von Günter Hayn
Die deutsche Romantik lebte in Traumlandschaften, derweil die Stiefel der napoleonischen Grenadiere durch Europa dröhnten. Die Baumeister des realen Sozialismus lebten in visionär-kommunistischen Landschaften, die umso heftiger beschworen wurden, je akuter der ganze Laden zusammenzubrechen drohte. Dann kamen die „blühenden Landschaften“ des bekennenden Saumagenessers. Da krachte alles zusammen, jedenfalls im östlichen Teil eines seitdem – auch in seinem westlichen Teil – unter Auszehrung leidenden Landes. Da uns treuen deutschen Bärenhäutern – so sah uns Heinrich Heine – die Fürsten, Führer, die Partei(en) und sonstige schirmende Dinge abhanden kamen, schaffen wir uns neuerdings „Erinnerungslandschaften“, in denen sich trefflich über die uns von uns selbst zugefügten Verluste trauern lässt. Landschaften müssen es sein, da hängt alles so wunderbar zusammen. Nörglern und Kritikastern, die schon der Dr. Goebbels nicht mochte, kann man dann leicht entgegnen, dass sie die subtilen Zusammenhänge nicht verstünden. Und in Landschaften gibt es immer ein paar Büsche, in denen sich etwas verbergen lässt. Trost jenseits der Trauer hingegen finden wir seit dem Wartburgfest an Orten nationalen Gedenkens, die immer etwas mit der Verehrung uns naher Toter zu tun haben müssen, sonst funktioniert das Verteilen des selbst erteilten Ablasses nicht. Da müsse was „Lebiges“ rein, erklärten die Bauern dem entsetzten Schimmelreiter und Deichgrafen Hauke Haien, als der sie erwischte, wie sie einen lebendigen Hund im neuen Deich eingraben wollten. Hat man keine „eigenen“ Toten, die eigenen Opfer sind in Deutschland allemal zur Hand.
Landschaften, auch „Erinnerungslandschaften“ kann man bauen. Das ist keine deutsche Besonderheit. Sehr deutsch ist die mit solch Gedenkwerken angestrebte endgültige Festlegung von Inhalt und Form des jeweiligen „Erinnerns“. In Deutschland wird Erinnerung gern verordnet. Der funktionale Unterschied zwischen den „Thesen des Zentralkomitees der SED“ zu den diversen Jahrestagen des erwünschten kollektiven DDR-Gedächtnisses und den – zumeist einstimmig beschlossenen – „Erklärungen“ heutiger Parlamente ist minimal. Beabsichtigt ist in jedem Falle eine Art Kodifizierung. Wehe dem, der auch nur andeutungsweise versucht, diese in Frage zu stellen. Die Strafe kann heftiger nicht sein: Ausstoß aus der Erinnerungsgemeinschaft, dem Bündnis der „Anständigen“. Derzeit widerfährt dies der Linkspartei, weil einige ihrer – nicht gerade solche der ersten Reihe – Politiker missdeutbare bis dümmliche Äußerungen zur israelischen Palästinapolitik von sich gaben. Paradoxerweise geschieht dies einer Partei, deren antifaschistischer Grundcharakter zumindest von den Alt- und Neonazis aller rechten Strömungen mitnichten in Frage gestellt wird.
Aber auch die materialisierten Landschaftsorte bieten Paradoxien in Fülle: Zum Bestand der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße in Berlin gehört eine Wand des Gedenkens, in der in kleinen Nischen Fotos der an der Mauer gestorbenen Menschen – natürlich mit Ausnahme der DDR-Grenzsoldaten – zu sehen sind. Die Autoren dieser Idee hatten die Absicht, einen Ort des individuellen Gedenkens, einen Ort der Trauer für die Angehörigen schaffen zu wollen. Lassen wir einmal beiseite, dass aus dem Ort der individuellen Trauer durch die Art der Gestaltung wieder ein sehr kollektiver „Erinnerungsort“ wurde, so wird der Betrachter inzwischen durch eine besondere Art der „Aneignung“ irritiert: Neben einzelnen Blumen liegen vor den Fotos der Toten kleine Steine, viele Steine. Steine liegen auf jüdischen Grabsteinen. Es ist nicht anzunehmen, dass der Hintergrund dieser Tradition den an der Bernauer Straße ihre Betroffenheit auf diese Weise Ausdruck verleihen Wollenden in jedem Falle bewusst war. Das Nachahmen eines jüdischen Ritus schon. Dass oftmals jüngere Touristengruppen eine andere als die kodifizierte Aneignung von Peter Eisenmans „wogendem Getreidefeld“ praktizieren, die Stele des Holocaust-Mahnmals quasi als Spiel- und Ruheort „umnutzen“, weist ebenso auf die Kluft zwischen einer „von oben“ verordneten „Erinnerungskultur“ und deren praktischer Rezeption durch das bundesdeutsche Staatsvolk hin. Etwas scheint nicht zu stimmen mit dem kollektiven Erinnern in Deutschland.
Die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe Christian Schneider spüren dem aus der jeweils eigenen fachlichen Sicht in ihrem Buch „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ nach. Sie befassen sich mit einem Tabuthema deutscher Erinnerungspolitik: dem Umgang mit der Shoah, verräterischer Weise im deutschen Politiksprech immer noch als „Holocaust“ verharmlost. Jureit versucht einen kulturkritisch determinierten Überblick über die Geschichte des deutschen Gedenkens an die eigenen Untaten. Der geriert zu einem atemberaubenden Parforceritt durch eine Geschichte von unter dem Vorzeichen von Aufklärung unternommener Verdrängung und de facto „Uminterpretation“ der Shoah ausgerechnet durch die Nachgeborenen der Mördergeneration. Sie weist nach, „dass die kollektive Verständigung über das Erinnern an den Holocaust sich …als von generationenspezifischen Erinnerungsmustern geprägt zeigt.“ Hier liegt das Problem. Sowohl Ulrike Jureit als auch Christian Schneider zeigen auf, wie es der zweiten (bundes-) deutschen Nachkriegsgeneration gelang, in der Auseinandersetzung mit den unter Generalmordverdacht gestellten „Vätern“ aus der Situation des „Täter“-Kindes in die des „gefühlten Opfers“ (oder des „Entronnenen“, wie Schneider in Anlehnung an Theodor W. Adorno formuliert) zu schlüpfen. In der Folge werden, so Jureit, die sechs Millionen umgebrachten Juden nicht als „Opfer von Deutschen verübten Massenmordes erinnert, sondern als eigene Tote rituell vereinnahmt.“ Dass sich hier eine „Erinnerungsgemeinschaft“ der „spezifischen deutschen Ambivalenz des Holocaust-Gedenkens durch Identifikation mit den Opfern zu entledigen sucht“ (Jureit), mögen uns nachfolgende Generationen noch nachsehen. Dass diese Art des Umganges mit Geschichte aber neurotische, also blutige, Folgen auf die deutsche Außenpolitik zeitigt – Christian Schneider beschreibt solche Entwicklungen am Beispiel des unter dem Motto „Nie wieder Auschwitz!“ die Republik in ihren ersten Krieg getrieben habenden Außenministers Joseph Fischer – werden unsere Nachkommen nicht mehr tolerieren.
Die seien allerdings, so Jureit über die Sicht der heute die „Deutungshoheit“ innehabenden Generation, sowieso – vor allem in Bezug auf die deutsche Vergangenheit – moralisch weniger gefestigt. Auch dieses Generationenmisstrauen erkläre eine fast inflationäre Flut an Gedenkunternehmungen, die zu be- oder gar zu hinterfragen politischen Selbstmord bedeutet. Wenn Christian Schneider allerdings versucht, in der Auseinandersetzung mit einer offenkundig desaströs verlaufenen, die „Holocaust-Erinnerung“ der Achtundsechziger aber bestimmenden Rezeption von Alexander und Margarete Mitscherlichs „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) „den Wunsch nach ungeschehen machen“ quasi als „Generationsprojekt“ zu formulieren, scheint mir das Instrumentarium der Tiefenpsychologie denn doch zu tief zu schneiden. Die Warnung vor den Folgen einer fortwährenden Entmündigung unserer Kinder und Kindeskinder durch eine theologische Sakralisierung der Shoah – gegen die sich schon Adorno wandte – ist eindringlich genug. Dass sich die Methode der Schaffung solchermaßen determinierter Erinnerungslandschaften nicht mit dem „Holocaust-Gedenken“ erledigt hat, zeigt der aktuelle Umgang mit dem geschichtlichen Erbe des zusammengebrochenen Sozialismus im heutigen Europa. Der kürzlich via BILD geäußerte Vorschlag, Berlin am 13. August eine Minute des Stillestehens des gesamten Verkehrs zu verordnen, höbe den „Mauerbau“ auf die gleiche Stufe wie Auschwitz und Hiroshima – und wäre der Schlussstein einer totalitarismusversessenen Geschichtspolitik, deren höchstes Interesse immer noch darin besteht, die eigenen Schandtaten zu relativieren. Das Buch von Ulrike Jureit und Christian Schneider ist zugegebenermaßen eine Provokation. Allerdings eine notwendige, wie ich finde. Was in ihm fast völlig fehlt, ist die Frage nach den Nutznießern der von den Autoren einer Generalkritik unterzogenen deutschen Erinnerungspolitik.
Ulrike Jureit/Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 253 Seiten, 21,95 Euro
Schlagwörter: Christian Schneider, Erinnerung, Geschichtspolitik, Günter Hayn, Shoa, Ulrike Jureit