14. Jahrgang | Nummer 16 | 8. August 2011

Bemerkungen

Trügliche Folge von Dauerregen

Als der Regen die siebenundzwanzigste Stunde ohn’ Terlass aufs Dach unseres Ferienhauses geprasselt war, träumte mir plötzlich, ich hätte den Urlaub nicht in Schweden, sondern in Garn verbracht. Dort, wenigstens, schien die Sonne. Ich lebte bei einem Garn und einer Garin, und alles war in schönster Harmonie. Die Garn sind ein warmherziges, gastfreundliches Volk. Mein garischer Gastgeber widmete sich tagsüber den Pferden, die garische Gastgeberin dem Krautzupfen im Garten.
Alles war gut, bis eines Tages gestüm ein Hold durch die Gartentür brach. Der Hold warf sich auf die Garin, danach dieselbe über seine glaublich starke Schulter und versuchte, mit ihr davon zu kommen. Der Gar im Stall hörte den Lärm und griff wirsch nach der Mistgabel. Mit dem Ruf „Wart nur, Getüm! Du wirst hier keinen Fug mehr anrichten!“ stürzte er sich auf den Hold und jagte ihn hinaus in die ermesslichen Weiten der garische Steppe. Der Hold ließ die Garin ins Kraut fallen, und erst, als die Entfernung groß genug war, drehte er sich um und rief flätige Worte.
Der Regen ging in die achtundzwanzigste Stunde, und mir fiel kein Sinn mehr ein. Die Redakteurin rief an und sagte: „Mit soviel Verstand hätte ich bei dir wirklich nicht gerechnet. Du bist doch fähig, einen halbwegs tadeligen Text zustande zu bringen!“ Dank ist der Welten Lohn.

Per-Olof Slakmöre

Five Gentlemen – am Rand und anderswo

Das Theater am Rand in Zollbrücke – mitten im Oderbruch und auf Tuchfühlung mit dem Fluss – hat die Phase, als es noch ein Geheimtipp war, längst hinter sich gelassen. 1998 von dem Schauspieler Thomas Rühmann, den eifrige Fernsehkieker sofort als Dr. Heilmann in der TV-Serie In aller Freundschaft verorten, und dem ebenso genialen wie schrägen Akkordeonisten Tobias Morgenstern, weiland Mitbegründer der Gruppe L’art de passage, aus der Taufe gehoben, hat sich die Spielstätte im Laufe weniger Jahre den Ruf erworben, ein Ort für besondere Theater- und Konzerterlebnisse zu sein.
Den hat sie auch jüngst wieder gerechtfertigt, als die Five Gentlemen aus Leipzig gastierten. Deren Spezialität sind Werk und Leben der legendären Comedian Hamonists. Die Außentemperatur war trotz Hochsommer (Juli) eher herbstlich, ein dazu passender böiger Wind pfiff um die nach außen offene Bühne und von dort bisweilen auch in den Zuschauerraum, und ein formidabler Landregen komplettierte das wenig einladende äußere Ambiente des Abends. Doch nur bis die fünf Schwiegermuttertypen – in anderen Landesteilen würde man von feschen Mannsbildern sprechen – im eleganten Frack das Podium betraten und mit „Veronika, der Lenz ist da“ nicht nur das passende Kontrastprogramm zum Weltuntergang im Oderbruch lieferten, sondern auch schon mit den ersten Takten klar machten: Da stehen Könner ihres Fachs, die den Vergleich mit dem Original nicht scheuen müssen. Ein Ohrwurm folgte dem anderen – von „Mein kleiner grüner Kaktus“ über „Oh, Donna Klara“ bis zum „Glühwürmchen-Idyll“ und darüber hinaus.
Gregor Meyer (Piano) , Falko Thümmler (1.Tenor) , Tobias Leißner (Bariton), Matthias Mehnert (2.Tenor) und Andreas Konrad (Bass) – so heißen die Five. Sie haben alle einen Hauptberuf: Der erste leitet den Gewandhauschor zu Leipzig, der zweite ist als Syndicus und Anwalt tätig, der dritte als Geschäftsführer einer Künstleragentur, der vierte ist Gymnasiallehrer mit Abschluss in Musik und Mathematik, und der fünfte ist Pfarrer der evangelischen Landeskirche in Thüringen. Und zusammen geben sie nicht nur das Erscheinungsbild des Gentlemans par excellence ab, sondern sind ein so mitreißendes Vokalensemble, dass das Publikum im Theater am Rand sich unter Zuhilfenahme rhythmisch stampfender Füße drei Zugaben erklatschte.

Alfons Markuske

Nächste Konzerttermine: 22.10.2011, 17:00 Uhr – Wermsdorf , Schloss Hubertusburg (Tickets: 034364-81132); 06.11.2011, 16:00 Uhr – Bernitt, Schule (Tickets: 038464 20227); 10.11.2011, 20:00 Uhr – Leipzig, Neues Gewandhaus (Tickets: 0341-1270280)

Bedeutung des Individuellen

Das Individuum geht verloren, das Andenken desselben verschwindet, und doch ist ihm und anders daran gelegen, daß es erhalten werde.
Jeder ist selbst nur ein Individuum und kann sich eigentlich nur fürs Individuelle interessieren. Das Allgemeine findet sich von selbst, dringt sich auf, erhält sich, vermehrt sich. Wir benutzens, aber wir lieben es nicht.
Wir lieben nur das Individuelle; daher die große Freude an Vorträgen, Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedener, selbst unbedeutender Menschen.
Die Frage, ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, für den höflichsten aller Menschen.
Wenn sich einer nur mitteilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er das tut. Es ist gar nicht nötig, daß einer untadelhaft sei oder das Vortrefflichste und Tadelloseste tue; sondern nur , daß etwas geschehe, was dem anderen nutzen oder ihn freuen kann.
Man hat es Lavatern nicht gut abgenommen, daß er sich so oft malen, zeichnen und in Kupfer stechen ließ und sein Bild überall herumstreute. Aber freue man sich nicht jetzt, da die Form dieses außerordentlichen Wesens zerstört ist, bei so mannigfaltigen, zu verschiedener Zeit gearbeiteten Nachbildungen im Durchschnitt zu wissen, wie er ausgesehen hat?
Dem seltsamen Aretin hat man es als ein halb Verbrechen angerechnet, daß er auf sich selbst Medaillen schlagen ließ und sie an Freunde und Gönner verehrte, und mich macht es glücklich, ein paar davon in meiner Sammlung zu besitzen und ein Bild vor mir zu haben, das er selbst anerkannt.
Wir sind überhaupt von einer Seite viel zu leichtsinnig, das individuelle Andenken in seinen wahrhaften Besonderheiten als ein Ganzes zu erhalten, und von der andern Seite zu begierig, das einzelne, besonders das Heruntersetzende zu erfahren.

Johann Wolfgang von Goethe

Der ungekrönte König des Theaters

Erst kam Kotzebue – und dann eine Weile nichts. So lässt sich die Situation des Theaters zur Goethe-Zeit in Weimar und jenem Raum, der heute Deutschland heißt, bündig beschreiben. Mit anderen Worten: August von Kotzebue war der erfolgreichste Dramatiker um 1800. Das mag verwundern, weil der Träger dieses skurrilen Namens als Autor heute keine Rolle mehr spielt, obwohl von dem 1761 in Weimar geborenen Vielschreiber – der behauptete, manches Drama in nur zwei Tagen geschrieben zu haben – stolze 220 Schauspiele überliefert sind. Allein in Weimar wurden an genau 450 Abenden Stücke von Kotzebue aufgeführt. Zählt man die Gastspiele der Weimarer Bühne hinzu, kommt man auf insgesamt 670 Vorstellungen.
Anlässlich des 250. Geburtstages August von Kotzebues hat der Musikwissenschaftler Axel Schröter eine Biographie über den umtriebigen Autor veröffentlicht. Die Zahl der Studien, die sich Kotzebue widmen, ist sehr überschaubar. 1988 veröffentlichte Peter Kaeding unter dem Titel „Auch ein deutsches Dichterleben“ ein sehr lesenswertes Buch über den Schriftsteller, an das, mit gehörigem zeitlichem Abstand, erst Jörg F. Meyer 2005 mit der Arbeit „Verehrt. Verdammt. Vergessen. August von Kotzebue – Werk und Wirkung“ anknüpfen sollte. Dass sich so wenige Autoren an das Thema wagen, ist auch mit fehlenden Dokumenten zu erklären. „Authentische Zeugnisse“, so notiert Axel Schröter, sind „nur in Bruchstücken überliefert“.
Kotzebues Karriere begann im fernen Russland. 1781, im Alter von 20 Jahren, kam er nach St. Petersburg, wo dem Hofbeamten in der Folge auch Theatergeschäfte übertragen wurden. Das kam ihm, der in dieser Zeit als Autor von Dramen reüssierte, sehr entgegen. Nach Reval versetzt, schrieb er nebenberuflich weiter und gründete daselbst auch ein Liebhabertheater. Als sein Stück „Menschenhass und Reue“, das in Reval seine Uraufführung erlebt hatte, am Berliner Nationaltheater auf die Bühne kam, bedeutete das den Durchbruch für den damals 28 Jahre alten Dramatiker und den Beginn seiner einzigartigen Karriere als Theater-Autor.
Die stand für kurze Zeit auf der Kippe, da man Kotzebue im Jahr 1800 in die Verbannung nach Sibirien schickte. Auf Geheiß des Zaren Paul I. wurde er nach nur drei Monaten frei gelassen und, um das Unrecht wieder gut zu machen, von seinem Monarchen mit einem Landgut beschenkt, zu dem auch 400 Leibeigene gehörten. Das Erste, was Kotzebue übrigens sah, als er im April 1800 seinen sibirischen Verbannungsort Tobolsk erreichte, war zu seiner Freude, dass man am dortigen Theater seine Stücke ebenso spielte wie in London und Paris.
Kotzebue wurde, nicht zuletzt wegen der stets einschlagenden Wirkung seiner Dramen, heftig befehdet. Von den Romantikern im Allgemeinen und den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel im Speziellen. Und da der Erfolgsautor Kotzebue auch kein Kind von Traurigkeit war, gab er stets mit gleicher Münze zurück, wenn schriftgewordene Häme und Spott auf ihn niederhagelten. Kotzebue – dessen Eitelkeit so groß war wie sein Erfolg – fühlte sich nicht nur durch seinen Ruhm bestätigt, sondern er war von dem „aufrichtigen Glauben“ beseelt, so Axel Schröter, „er habe es verdient, mit Ehren und Ruhm überhäuft zu werden“.
Nicht nur, dass Kotzebue ein Meister theatraler Unterhaltung war, er starb auch einen Tod, der einer Tragöde würdig wäre. 1819 erstach der Jenaer Student und Burschenschaftler Carl Ludwig Sand den Dichter in Mannheim in dem Glauben, er, Kotzebue, wäre ein russischer Spion. Sands Attentat hatte aber keine andere Folge als die „Karlsbader Beschlüsse“, die die Meinungs- und Pressefreiheit einschnürten und so den ersten Überwachungsstaat schufen.
Der 114 Seiten umfassende „Versuch einer Annäherung“ liest sich spannend und deshalb sehr zügig. Leider bleibt die zentrale Frage ohne Antwort: Was genau machte das in der Literatur der Goethe- und späterer Zeit singuläre Phänomen namens Kotzebue aus? Bei allem Erfolg, der ihm zu Lebzeiten beschieden war, wurde er postum schnell vergessen. Warum? Weil, wer den Zeitgeschmack bedient, an den Tellerrand geschoben wird, wenn Neues zu schmecken ist? Auch die eingangs aufgestellte These, dass die „rasch einsetzende Negativkanonisierung“ von Kotzebues Werk „zum Teil zu Unrecht“ erfolgt sei, hätte man gern bestätigt gesehen.

Lars Berthold

Axel Schröter: August von Kotzebue. Erfolgsautor zwischen Aufklärung, Klassik und Frühromantik. Weimarer Verlagsgesellschaft, Weimar 2011. 144 Seiten, 24,80 Euro.

Berliner Bretterzaun

Dort, wo der einstige Verlauf der Mauer an der Köthener Straße durch eine steinerne Linie markiert ist, gibt es jetzt einen Bretterzaun, der eines der letzten Baugrundstücke in der Nähe des Potsdamer Platzes vor unbefugten Blicken schützt. Früher wurden solche Zäune mit Losungen wie „Schöner unsere Städte und Dörfer – mach mit!“ oder Schlimmerem geziert. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung des SED-Vermögens, pardon!, der SED-Diktatur hat den Zaun begrüßenswerterweise nun mit Plakaten ihrer Ausstellungen geschmückt, die über Geschichte aufklären sollen. Die neueste wurde Anfang August von einer Handvoll Journalisten feierlich eingeweiht. „Freiheit und Zensur – Filmschaffen in der DDR zwischen Anpassung oder Opposition“ lautet der Titel, der zumindest kein Anwärter auf den Konrad-Duden-Preis ist. Die Plakate der gemeinsam mit dem Wilhelm-Fraenger-Institut gestalteten Ausstellung wenden sich vorrangig an Schulen und Bildungseinrichtungen und werden durch ein Videopaket mit ausgewählten Filmbeispielen ergänzt – alles bei der Stiftung erhältlich. Der Filmwissenschaftler Claus Löser hat kundige Texte zu 22 beispielhaften Filmen verfasst (die ein Gestalter dann ein bisschen unkundiger hat werden lassen: einen Regisseur namens Kurz Maetzig gibt es nicht, auch wenn er zweimal so genannt wird), die viel über den DEFA-Film in der Zeitgeschichte berichten (wenn man auch nicht alle Einschätzungen, beispielsweise über mangelnden Feminismus bei der DEFA teilen mag). Der Kabarettist Peter Ensikat, der die DEFA von außen und innen erlebt hat, steuert einige satirische Frechheiten bei (und niemand hat gemerkt, dass er fälschlicherweise Wolfgang Leonhard das „ZDF-Magazin“ moderieren ließ). Bei der Eröffnung hielt der ehemalige Bürgerrechtler und heutige CDU-Politiker Rainer Eppelmann, auch Vorstandsvorsitzender der Stiftung Aufarbeitung, eine Wahlkampfrede, in der er betonte, dass der Mauerbau vor 50 Jahren nicht im Kontext des Kalten Krieges zu sehen sei. Er habe auch nicht den Weg zur Entspannungspolitik eröffnet. Er sei einfach nur menschenverachtend gewesen. Ein Glück, dass die Ausstellung am Bretterzaun differenzierter ist und vielleicht doch die Aufarbeitung befördert, die an Eppelmann vorübergegangen ist.

Frank Burkhard

Medien-Mosaik

Ein Debütfilm – und was für ein großer Wurf! Die Regisseurin Alix Delaporte, die für „Angèle und Tony“ selbst das Drehbuch schrieb, erzählt die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher, spröder Menschen, die ihre Gefühle nicht gern zeigen. Angèle und Tony haben sich aufgrund einer Annonce in einem Fischerdorf in der Normandie getroffen und schwanken zwischen Anziehen und Abstoßen. Angèle rückt nicht mit der Sprache heraus, und Tony rückt ihr nicht zu nahe. Erst allmählich entfaltet sich das Verhältnis der beiden, so dass es den Zuschauer ergreift. Alix Delaporte erzählt ihre Geschichte wie eine wortarme Novelle, die von den Hauptdarstellern Clotilde Hesme und Grégory Gadebois getragen wird. Von dieser französischen Debütantin können gestandene deutsche Filmemacher noch viel lernen! (derzeit in vielen deutschen Kinos).
Der Schauspieler Ernst Busch war ein gefeierter Galilei im BE und stand kurz vor dem selbstgewählten Ende seiner Laufbahn, und der Sänger Ernst Busch hatte eine nicht nur selbstgewählte Pause eingelegt. Da trat er zu seinem 60. Geburtstag in der Akademie der Künste nach Jahren wieder mit einem Liederprogramm auf. Damals wurde es mitgeschnitten, und dieser Tatsache haben wir es zu verdanken, dass im vergangenen Jahr endlich Ernst Buschs erstes und einziges „Live-Album“ erscheinen konnte. Auch die sparsamen Moderationen haben sich erhalten: Herbert Ihering und Otto Nagel kann man hören, und wer die Ohren spitzt, kann die Zwischenrufe der Weigel identifizieren. Die meisten Lieder sind Vertonungen von Hanns Eisler, der – und das macht die Aufnahme noch wertvoller – Busch selbst am Klavier begleitet. Neben einigen bewährten Busch-Titeln aus fremder Feder (darunter das „Seifenlied“ oder die „Thälmannkolonne“) singt der glänzend aufgelegte Jubilar auch einige Brecht-Titel, darunter die „Kinderhymne“, Lieder von Becher, aber den Hauptanteil in diesem Konzert gehört Eislers Tucholsky-Vertonungen. Neben bekannten Titeln wie dem „Sommerlied“ kann man hier auch selten gespielte Nummern hören, etwa „Rosen auf den Weg gestreut“ oder „Zuckerbrot und Peitsche“. Busch-Biograf Jochen Voit hat dazu ein lesenswertes deutsch-englisches Booklet zusammengestellt. (Ernst Busch 1960 Live in Berlin, CD, 74 Minuten, Akademie der Künste Berlin, 12,50 Euro)

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