von Wolfgang Brauer
Zu den rätselhaftesten Gottheiten des pharaonischen Ägypten gehört zweifellos die Tochter des Weltenschöpfers Re und Gemahlin des Schreibergottes Thot, die mit einer Feder geschmückte Ma`at. Oftmals wird sie auch nur als Feder dargestellt. Ma`at spielte die entscheidende Rolle im für das Weltbild der Ägypter fundamentalen Totengericht: Das Herz der Verstorbenen musste auf der Waage des Gerichtes mit der Feder der Ma`at im Gleichgewicht sein. Am Fuße der Waage lauerte schon mit gierigen Lefzen Ammit, die Totenfresserin; ein ekelerregendes Mischwesen aus Flusspferd, Löwe und Krokodil, den gefährlichsten Tieren Ägyptens. Aus deren Rachen war für die den Wiegevorgang nicht Bestehenden jede Wiederkehr unmöglich. Ma`at selbst war die Hüterin der kosmischen Ordnung, die Göttin der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Nur wer diese pflegte konnte davon ausgehen, dass das Gewicht seines Herzens dem ihrer Feder entsprechen konnte: „Ich habe kein Unrecht gegen Menschen getan und keine Tiere gequält“, heißt es im 125. Kapitel des ägyptischen „Totenbuches“, der wunderbaren Geburtsurkunde des Humanismus.
Der Wiener Universitätsprofessor Rudolf Taschner ist nun kein Ägyptologe, er ist Mathematiker und die gelten gemeinhin als staubtrockene Gesellen. Aber Taschner hat eine glückliche Hand beim populären Präsentieren schwieriger wissenschaftlicher Zusammenhänge und er hat jetzt ein Buch geschrieben über die ureigenste Sache der Ma`at, die Herstellung der Gerechtigkeit. Eigentlich könnte man schon auf der Seite zehn seines Essays mit dem Lesen aufhören, denn Taschner erklärt dort unumwunden: „Es gibt sie nicht auf Erden: die Gerechtigkeit.“ Dass die himmlische Gerechtigkeit im Verlaufe der Menschheitsgeschichte dann auch noch irgendwie verloren ging, konstatiert er am Ende seines Buches – die Michelangelosche Darstellung des Jüngsten Gerichtes sei die Darstellung eines Albtraums und der „Jedermann Hofmannsthals eine einzige Peinlichkeit“. Zumindest Letzteres stimmt.
Womit füllt der Autor nun die verbliebenen 200 Seiten seines Buches? Man findet allerdings auf diesen in jeder Hinsicht verblüffende Überlegungen zu acht „G-Wörtern“, die er zum Begriff der „Gerechtigkeit“ in eine Beziehung setzt: Gleichheit, Generationen, Gesetz, Geschichte, Geschäft, Gestaltung, Gewissen und Gnade. Verblüffend ist zum Beispiel die sorglose Kombination einer tiefgehenden Analyse der diversen Versuche der Naturrechtsphilosophen des Aufklärungszeitalters, Ideen zur Herstellung einer gerechten Ordnung zum entwickeln mit dem über weite Strecken recht oberflächlichen Parlieren über „Gerechtigkeit und Geschäft“. „Geschäft“ setzt der Autor synonym mit Geldwirtschaft. Der ansonsten mit einer seinem Thema angemessenen soliden Skepsis arbeitende Taschner geht hier dem Wiener liberal-konservativen Kolumnisten Christian Ortner auf den Leim, der frisch-frei-fromm von einem „österreichischen Susi-Sorglos-Sozialstaat“ palavert, der „für jene Migrantengruppen einladend sein (mag), die primär eher grundsicherungsaffin als leistungsorientiert sind.“ Das ist ärgerlich. Das schrammt schon heftig an der Leitplanke unseres durchgeknallten Ex-Deutsch-Bundesbankers entlang und gehört zu den schwächsten Stellen seines Buches. Zum Nachdenken anregend hingegen der schon erwähnte Naturrechtsdiskurs im Kapitel „Gerechtigkeit und Gleichheit“. Lauert am Ende einer Entwicklung, die formale Gleichheit erzwingen möchte, nicht doch zwangsläufig eine über allen und allem stehende Kontrollinstanz? Wer definiert den Rousseauschen „Gemeinwillen“, wer setzt ihn durch? Hat eine „alle übrigen sozialen Schichten übermächtig beherrschende Klasse der Nomenklatura“ (die der Autor nicht nur am staatssozialistischen Versuch diagnostiziert) überhaupt etwas mit Gerechtigkeit zu tun? Zeus gab den Fröschen anstelle eines Klotzes, gegen dessen Nichtstun sie protestierten, eine Wasserschlange zum König. Als erstes verschlang diese, wie es Lessing in seiner berühmten Fabel beschreibt, den vorlautesten ihrer Kritiker. Taschner argumentiert schlüssig, dass Gerechtigkeit in hochkomplexen gesellschaftlichen Systemen nur einen Näherungswert darstellen könne, letztlich auch müsse, da „Gerechtigkeit“ in ihrer reinsten Form zur Entindividualisierung führe. Die utilitaristischen Theoreme eines Peter Singer würden eine mörderische Bestätigung erfahren.
Rudolf Taschner bezieht oberflächlichem Gerechtigkeitsdenken gegenüber eine durchaus kritische Distanz – dennoch formuliert er gleichsam axiomatisch „Der Wunsch nach Gerechtigkeit beflügelte den Fortschritt.“ Unsinnig scheint mir seine Wahl des Präteritums im zitierten Satz. Im letzten Kapitel seines Buches stellt der Autor fest, dass die „irdische Gerechtigkeit“ auf Festlegungen fuße, „getroffen von Menschen, die das Recht setzten.“ Das wiederum, so lehrt es uns die Geschichte, gilt immer nur solange, wie es das Gerechtigkeitsempfinden einer gesellschaftlichen Mehrheit zumindest nicht in Permanenz verletzt. Es gibt übrigens in den ägyptischen Königsgräbern keine Darstellung des Totengerichts mit der Wiegeszene des Herzens eines Pharaos. Pharao galt als Verkörperung der Ma`at höchstderoselbst. War einer in der langen Reihe der ägyptischen Königsliste es einmal nicht, so wurde dies korrigiert: durch Attentate oder auch durch Aufstände. „Es gibt keinen, der sich vor seinem Genossen fürchtet in diesem Land, das keinen Aufruhr kennt“, beschwört das Harfnerlied des Gottesvaters Neferhotep förmlich das Reich der Götter, in das der König eingehen möchte. Nicht zuletzt dieses allgegenwärtige Streben nach Gerechtigkeit in einer zutiefst ungerechten Gesellschaft erklärt die erstaunliche, Jahrhunderte übergreifende Stabilität der altägyptischen Welt – Taschners Buch regt zum Nachdenken über die Stabilität unserer heutigen Welt an, deren Herren die Ungerechtigkeit gleichsam als deren conditio sine qua non, als Bedingung ohne die nichts gehe, postulieren.
Rudolf Taschner: Gerechtigkeit siegt – aber nur im Film, Ecowin Verlag, Salzburg 2011, 226 Seiten, 21,90 Euro
Schlagwörter: Ägypten, Rousseau, Rudolf Taschner, Totenbuch, Wolfgang Brauer