14. Jahrgang | Nummer 16 | 8. August 2011

Die Mauer

von Renate Hoffmann

Zuerst löste die Nachricht Ungläubigkeit aus, ja Kopfschütteln, wie über einen schlechten Scherz. Wie sollte denn eine Mauer die lebendige Stadt zerteilen können; festlegen, dass man nur auf einer Straßenseite gehen darf, den Verkehr blockieren, die Arbeitsmöglichkeiten beschneiden, Familien und Freundschaften trennen – das Leben einschränken? Was geschah mit den Menschen hinter der Mauer? Und wo war eigentlich „hinter der Mauer“? Es konnte doch nur eine Farce sein, ohne Sinn angelegt und mangelhaft aufgeführt. Außerdem klang Walter Ulbrichts Absichtserklärung vom Juni 1961 noch im Ohr, dass niemand vorhabe, eine Mauer zu bauen. Doch die Ernüchterung wuchs rasch.
Ich fuhr nach Berlin. Zur Inaugenscheinnahme. An der Bornholmer Straße sah ich das noch unfertige Bauwerk. Aus der Ferne. Schaulustige waren unerwünscht. Bewaffnete Posten. Aufgeregte Menschen. Einer schrie: „Das gibt Krieg!“
Erst kam die Lähmung. Verunsicherung und Ratlosigkeit folgten. Was geschah nach diesem lebensbedrohlichen Einschnitt? Würde der Mann mit dem Aufschrei Recht behalten? Bleiben oder Gehen? Ausharren oder alle Bande zerschneiden? Gehen? Doch wohin und wie? Fragen über Fragen. Unruhe überschattete den Alltag.
Die Mauer dehnte sich aus. Nicht nur in der großen Stadt. Sie umzog das Land, riegelte es ab nach Süd, West und Nord. Wer die Umzingelung durchbrechen wollte, tat dies unter Lebensgefahr. – Keine Farce mehr, sondern die logische Abfolge eines ausgeklügelten Planes, getarnt durch fadenscheinige Argumente. Die Zeit lief. Die Zerrissenheit blieb. Versuche, über die Rhodopen oder übers Meer das Land zu verlassen, scheiterten. Aus Halbherzigkeit. Also doch bleiben?
Von der Innerdeutschen, der „Grünen Grenze“, einer Fortführung der Berliner Mauer auf Landesebene, gab es derzeit nur vage Berichte. Sie reichten von einfachen Patrouillengängen im Grenzgebiet bis zu vermintem Gelände, gefährlichen Absperrungen, unter Flutlicht liegenden Ödstreifen und gezielten Schüssen.
Mit einem Berechtigungsschein zum Betreten der Landschaft um Ilsenburg versehen, reiste ich in den Harz. Der Brocken, Norddeutschlands höchster Berg, sei noch begehbar, hieß es. Ich wollte mir ein Bild verschaffen. Durch das Ilsetal, am gleichnamigen Flüsschen entlang, wanderte ich bergwärts. Nahm Abkürzungen im Wald und ging – nicht ohne Herzklopfen – in den warmen Spätherbsttag hinein; Heinrich Heines „Harzreise“ in der Tasche. Er hatte sich 1824, von Göttingen aus, auf den Weg zum Brocken begeben. Vielleicht konnte ich ihm ein Stück entgegen gehen.
Mit zwiespältigen Gefühlen durch Blättergeraschel und über knackende Äste; ab und an warf ich einen Blick in Heines Schilderungen. „HALT! STEHEN BLEIBEN! GRENZPOSTEN!“ Ich erstarrte. Zwei Grenzsoldaten standen vor mir. Sie schienen aus dem Nichts gekommen zu sein. Ich wies Berechtigungsschein, Ausweis und … das Reclam-Heft „Die Harzreise“ vor und erklärte meine literarisch-naturbetonten Absichten. Die Patrouille hielt mich wohl für eine unbedarfte Außenseiterin – und ließ mich gehen. Die Begegnung mit Heine rückte in unbestimmbare Fernen.
Inzwischen erhielt man genauere Nachrichten von den Geschehnissen. Fluchtgänge untergruben die Berliner Mauer; Ballons überflogen die „Grüne Grenze“, andere Wege wurden ausfindig gemacht und in Angst und Schrecken begangen. Man erfuhr von misslungenen Fluchtversuchen, von Umsiedelungen in den grenznahen Landstrichen. Von Inhaftierten, Verletzten und Toten.
Ich versuchte, mich abzufinden. Und blieb. Nicht halbherzig! Nach der gefällten Entscheidung mit einer gewissen inneren Sicherheit ausgestattet, verlangte es mich nach einer Herausforderung. Im Meininger Museum „Baumbach-Haus“ sah ich eine Schuldverschreibung, die auf einen Herrn „Dr. Ritter“, alias Friedrich Schiller lautete. Er hatte in Bauerbach, wo ihm die Gutsherrin Henriette von Wolzogen nach seiner Flucht aus Stuttgart Asyl gewährte, unmäßig über seine Verhältnisse gelebt und schuldete dem dortigen Gastwirt eine beachtliche Summe. Ich wollte in Bauerbach die „Schillergedenkstätte“ besuchen. Der kleine Ort liegt südlich von Meiningen und befand sich damals in der Sperrzone zur bayerischen Grenze. Ohne Berechtigungsschein und ohne „Kabale und Liebe“ in der Tasche, standen meine Chancen schlecht.
Ein Schlagbaum, noch weitab von der Gemeinde, sperrte die Straße. Mehrere bewaffnete Grenzposten umstanden das Auto. Aussteigen, Ausweiskontrolle, notieren der Personalangaben, bohrende Fragen. Ich erlaubte mir eine provokante Antwort: Wir hätten eine persönliche Einladung von Friedrich Schiller in Bauerbach, und ich sei unterwegs zu einem Interview mit ihm … Aber der Spaß fiel ins Leere. Die Zurechtweisungen wirkten bedrohlich. Ich blieb nunmehr jede Antwort schuldig und dachte besorgt an mögliche Folgen.
Angst ging um. Die Mauer, Kennzeichen des Kalten Krieges, tat ihre Wirkung. Ihr Sicherheitsgrad nahm von Jahr zu Jahr zu. Manches Mal schlichen sich Assoziationen mit George Orwells Roman „1984“ ein, den man sich irgendwie beschafft hatte.
Das Bollwerk gewährte auch Durchlässe. Zum Beispiel den älteren Bürgern (aus gutem Grund, man verlor nicht viel an ihnen). Als ich mich dieser Zielgruppe näherte, durfte ich reisen. In Westberlin, der Zwischenstation, bestand ein Freund darauf, mir die Mauer von der alliierten Seite aus zu zeigen. Von Beobachtungsplattformen konnte man die Grenzabsperrungen in ihrer ganzen Ausdehnung überblicken. Touristen standen neben mir. Sie gestikulierten, fotografierten und hielten die menschenverachtende Szene für eine willkommene Gelegenheit, ihre Sensationsgier zu befriedigen. Betroffen und angewidert wandte ich mich ab.
Dann fiel sie. Im November 1989, nach achtundzwanzig Jahren ihres traurigen Bestehens. Tagebuch-Eintragungen: „9. November. Heute Abend sind die Grenzen zur BRD gefallen. Tiefe Bewegung. Keiner kann es fassen. Ein großer historischer Tag. 10. November: … Die Mauer ist in beiden Richtungen durchgängig. Unvorstellbar.“ Wieder regten sich Ungläubigkeit und Zweifel. Doch die politischen Ereignisse überschlugen sich. Am 22. Dezember öffnete das Brandenburger Tor seine Durchgänge. Berlin lag im strömenden Regen. Die Menschenmenge auf dem Boulevard „Unter den Linden“ wogte buntbeschirmt in zwei Richtungen: Zum Brandenburger Tor, vom Brandenburger Tor und – unlängst noch utopisch – durch das Tor hindurch. Auf den nassen Bänken saßen Leute, lachten und diskutierten erregt. Ein Weihnachtsbaum leuchtete. Um die Säulen des  Langhansschen Bauwerkes vollzog sich Geschichte. Trüppchen west-östlicher Ordnungshüter unterhielten sich; die östlichen wirkten noch etwas verklemmt. Reporter fragten nach Gedanken und Gefühlen. „Ick stehe zwar hier“, antwortete ein Berliner, „aber ick gloobe trotzdem, ick spinne.“
Drehorgelmusik, Würstchen- und Glühweinverkäufer. Am Brandenburger Tor spielte eine Bläsergruppe zum Mitsingen: „Tochter Zion, freue dich“ und „Stille Nacht“ und „Es ist ein Ros entsprungen“. Der junge Mann neben mir sprach mich an. Mit seinen Freunden wollte er dabei sein, wenn sich das geschichtsträchtige Tor wieder öffnete. Er wohnte in Wilmersdorf, und seine Freunde kamen aus den USA, Japan, Spanien und Hamburg. „Ich bin aus Lichtenberg“, sagte ich und holte mitgebrachten Sekt und Stollen aus der Tasche. Letzterer war ein wenig durchgeweicht. Wir wünschten uns „Merry Christmas“  und tranken auf Gewaltlosigkeit und Frieden, Frieden, Frieden …
Die Erinnerung kehrte zurück. Im Jahr 1990 fuhr ich nach Göttingen. „Die Harzreise“ und Heines Gedankenwelt wieder in der Tasche. Und ging, wie er, auf die Wanderschaft. Diesmal sollte mir niemand den Aufstieg zum Brocken verwehren. In der Nähe von Torfhaus führt der Weg zur Höhe. Noch blieb ich allein, geriet dann aber in eine deutsch-deutsche Wallfahrt und reihte mich ein. An den regennassen Bäumen hingen historische Schilder: „Hier war bis 1990 die Grenze“ – „Der Goetheweg endet hier für Wanderer! Im Sperrgebiet der DDR führt er in 2,5 km zum 1142 m hohen Brocken. Er quert dreimal die Brockenbahn, überwindet das Hochmoor und endet vor der kilometerlangen Betonmauer, die den Gipfel einschließt.“…
Grenzpfähle, mannshohe Wachtürme mit Schlitzen, abgeholzte Flächen, Metallzäune, auf denen elektrische Anlagen montiert waren, Scheinwerfer, aufgerissener Boden. Am Haltepunkt der Brockenbahn war ein provisorischer Hinweis angebracht: „Ersatzweg zur Zeit auf dem Bahndamm. Wir bemühen uns um Neuanlage des Goetheweges.“ – Nebelschwaden zogen auf. Der Berg tat gut daran, sein Unglück zu verhüllen. Wir gingen auf einer Geisterbahn. Ein Armeefahrzeug näherte sich. Alle erschraken ein wenig mehr als angemessen.
In Gipfelnähe führte die Straße durch eine Maueröffnung in die Festung. Ich verließ sie an der gegenüberliegenden Seite durch ein Ausgangsloch. Mauer und hoher Metallzaun begleiteten den Hirtenstieg. Wie eine tiefe Wunde zog sich die weithin sichtbare deutsche Grenze durch das Land. – Ich befragte Forstarbeiter nach dem Abstieg ins Ilsetal. „Bis zum nächsten Wachturm, dann nach rechts.“ Symbole der Bewachung waren zu Wegzeichen geworden. Das verwächst sich – sagt man. Doch eine Mahnung zur Vernunft muss bleiben.
Wenn ich in Berlin über den Potsdamer Platz gehe und die schmale Metallplatte passiere, die am Boden den ehemaligen Mauerverlauf kennzeichnet, tut sich die Vergangenheit auf. Was heute von vielen Menschen leichtfüßig überschritten wird, trennte gestern noch Welten voneinander.