht die Gleichung ohnehin nicht auf, denn Raskolnikoff entdeckt, daß zweimal zwei nicht vier ist, wenn die mathematischen Größen lebende Menschen sind.“
„So“, sagte Iwanoff. „Wenn du meine Meinung hören willst: Jedes einzelne Exemplar dieses blödsinnigen Buches sollte verbrannt werden. Überlege dir einen Augenblick, wohin uns diese humanitäre Nebelphilosophie führen würde, falls wir sie wörtlich nähmen; falls wir wirklich nach der Richtschnur handeln, daß das Individuum sakrosankt ist, und daß es uns nicht erlaubt ist, mit Menschenleben nach mathematischen Regeln zu operieren. Es würde bedeuten, daß es einem Bataillonskommandeur nicht erlaubt ist, eine Patrouille zu opfern, um ein Regiment zu retten, daß es uns nicht erlaubt ist, Narren wie Bogrow zu opfern, und daß wir statt dessen in Kauf nehmen sollen, daß unsere Hafenstädte in den nächsten zwei Jahren zu Klumpen geschossen werden …“
Rubaschow schüttelte den Kopf: „Deine Beispiele beziehen sich auf den Krieg, das heißt auf einen Ausnahmezustand.“
„Seit der Erfindung der Dampfmaschine“, sagte Iwanoff, „befindet sich die Welt in einem permanenten Ausnahmezustand; Kriege und Revolutionen sind bloß der sichtbare Ausdruck dafür. Unabhängig von all dem ist dein Raskolnikoff natürlich ein Narr und Verbrecher; aber nicht etwa, weil er der Logik folgt und die Alte erschlägt, sondern weil er es in seinem persönlichen Interesse tut. Das Prinzip, daß der Zweck die Mittel heiligt, ist und bleibt die einzige Maxime politischer Ethik; alles andere ist sentimentales Gefasel und schmilzt einem zwischen den Fingern, wenn man es greifen will … Hätte Raskolnikoff die Alte auf Parteibefehl umgebracht – zum Beispiel für einen Streikfonds oder um eine illegale Druckerei einzurichten – dann würde die Gleichung aufgehen, und der Roman mit seiner irreführenden Problemstellung wäre ungeschrieben geblieben, sehr zum Nutzen der Menschheit.“
Rubaschow antwortete nicht. Er war immer noch von dem Problem fasziniert, ob er heute, nach allem, was er in den letzten Monaten und Jahren erlebt hatte, die Arlowa nochmals in den Tod schicken würde. Er war unfähig, die Frage zu beantworten. Logisch war Iwanoff im Recht mit allem, was er sagte; und die unsichtbare Gegenpartei verhielt sich schweigend und verriet ihre Anwesenheit nur durch ein dumpfes Gefühl des Unbehagens. Auch darin hatte Iwanoff recht, daß dieses Verhalten des „unsichtbaren Gegners“, der sich niemals offen zum Kampf stellte und nur wehrlose Opfer überfiel, ihn in einem sehr zweifelhaften Licht erscheinen ließ. „Ich hasse ideologische Unklarheit“, fuhr Iwanoff fort. „Im Grunde genommen gibt es nur zwei mögliche Theorien der Moral, und sie verhalten sich wie entgegengesetzte Pole. Die eine ist christlich-humanistisch, erklärt das Individuum für sakrosankt und behauptet, daß mathematische Regeln nicht auf menschliche Einheiten anwendbar sind. Die andere geht von dem Grundprinzip aus, daß das Kollektivziel alle Mittel heiligt, und erlaubt nicht nur, sondern gebietet, daß das Individuum in jeder Hinsicht der Gemeinschaft unterstellt und wenn nötig geopfert wird, als Versuchskaninchen, als Opferlamm und auf jede andere erforderliche Art. Die erste Auffassung können wir die Antivivisektionsmoral nennen, die zweite die Provivisektionsmoral. Wirrköpfe und Dilettanten versuchen stets, die beiden Auffassungen irgendwie zu vereinbaren; in praxi ist dies unmöglich. Wem Macht und Verantwortung aufgebürdet sind, der entdeckt bei der ersten Gelegenheit, wenn es eine praktische Entscheidung zu treffen gilt, daß er zu wählen hat; und die Logik der Ereignisse treibt ihn unaufhaltsam der zweiten Alternative zu. Kannst du mir ein einziges Land nennen, das seit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion eine wirklich christliche Politik verfolgt hat? Es gibt kein Beispiel. Im Notfall – und Politik ist der Notfall in Permanenz – konnten sich die Herrscher stets auf besondere Umstände berufen, welche besondere Maßnahmen erforderten. Seitdem es Nationen und Klassen gibt, leben sie in einem chronischen Zustand der Notwehr, der sie zwingt, die praktische Anwendung des humanistischen Ideals auf bessere Zeiten zu verschieben.“
Rubaschow zuckte die Schultern. „Zugegeben“, sagte er, „daß Humanismus und Politik, Achtung vor dem Individuum und sozialer Fortschritt unvereinbar sind. Zugegeben, daß Gandhi eine Katastrophe für Indien ist und daß Keuschheit in der Wahl der Mittel zu politischer Impotenz führt. Im Negativen stimmen wir überein. Aber überlege mal, wohin uns die andere Methode geführt hat …“
„Nun?“ fragte Iwanoff, „wohin?“
Rubaschow rieb seinen Zwicker am Ärmel und blickte ihn kurzsichtig an. „Welch eine Schweinerei“, sagte er, „welch eine Schweinerei haben wir aus unserem Goldenen Zeitalter gemacht!“
Iwanoff lächelte. „Zugegeben“, sagte er aufgeräumt. „Aber erinnere dich an die Gracchen und Saint-Just und an die Pariser Kommune. Die großen Revolutionäre der Vergangenheit waren moralisierende Dilettanten. Sie waren voller guter Vorsätze und gingen an ihrem Dilettantismus zugrunde. Wir dagegen sind konsequent.“
„Jawohl“, sagte Rubaschow. „So konsequent, daß wir im Interesse einer gerechten Landverteilung fünf Millionen Bauern und ihre Familien innerhalb eines einzigen Jahres vor Hunger krepieren ließen. So konsequent, daß wir, um die Menschheit von den Ketten der Lohnarbeit zu befreien, rund zehn Millionen als Zwangsarbeiter in die Arktis und in die Urwälder verschickten – unter Bedingungen, die denen der antiken Galeerensträflinge gleichen. So konsequent, daß wir, um einen Meinungsstreit zu schlichten, nur ein Argument kennen: den Tod – ob es sich um Unterseeboote, Kunstdünger oder die Parteilinie in Indochina handelt. Unsere Ingenieure arbeiten in dem ständigen Bewußtsein, daß ein Rechenfehler sie ins Zuchthaus oder aufs Schafott bringen kann; die höheren Beamten unserer Staatsverwaltung richten ihre Untergebenen zugrunde, denn sie wissen, daß sie für den kleinsten Mißgriff verantwortlich gemacht und selbst zugrunde gerichtet werden; unsere Dichter entscheiden Diskussionen über Fragen des Stils durch Denunziation an die Geheimpolizei, denn die Expressionisten betrachten die Naturalisten als Konterrevolutionäre und vice versa. Wir sind so konsequent im Interesse der zukünftigen Generationen, daß wir der gegenwärtigen Entbehrungen in einem Ausmaß auferlegten, das die durchschnittliche Lebensdauer um ein Viertel verkürzt hat; so konsequent, daß wir im Interesse der Landesverteidigung Ausnahmebestimmungen und Übergangsgesetze erlassen, die in jedem Punkt in direktem Gegensatz zu den Zielen der Revolution stehen. Der Lebensstandard der Massen ist niedriger, als er vor der Revolution war; die Arbeitsbedingungen sind härter, die Disziplin unmenschlicher, die Akkordschinderei schlimmer als die von Kulis in kapitalistischen Kolonien; wir haben die Altersgrenze für die Todesstrafe auf zwölf Jahre herabgesetzt, unsere Sexualgesetzgebung ist spießiger als die Englands, unser Führerkult byzantinischer als unter konterrevolutionären Diktaturen. Unsere Presse und unsere Schulen züchten Chauvinismus, Militarismus, Dogmatismus, Konformismus und Ignoranz. Die willkürliche Macht in den Händen unserer Regierung ist unbeschränkt und beispiellos in der Geschichte; Presse-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit sind so gründlich abgeschafft, als ob es niemals eine Erklärung der Menschenrechte gegeben hätte. Wir haben den gigantischsten Polizeiapparat der Geschichte aufgebaut, die gegenseitige Bespitzelung zu einer nationalen Institution erhoben und physische und geistige Folter zu einem wissenschaftlichen System ausgebaut. Wir peitschen die stöhnenden Massen des Landes einem theoretischen Zukunftsglück entgegen, das nur uns allein sichtbar ist. Denn die Kräfte dieser Generation sind erschöpft; sie wurden in der Revolution verausgabt; denn diese Generation hat sich weißgeblutet, und alles, was von ihr übrigblieb, ist eine stöhnende, dumpfe, apathische Masse von Opferfleisch. Dies sind die Konsequenzen unserer Konsequenz. Du nennst sie Vivisektionsmoral. Mir erscheint es manchmal, als ob die Experimentatoren die Haut vom Leibe des Opfers gerissen hätten, so daß es mit entblößten Geweben, Muskeln und Nerven vor uns steht …“
„Nun, und was weiter?“ fragte Iwanoff. Er schien frisch und aufgeräumt. „Siehst du nicht, wie großartig all das ist? Hat es jemals etwas Großartigeres in der Geschichte gegeben? Wir reißen der Menschheit die alte Haut vom Leibe und nähen sie in eine neue ein. Das ist kein Geschäft für Leute mit schwachen Nerven; aber es gab eine Zeit, da es dich mit Begeisterung erfüllte. Was ist mit dir passiert, daß du zu einer wehleidigen alten Jungfer geworden bist?“
Rubaschow wollte antworten: „Ich habe seither Bogrow meinen Namen rufen gehört.“ Aber er wußte, daß diese Antwort sinnlos war. So sagte er statt dessen: „Um bei unserem Bild zu bleiben: ich sehe den geschundenen Leib dieser Generation, aber ich sehe keine Spur der neuen Haut. Wir alle waren überzeugt, daß man mit der Geschichte experimentieren kann wie im physikalischen Laboratorium. Der Unterschied ist, daß man im Laboratorium tausendmal das gleiche Experiment machen kann, aber in der Geschichte nur einmal. Danton und Saint-Just konnten nur einmal geköpft werden; und falls es sich nachträglich herausstellen sollte, daß große Unterseeboote doch das Richtige gewesen wären – Genosse Bogrow wird davon nicht wieder lebendig.“
„Und was folgt daraus?“ fragte Iwanoff „Sollen wir uns in einen Lehnstuhl setzen und Daumen drehen, weil die Konsequenzen einer Handlung niemals vollständig voraussehbar sind und infolgedessen alles Handeln von Übel ist? Wir haften für jede unserer Taten mit unserem Kopf – das ist alles, was man von uns erwarten kann. Auf der Gegenseite hat man nicht soviel Skrupel. Jeder alte Trottel von einem General kann mit Tausenden von lebenden Leibern experimentieren; alles, was er dabei riskiert, ist, pensioniert zu werden. Die Reaktion und Konterrevolution kennt weder Skrupel noch ethische Probleme. Glaubst du, die Sulla, Galliffet und Koltschak lesen ‚Raskolnikoff’? Solche sonderbaren Käuze wie du gedeihen bloß in den Bäumen der Revolution. Die andern haben es leichter …“
Er sah nach seiner Uhr. Das Zellenfenster hatte sich mit einem schmutzigen Grau überzogen; das Zeitungsblatt auf der zerbrochenen Scheibe blähte sich und raschelte im Morgenwind; der Wachtposten auf der Rampe ging unentwegt seine hundert Schritte ab.
„Für einen Mann von deiner Vergangenheit“, fuhr Iwanoff fort, „ist diese plötzliche Auflehnung gegen Experimente etwas naiv. Jahr für Jahr sterben Millionen sinnlos als Opfer von Epidemien und Naturkatastrophen. Und da sollten wir davor zurückschrecken, einige Hunderttausend dem sinnvollsten Experiment der Geschichte zu opfern? Ganz zu schweigen von den Legionen jener, die an Unterernährung und Tuberkulose, in den Kohlengruben und Quecksilberminen, auf den Reisfeldern und Baumwollplantagen zugrunde gehen. Kein Hahn kräht nach ihnen, kein Mensch fragt, warum und wofür; aber wenn wir hier ein paar tausend objektiv schädliche Leute umlegen, steht den Humanisten in der ganzen Welt der Schaum vor dem Mund. Jawohl, wir haben den parasitären Sektor der Bauernschaft liquidiert oder verhungern lassen. Es war eine chirurgische Operation, die ein für allemal durchgeführt werden mußte; aber in den guten alten Zeiten vor der Revolution sind in Dürrejahren ebensoviele vor Hunger verreckt, bloß, daß ihr Tod sinn- und zwecklos war. Die Opfer der Überschwemmungen des Gelben Flusses in China gehen mitunter in die Hunderttausende. Die Natur ist großzüg mit ihren sinnlosen Experimenten an der Menschheit, und du wagst es, der Menschheit das Recht abzusprechen, an sich selbst zu experimentieren?“
Er machte eine Pause; Rubaschow schwieg. Iwanoff fuhr fort:
„Hast du jemals ein Antivivisektionstraktat gelesen? Es ist eine erschütternde und herzzerreißende Lektüre; wenn du liest, wie ein armer Köter, dem man die Leber herausgeschnitten hat, vor sich hinwinselt und seines Peinigers Hand leckt, wird dir ebenso übel wie heute nacht. Aber wenn es nach diesen Leuten ginge, hätten wir heute kein Serum gegen Cholera, Typhus oder Diphtherie…“
Er leerte den Rest der Flasche, gähnte, streckte sich und stand auf. Er humpelte zum Fenster hinüber, wo Rubaschow stand, und sah hinaus.
„Es ist beinahe hell“, sagte er. „Sei kein Narr, Rubaschow. Alles, was ich dir heute nacht erzählte, gehört zu unserem Abc, das du ebenso gut kennst wie ich. Du warst in einem Zustand nervöser Depression, aber jetzt hast du es hinter dir!“ Er stand neben Rubaschow am Fenster, legte seinen Arm um Rubaschows Schulter, seine Stimme war beinahe zärtlich. „Geh und schlaf dich aus, altes Schlachtpferd; der Termin läuft morgen ab, und wir werden beide einen klaren Kopf brauchen, um dein Geständnis auszukochen. Zuck nicht mit den Schultern – du bist bereits halb überzeugt, daß du unterschreiben wirst. Leugnest du es, bist du ein moralischer Feigling. Moralische Feigheit hat so manchen zum Märtyrer gemacht.“
Rubaschow sah in das dämmernde Licht hinaus. Der Wachtposten vollführte gerade eine Kehrtwendung. Der Himmel über dem Maschinengewehrturm war blaßblau mit einem Stich ins Rötliche. „Ich werde es mir überlegen“, sagte Rubaschow nach einer Weile.
Arthur Koestler: Sonnenfinsternis. Roman, Elsinor Verlag, Coesfeld 2010, 256 S., 16,80 Euro. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Schlagwörter: "Sonnenfinsternis", Arthur Koestler, Individuum, Moral, Revolution