von Bernhard Romeike
Inzwischen ist es nicht mehr ein einzelnes Ereignis, das aufmerken lässt, eher schon die eigenartige Kumulation unterschiedlicher Geschehnisse. Die Nachrichten und Bilder überlagern sich, kaum dass der Betrachter Zeit hat, über die jeweiligen Hintergründe genauer nachzudenken.
Da heißt es, das finanzielle Fiasko der USA sei abgewendet. Das Schuldenlimit wurde in letzter Minute von 14.300 Milliarden Dollar auf 16.400 Milliarden angehoben. Damit konnte Präsident Obama verkünden, dass der Staat USA zahlungsfähig bleibt. Nur, gewonnen hat er nichts. Die Republikaner haben sich erfolgreich geweigert, einer Steuererhöhung für die Reichen zuzustimmen, und die Limiterhöhung der Verschuldung mit Kürzungsmaßnahmen um 2.500 Milliarden Dollar verknüpft. Worin die bestehen werden, soll ein Kongressausschuss bis Ende November aushandeln; inwieweit es tatsächlich Auswirkungen auf die Rüstungsausgaben haben wird oder ob am Ende wieder nur „die kleinen Leute“ die Zeche bezahlen müssen, ist nicht ausgemacht, aber wohl naheliegend. Das hochtönende „Yes, we can“ wird immer mehr zu einem „Wir können nicht“. Die Folgen dessen treffen dann nicht mehr nur die USA. Die sogenannten Rating-Agenturen haben schon mal angekündigt, dass die Herabstufung der USA als Schuldner noch nicht vom Tisch ist.
Brecht schreibt in seinem Tagebuch-Roman „Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar“ hintersinnig: „In der Politik ist es wie im eigentlichen Geschäftsleben. Kleine Schulden sind keine Empfehlung, große Schulden, das ändert den Aspekt. Ein Mann, der wirklich viel schuldet, genießt Ansehen. Für seine Kredite zittert nicht nur er selber, sondern auch der Gläubiger.“ Das trifft ziemlich genau die Beschreibung der Finanzlage der USA, wie sie bisher ist. Mindestens 500 Milliarden US-Dollar sind außerhalb der USA in Umlauf. Wenn der Dollar abwertet, ist das ein Problem der Gläubiger und nicht der Vereinigten Staaten; die Verbindlichkeiten verlieren – gerechnet in den anderen Währungen – an Wert. Noch immer werden rund sechzig Prozent der Währungsreserven in der Welt in Dollar gehalten; die US-amerikanischen Staatsschulden sind inzwischen mehrheitlich Forderungen von Ausländern. Es heißt, umgerechnet pro Kopf habe jeder Chinese Forderungen an die USA in Höhe von 1.000 Dollar. Insgesamt hat China derzeit Auslandsguthaben in Höhe von 4.000 Milliarden Dollar. Wozu es die am Ende zu nutzen vermag, ist wohl offen.
Die Probleme der EU sind ebenfalls weiterhin ungelöst. Italien erklärt sein Finanz- und Bankensystem für stabil, nur die Spekulation der großen Finanzakteure gegen Italien und Spanien hält an, und es wird geraunt, dass zu deren „Rettung“ die EU-Schirme auf jeden Fall nicht reichen würden. Damit ist auch hier die weltwirtschaftliche Perspektive offen. Das gilt auch für die vor kurzem noch so rosig gesehenen Aussichten der deutschen Exportwirtschaft. Auf diese Weise kann es sich noch bitter rächen, dass die deutsche Bundesregierung der Schaffung von Eurobonds und vor allem der Zügelung der internationalen Finanzmärkte nicht zugestimmt hat und statt dessen auf die Wiederherstellung der finanzkapitalistischen Mechanismen gesetzt hat, wie sie 2008 bereits in die Krise geführt haben.
Dann das Massaker in Norwegen. Die einschlägigen Medien betonten die Einzeltäterschaft des Mörders. Also außer ihm niemand verantwortlich? Oder ist auch eine solche Tat vielleicht Ausdruck einer gesellschaftlichen Situation? Der „nationale Wettbewerbsstaat“, wie ihn der Neoliberalismus geschaffen hat, wurde zum Nährboden des Nationalismus. Islamfeindlichkeit ist eine sich ausbreitende Seuche in den europäischen Gesellschaften, von verschiedensten Publizisten und Bücherschreibern herbeigeredet und mit Argumentationsfiguren untergefüttert, von rechtspopulistischen Politikern und Parteien instrumentalisiert. Und die „Mitte der Gesellschaft“ reagierte mit einer Verschiebung dieser Mitte nach rechts. Im Grunde ist der Geist, aus dem heraus derlei Mordbuben erwachsen, der Geist, der seit dem 11. September 2001 und mit dem „Krieg gegen den Terror“ gezüchtet wurde. Dann wurde wieder gelesen, diesmal nicht der Koran, wie in Sachen Osama bin Laden, sondern das selbstgestrickte Text-Machwerk des Massenmörders, das er vorsorglich in das Internet gestellt hatte – mit dem Ergebnis, dass die geistigen Spuren bis zu dem Schreiber Henryk M. Broder in Deutschland reichen. Der aber weist selbstredend weit von sich, an der Schaffung dieser geistigen Atmosphäre in Europa beteiligt gewesen zu sein. Am Ende bleibt dem Betrachter auch hier das Wort im Halse stecken.
Hinter den schrecklichen Bildern der Hungernden und Verhungernden in Ostafrika verschwimmen die anderen Bilder wieder. Die UNO schätzt, dass etwa zwölf Millionen Menschen dringend Hilfe brauchen, in Somalia, Kenia, Äthiopien und Dschibuti. Um die Leben zu retten, sind insgesamt etwa 2,4 Milliarden US-Dollar erforderlich (zur Erinnerung: bei der Erhöhung des Schuldenlimits der USA ging es um 2.100 Milliarden). In Deutschland wird wieder auf allen Kanälen um Spenden gebeten – wenn es um die Rettung von Banken geht, hat der Staat rasch genug Geld, wenn es um die Rettung von Menschen geht, wird die Sammelbüchse herumgereicht. Die islamistischen Al-Shabaab-Milizen in Somalia weigern sich, die Helfer ins Land zu den Hungernden zu lassen und schießen auf die von der Afrikanischen Union entsandten Truppen. Ihre Macht scheint ihnen wichtiger als das Leben der Verhungernden, heißt es in den Medien. Aber der Zusammenbruch in Somalia, der „Staatszerfall“ waltet dort seit fast zwei Jahrzehnten, und der Westen hat ihn erst mit herbeigeführt, und dann nichts Sinnvolles getan – außer Piratenbekämpfung am Horn von Afrika. Der Hunger hat alles nur noch schlimmer gemacht. Und welche langfristige Entwicklungsstrategie gibt es für Somalia und die ganze Region, wenn der Hunger gebannt sein sollte?
Zeitgleich setzt der Westen seinen Krieg in Libyen fort. NATO-Flugzeuge haben Lebensmittellager in der Nähe von Tripolis bombardiert und werfen Bomben auch in der Nähe von Pro-Gaddafi-Demonstrationen ab. Nachts terrorisieren sie die Zivilbevölkerung durch ständiges Überfliegen der Wohngebiete durch NATO-Bombenflugzeuge. Die Menschen sollen Gaddafi endlich abschwören. Wer aber ist denn hier eigentlich der Kriegsverbrecher? Die Untaten der Bombardierer werden in den deutschen Großmedien weiter verschwiegen, da muss man schon auf die „Fidesdienst“-Webseite des Vatikans schauen. Der veröffentlicht nach wie vor die Berichte des Apostolischen Vertreters in Tripolis. Derweil ist in Bengasi, der Stadt der selbsternannten und vom Westen gestützten „Rebellen“ der Bürgerkrieg ausgebrochen. Erste Befürchtungen werden laut geäußert, dass das Ergebnis des Libyen-Krieges des Westens „somalische Verhältnisse“ sein werden.
Die Regierenden bringen nichts Vernünftiges zustande. Die Krisenprozesse nehmen weltweit und in den unterschiedlichsten Gestalten zu. Und weit und breit ist niemand unter den derzeitigen Entscheidungsträgern zu sehen, der oder die in der Lage wäre, Lösungen zu schaffen. Es verdichten sich die Anzeichen, dass es auf einen chaotischen Zustand zuläuft. Und die Unruhe wächst.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, China, Eurpäische Union, Norwegen, Somalia, USA