14. Jahrgang | Nummer 19 | 19. September 2011

Afghanistans „Zukunft“: Bürgerkrieg – Parzellierung – UN-Protektorat?

von Jürgen Wagner

Der Krieg in Afghanistan eskaliert weiter, die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße zwischen dem afghanischen Widerstand und westlichen Truppen stieg laut UN-Angaben von 11.500 (2009) auf knapp 20.000 (2010) an und hat sich im ersten Quartal 2011 noch einmal um 50 Prozent erhöht. Natürlich sind die westlichen Besatzer bestrebt, die eigenen Verluste so weit wie möglich zu reduzieren. Es wird jedoch immer offensichtlicher, dass man sich weit über das angebliche Abzugsdatum 2014 hinaus dauerhaft im Land einzurichten gedenkt. Den Großteil der Kampfhandlungen sollen in Zukunft die afghanische Armee und Polizei schultern, die derzeit massiv ausgebaut werden. Ein lang andauernder Bürgerkrieg wird dabei in Kauf genommen. Darüber hinaus kursieren im Vorfeld der im Dezember 2011 in Bonn stattfindenden Petersberg-II-Konferenz, auf der die Weichen für die künftige Afghanistan-Politik gestellt werden, allerlei Vorschläge, welche Maßnahmen nun zu ergreifen seien: Sie reichen von der Überführung des Landes in ein UN-Protektorat bis hin zu seiner Parzellierung.
Gegenwärtig sind etwa 130.000 NATO-Soldaten in Afghanistan stationiert. Allein die US-Regierung hat im Jahr 2011 für den Krieg offiziell knapp 120 Milliarden Dollar im Haushalt eingeplant. Deutschland rechnet offiziell mit etwas mehr als 1 Milliarde. Euro. Berücksichtigt man jedoch alle relevanten Posten summieren sich die jährlichen Kriegskosten Berechnungen des „Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung“ zufolge auf 2,5 bis 3 Milliarden Euro.
Am 17. Juli 2011 war im Tagesspiegel zu lesen: „Nach Medienberichten wollen die Amerikaner fünf riesige Militärbasen in dem Land, das unter anderem an den Iran, China und Pakistan grenzt, dauerhaft nutzen. Dass 20 000 US-Soldaten in Afghanistan bleiben sollen, sei ‚nur das bescheidenste Szenario’, schreibt der indische Politiker und Außenpolitik-Experte Shashi Tharoor.“ Bereits Mitte Juni 2011 meldete der Guardian, die USA hätten mit Afghanistan Geheimverhandlungen über die dauerhafte Stationierung von Truppen und die Errichtung permanenter Basen aufgenommen. Ähnlich wie im Irak werden also auch in Afghanistan noch lange Zeit substanzielle Truppenteile stationiert bleiben. Sie sollen von dort die Fähigkeiten zur Machtprojektion in die geostrategisch wichtige, weil ölreiche kaspische Region verbessern und den Fortgang des (Bürger)Krieges zwischen den Kräften der Regierung und dem Widerstand beaufsichtigen.
Mit der Neuausrichtung der Afghanistan-Strategie kurz nach dem Amtsantritt der Obama-Administration im Jahr 2009 ist man dazu übergegangen, den Aufbau der afghanischen „Sicherheitskräfte“ massiv zu forcieren. Obwohl – oder wohl gerade weil – die korrupte „Regierung“ um Hamid Karzai immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung genießt, wurden die Zielgrößen der afghanischen Armee und Polizei seither mehrfach angehoben; zuletzt im Januar 2011 von 171.600 auf 195.000 (Armee) und von 134.000 auf 170.000 (Polizei).
Woher die Gelder für diesen gigantischen Repressionsapparat stammen sollen, ist unklar – aus dem gegenwärtigen (und künftigen) afghanischen Haushalt jedenfalls nicht. Noch für die mittlerweile angehobenen alten Zielgrößen errechnete der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses jährliche Kosten des anvisierten Sicherheitsapparates in Höhe von 2,2 Milliarden US-Dollar, der afghanische Haushalt umfasst nicht einmal die Hälfte dieses Betrages. Eher früher als später wird dieser gigantische Repressionsapparat deshalb mehr und mehr dazu übergehen, sich mittels Raub an der Bevölkerung zu finanzieren. Um präzise zu sein: Die „Sicherheitskräfte“ haben damit bereits vor längerer Zeit begonnen. Armee und Polizei sind ein (großer) Teil des Problems, nicht der Lösung. Beide sind hoffnungslos korrupt und in zahlreiche Menschenrechtsverletzungen involviert, so etwa das Fazit einer Mitte Mai 2011 veröffentlichten Oxfam-Studie. Afghanistan wird sich so also zu einem totalitären Militärstaat entwickeln – aber immerhin zu einem pro-westlichen und das scheint schließlich das Ziel der Übung zu sein.
In einer Studie des „Center for a New American Security“ („Afghanistan 2011: Three Scenarios“) werden drei unterschiedliche Zukunftsperspektiven nebst Eintrittswahrscheinlichkeit erörtert. Möglich aber eher unwahrscheinlich seien sowohl eine nachhaltige Stabilisierung des Landes als auch der – aus westlicher Sicht – schlimmste Fall, ein Sieg der Widerstandsgruppen über die Karzai-Regierung und die Etablierung neuer, dezidiert anti-westlicher Machthaber. Vermutlich werde die Entwicklung deshalb in folgende Richtung gehen: „Im wahrscheinlichsten Szenario wird die Obama-Regierung vorsichtig zu einer koordinierten Anti-Terror-Mission übergehen, bei der das alliierte Engagement sich auf das Training der afghanischen Armee, die Durchführung von Präzisionsangriffen aus der Luft und Spezialoperationen am Boden beschränkt.“ Dieses Szenario erlaube es den USA und ihren Verbündeten weiterhin Einfluss in Zentralasien auszuüben und eine vollständige Rückkehr der Taliban zu verhindern. „Afghanistan bleibt im Bürgerkrieg zwischen der Regierung in Kabul, die im Wesentlichen von den Politikern und Warlords geführt wird, die das Land zwischen 1992 und 1996 befehligten, und einer entrechteten paschtunischen Gesellschaft im Süden und Osten gefangen.“
Ein anderer Vorschlag zur Neuausrichtung der Afghanistan-Strategie stammt vom „Institute for Security Studies“ (ISS), der wichtigsten hauseigenen Denkfabrik der Europäischen Union. In der Studie „Afghanistan 2011-2014 and beyond“ vom Juni 2011 wird überraschenderweise gefordert, den NATO-Einsatz baldmöglichst zu beenden. Was sich auf den ersten Blick gut und sinnvoll anhört, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Versuch, sich des selbstverschuldeten Schlamassels zu entledigen. „Der Schlüssel liegt darin, das, was im Wesentlichen augenblicklich eine ausländische Militäroperation ist, in einen Friedensbildungseinsatz umzuwandeln, geführt von der afghanischen Regierung sowie den Vereinten Nationen, aber mit Unterstützung, einschließlich militärischer Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, stets jedoch unter zivilem Kommando.“ Allerdings steht zu hoffen, dass die Vereinten Nationen sich davor hüten werden, die Suppe auszulöffeln, die sich die NATO selbst eingebrockt hat. Ein wesentliches Hindernis für die Beilegung des Konfliktes ist das Beharren auf pro-westlichen Machthabern in Kabul sowie das Bestreben, dauerhafte Militärbasen im Land zu unterhalten. Beides macht es unmöglich, einen „Friedensdeal“ mit dem Widerstand auszuhandeln, für den damit zwei rote Linien überschritten sind.
Robert D. Blackwill, ehemaliger Chefberater des letzten republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain, fordert indessen, dass die US-Regierung aufhören solle über Exit-Strategien zu reden. Sie müsse die USA auf die Übernahme einer langfristigen Kampfmission von 35.000 bis 40.000 Mann für die nächsten sieben bis zehn Jahre orientieren. Nötig sei darüber hinaus die Parzellierung des Landes in „handliche“ Teile: Ein „Rest-Afghanistan“ solle die nördlichen und westlichen Regionen umfassen und von den mehrheitlich paschtunisch bewohnten Gebieten, aus denen sich das Gros des Widerstands speist, abgespalten werden. Dieses, von Blackwill als „Paschtu-Afghanistan“ bezeichnete Gebilde müsse dann aus der Luft überwacht und mit Krieg überzogen werden: „Der Himmel über dem Paschtu-Afghanistan wäre dunkel von bemannten und unbemannten Flugzeugen der Koalition. Man würde nicht nur nach Terroristen suchen, sondern, soweit erforderlich, auch die neue Taliban-Regierung in all ihren Facetten überwachen. Beamten, Gouverneure, Bürgermeister, Richter und Zöllner würde jeden Morgen aufwachen, ohne zu wissen, ob sie den Tag in ihren Büros überleben.“
Auch wenn sich bislang noch kein Entscheidungsträger der Obama-Regierung für diesen „Plan“ ausgesprochen hat – dass sie ihn womöglich doch übernehmen könnte, sollte Afghanistan weiter der westlichen Kontrolle entgleiten, ist keineswegs ausgeschlossen. Schließlich ist die Zerschlagung von „Problemländern“ in den letzten Jahren zu einer gängigen westlichen Praxis geworden, sollte keine andere Option bestehen, die eigenen Interessen durchsetzen zu können – siehe etwa den Kosovo und oder den Süd-Sudan.