von Peter Petras
Israel hat Norman G. Finkelstein mit einem zehnjährigen Einreiseverbot belegt. Man will damit den unliebsamen Kritiker treffen. Angeblich stelle er eine Gefahr für die „Sicherheit“ Israels dar. Die israelische Zeitung Haaretz stellte dazu fest: „Angesichts seiner ungewöhnlichen und äußerst kritischen Ansichten drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei der Weigerung, Finkelstein nach Israel einreisen zu lassen, eher um eine Straf- als um eine Vorsichtsmaßnahme handelt.“ Zuweilen reicht dieser strafende Arm auch bis nach Deutschland. Aber das gedruckte Wort findet dennoch seinen Weg. 2010 erschien Finkelsteins Buch über den Gaza-Krieg Israels in New York, kürzlich ins Deutsche übersetzt hierzulande.
Der Gaza-Streifen ist bekanntlich ein schmaler Landstrich von acht Kilometer Breite und vierzig Kilometer Länge entlang des Mittelmeeres, der südwestlich an Ägypten grenzt und ansonsten an Israel. Dort leben 1,5 Millionen Menschen, die Hälfte ist unter 18 Jahre alt. Das ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Mit der Gaza-Invasion, die im Dezember 2008 begann, fiel Israel über eine Zivilbevölkerung her, die ihm schutzlos ausgeliefert war. Insgesamt wurden fast 1.400 Palästinenser getötet, darunter etwa vier Fünftel Zivilisten und 350 Kinder. Auf israelischer Seite wurden zehn Kombattanten getötet, darunter vier durch Beschuss durch die eigenen Truppen, und drei Zivilisten. Was die Sachschäden anbetrifft, wurden 58.000 zerstörte beziehungsweise beschädigte Wohnhäuser im Gaza-Streifen gezählt, 280 Schulen und Kindergärten wurden zerstört oder schwer beschädigt, sechs Universitätsgebäude dem Erdboden gleichgemacht und 1.500 Fabriken und Werkstätten sowie Wasserversorgungs- und Kanalisationsanlagen zerstört. Im Laufe der „Operation Gegossenes Blei“ wurden durch israelische Angriffe 29 Krankenwagen und fast die Hälfte der 122 Gesundheitseinrichtungen Gazas, darunter 15 Krankenhäuser, beschädigt oder zerstört sowie 16 medizinische Fachkräfte in Ausübung ihres Dienstes getötet und weitere 25 verletzt. Es wurden zielgerichtet Moscheen zerstört und Minarette von den Soldaten als Zielscheiben zum Schießen mit schweren Waffen benutzt.
Amnesty International hatte dazu festgestellt, dass die Zerstörung ziviler Gebäude und ziviler Infrastruktur zum großen Teil „mutwillig“ erfolgte und „aus der vorsätzlichen und unnötigen Zerstörung von Eigentum, direkten Angriffen auf zivile Objekte und willkürlichen Angriffen“ resultierte, „bei denen nicht zwischen legitimen militärischen Zielen und zivilen Objekten unterschieden wurde“. Finkelstein lässt es nicht dabei bewenden, die Opfer und Zerstörungen aufzuzählen, sondern er stellt die Frage nach dem Sinn des Krieges und nach den Ursachen. Das Fazit lautet: die Todesopfer und die Zerstörungen waren nicht „Kollateralschäden“ eines ansonsten gegen einen militärischen Gegner geführten Krieges, sondern Ziel der Gaza-Invasion. Den Palästinensern und den Staaten der Region sollte vor Augen geführt werden, „dass Israel bereit, willens und in der Lage ist, mit unverhältnismäßiger Gewalt – einer Gewalt, deren Ausmaß Vertreter Israels selbst als ‚verrückt‘ bezeichnet haben – gegen eine Zivilbevölkerung vorzugehen“.
Das gewinnt im Gesamtzusammenhang des Ringens um einen Frieden im Nahen Osten besondere Bedeutung. Bereits 1956, in Verbindung mit dem Suez-Krieg Großbritanniens und Frankreichs, besetzten israelische Truppen den Gaza-Streifen und erschossen Hunderte Palästinenser. 1957 mussten sie abziehen, besetzten im Juni-Krieg 1967 jedoch erneut den Gaza-Streifen und waren zum Bleiben entschlossen. Der Widerstand gegen die Besatzung wurde durch willkürliche Verhaftungen und Erschießungen, die Zerstörung von Häusern und Zitrusplantagen sowie scharfe Ausgangssperren unterbunden. Finkelstein widerspricht der Darstellung, das Oslo-Abkommen mit der PLO, das 1993 vor dem Weißen Haus in Washington ratifiziert wurde, habe nichts gebracht. Aus israelischer Sicht brachte es eine Erhöhung der Effektivität der Besatzung, weil es zum Heranziehen einer Klasse palästinensischer Kollaborateure führte. Demselben Zweck diente auch der einseitige israelische Rückzug aus dem Gaza-Streifen 2004/05 unter Ministerpräsident Scharon. Er erfolgte ohne Verhandlungen mit der palästinensischen Seite. Damit sollte der internationale Druck, der auf Israel lastete, nachlassen und zugleich der politische Prozess auf Eis gelegt werden. „Und wenn man diesen Prozess auf Eis legt, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates“, wird ein damaliger Berater Scharons zitiert.
Das war, wie Finkelstein deutlich macht, auch schon Anfang der 1980er Jahre Kriegsgrund. Ende der 1970er Jahre hatte die PLO Yassir Arafats auf Verhandlungen und eine Zweistaatenlösung orientiert. Die meisten arabischen Staaten und viele Staaten der Welt unterstützten dies. Arafat wollte den historischen Kompromiss, die israelische Regierung jedoch nicht. Sie sabotierte die Zweistaatenlösung, indem sie die PLO als potenzielle Verhandlungspartnerin ausschaltete. Das geschah durch eine Reihe von Provokationen und schließlich den Krieg gegen die PLO und Libanon im Juni 1982. Die militärischen Strafaktionen waren auch damals unverhältnismäßig und trafen vor allem die Zivilbevölkerung. Der Gaza-Krieg 2008 erfolgte zu einem Zeitpunkt, nachdem die Hamas signalisiert hatte, dass sie – entgegen immer wieder vorgetragenen, anderslautenden Behauptungen – zu Verhandlungen mit Israel bereit ist. Der Krieg von 2008 folgte dem Drehbuch von 1982, nur dass der damals behauptete „Terrorismus der PLO“ durch den der Hamas ersetzt worden war.
Außer der Verhinderung der Zweistaatenlösung – bei der die israelische Regierung aktuell auch von den Regierungen der USA und Deutschlands unterstützt wird – wurde mit der Gaza-Invasion jedoch auch ein weiterreichender Zweck verfolgt. Im Jahre 2000 hatte die Hisbollah den Rückzug der israelischen Besatzungsarmee aus dem Libanon erzwungen. Das ließ die strategischen Planer Israels um seine „Abschreckungsfähigkeit“ bangen. 2006 wurde unter einem Vorwand erneut Krieg gegen die Hisbollah geführt, der trotz Großeinsatzes der Luftwaffe und von Bodentruppen wiederum zu einer Niederlage wurde; die Bodentruppen erlitten schwere Verluste. Mitte 2008 versuchte Israel dann, die USA zu einem Militärschlag gegen den Iran zu veranlassen, in der Hoffnung, ein solcher Angriff werde auch die Hisbollah – als „Juniorpartner“ Irans – entscheidend schwächen. Die Bush-Regierung in ihrer Endphase war dazu jedoch nicht mehr bereit. So wurde ein anderes, „weiches“ Ziel gesucht, an dem man die „Terrorisierungsfähigkeit“ demonstrieren konnte, ohne größere eigene Verluste erwarten zu müssen. Die Wahl fiel auf Gaza. Nicht nur den Palästinensern, auch den Staaten der Region sollte gezeigt werden, dass Israel in der Lage ist, „mit unverhältnismäßiger Gewalt“ vorzugehen und „immense Schäden und Zerstörungen“ anzurichten.
Am Ende jedoch hat die Gaza-Invasion den Unmut über diese Art Politik Israels weltweit vergrößert. Mit seinem Buch will Finkelstein nicht nur die ungeschminkte Wahrheit über den Gaza-Krieg sagen, sondern auch dazu beitragen, jetzt erst recht darum zu ringen, jene Konfliktlösung herbeizuführen, die Palästinensern wie Israelis die Chance auf ein menschenwürdiges Leben gibt. Allen, denen es wirklich um einen gerechten und dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina geht, sei dieses Buch dringend empfohlen.
Norman G. Finkelstein: Israels Invasion in Gaza,Edition Nautilus, Hamburg 2011, 224 Seiten, 18,- Euro
Schlagwörter: Gaza, Hamas, Israel, Norman G. Finkelstein, Peter Petras, PLO