von Sarcasticus
Es gibt Begriffe, die führen ein Schattendasein – in den hiesigen Leit- und Nebenmedien, sobald es um die Berichterstattung über soziale Tatbestände geht und diese ihrerseits den Tatbestand des Missstandes erfüllen. Ein solcher Begriff ist Ausbeutung – hier nicht der Natur oder des eigenen Talentes, sondern durchaus im klassischen Marxschen Sinne von: des Menschen durch den Menschen. Die Ware Arbeitskraft, die die überwiegende Mehrheit von uns auch heute zu Markte tragen muss, weil wir keine andere Erwerbsquelle zum Bestreiten des eigenen Lebensunterhalts haben, verfügt ja immer noch über die von Marx entdeckte Fähigkeit, mehr Wert zu produzieren, als sie selbst an Kapitaleinsatz, sprich Lohn oder Gehalt, erfordert. Diesen Mehrwert, für den wir Arbeiter oder Angestellten unentgeltlich arbeiten, streicht der Kapitalgeber ein, der zur Kaschierung des Vorganges offiziell den Titel Arbeitgeber trägt. Der Aneignungsvorgang an sich macht das Wesen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aus. Diese Zusammenhänge werden heute gern übersehen – nicht zuletzt, weil die „Lage der arbeitenden Klasse“, Gott sei Dank!, längst nicht mehr die ist, die Friedrich Engels in seiner gleichnamigen Schrift von 1845 für England beschrieben hat.
Aber – Ausbeutung im Sozialstaat? Das ist eine contradictio in adiecto, passt irgendwie nicht zusammen. Wo – dessen ungeachtet – in den realen Zuständen aber doch die hässliche Fratze der Ausbeutung aufgrinst, werden die Dinge dann halt in der Regel nicht beim Namen genannt, selbst wenn sie als unschön, unmoralisch oder wie auch immer empfunden und dargestellt werden. So erst am 3. August wieder geschehen – in dem ARD-Report „Das Hermes-Prinzip – Ein Milliardär und seine Götterboten“.
Die Sendung berichtete darüber, wie der Paketzustelldienst Hermes seine Profitabilität pflegt. Hermes gehört zur 100 Prozent der Otto Group. Auf deren Homepage heißt es: „Die Hermes Logistik Gruppe Deutschland ist mit 14.000 Paketshops der größte postunabhängige Paketzusteller von Geschäfts- an Privatkunden und von Privat- an Privatkunden.“ Und dafür beschäftigt das Unternehmen Zusteller. Sorry – beschäftigt ist der falsche Ausdruck. Hermes arbeitet vielmehr mit Subunternehmern, die formal selbstständig sind. Die Vorteile dieses Hermes-Prinzips? Grundsätzlich gespart werden schon mal sämtliche Sozialabgaben für Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Aber auch Sachkosten entfallen in erheblichem Umfang, denn die Beschaffung ihrer Fahrzeuge und deren Unterhaltung (Treibstoff, Versicherungen, Wartung, Reparaturen) sind Sache der Subunternehmer. Kein Problem, wenn die ordentlich bezahlt werden, sollte man meinen. Doch da liegt der Hase im Pfeffer: Ein Zusteller, der in der Sendung vorgestellt wurde, erhält 60 Cent pro Paket. Sorry – schon wieder unkorrekt. Pro zugestelltem Paket. Nicht also für Unzustellbares, das wieder ins Lager zurück muss, nicht fürs dortige Be- und Entladen und auch nicht für die An- und Abfahrt zum und vom Depot, die schon mal je ’ne Stunde dauern können. Der Zusteller brachte das auf die treffliche Formulierung: „Wir kriegen das Paket bezahlt, nicht die Arbeit.“ An einem der Tage, an denen ihn das ARD-Team begleitete, hatte der Mann 29 Sendungen im Auto und rechnete, nach Abzug aller Kosten, mit einem Schichtverdienst von drei Euro. So schlecht sei die Summe unterm Strich an anderen Tagen nicht, weil häufig mehr Zustellsendungen anfielen, schob der ARD-Kommentar nach, aber auch dann verdiene der Zusteller nicht viel – der Stundenverdienst liege generell bei lediglich rund drei Euro netto. Der Report sprach folgerichtig von Löhnen, „von denen mancher kaum leben kann“. Mal mit der Tochter ins Kino gehen? „Ist schwierig“, antwortete der Mann. Was ist, wenn man krank wird? „Das geht nicht.“ Er fahre auch mit Schnupfen oder Fieber, denn – keine Fahrt, gar kein Geld. „Und wer bezahlt dann die nächste Miete?“ Wie lebt man davon, wollte die Reporterin schließlich wissen. „Gar nicht […], und manchmal denkt man sich auch, holt man sich jetzt etwas zu rauchen oder zu essen.“
Ein anderer selbstständiger Subunternehmer, der ein so genanntes Sat(elliten)-Depot betrieb, wo die Pakete auf dem Weg von Hermes zum Empfänger einen Zwischenstopp einlegen, blieb aus seiner Partnerschaft mit Hermes auf einem Schuldenberg von 100.000 Euro sitzen. Er hatte seinerseits wieder selbstständige Subunternehmer beschäftigt, die dann ihrerseits die Pakete auch nicht unbedingt selbst zustellten, sondern dafür nochmals selbstständige Fahrer engagierten,
Die Zusteller am Ende der Kette tragen zwar Hermes-Bekleidung, aber rein juristisch hat die Otto-Tochter mit ihnen und ihren Arbeitsbedingungen nichts zu tun. In dem ARD-Report bestätigte ein Vertreter der Staatsanwaltschaft: „Unsere Ermittlungen im Allgemeinen haben ergeben, dass sämtliche vertraglichen und betriebswirtschaftlichen Risiken vom Paketdienstleister auf den einzelnen Subunternehmer abgewälzt sind, und deswegen sind wir machtlos.“ Das Dazwischenschalten mindestens eines formal von Hermes unabhängigen Relais’ (Sat-Depot) und die letztliche Atomisierung obermies bezahlter Zusteller durch Verträge mit selbständigen Subunternehmern haben für Hermes und die Otto Group noch einen weiteren Vorteil: Eine gewerkschaftliche Organisation von Widerstand gegen dieses System ist praktisch aussichtslos.
Dabei ist die Otto Group keine Heuschrecke, kein profitgeiler Hedgefonds, sondern ein deutsches Familienunternehmen. Mehrheitseigner (und Milliardär), Aufsichtsratsvorsitzender und Ex-Vorstandschef ist Michael Otto, unter dessen Leitung der Otto Versand zum global erfolgreichsten Versandhaus und zum zweitgrößten im Internethandel wurde. Zu Michael Ottos Zeit als Vorstandschef wurde allerdings auch das Hermes-Subunternehmersystem kreiert. Über den Unternehmer ist auf der ARD-Homepage zur Sendung zu lesen: „Otto ist ein Vorzeigeunternehmer, hoch gelobt für sein soziales und ökologisches Engagement, für seine Bereitschaft, ‚gesamt-gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen’. Dafür bekam er sogar das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern.“ Auch Ottos Vater, der Versandhausgründer und Mäzen Werner Otto, galt schon als Vorzeigeunternehmer. Von ihm ist die Aussage überliefert: „Einen Menschen zu enttäuschen, sein Vertrauen zu verlieren, ist schlimmer als ein Umsatzverlust. Den materiellen Verlust kann man durch Tüchtigkeit ausgleichen, der immaterielle Schaden ist nie wieder gutzumachen.“ Die Diskrepanz zwischen Anspruch bzw. Image und Wirklichkeit könnte, zumindest im Fall der Hermes-Subunternehmer, nicht größer sein.
Der Reichtum des Otto-Clans sprudelt im Übrigen auch noch aus anderen Quellen – etwa aus dem Unternehmen ECE, das in der Öffentlichkeit eher unbekannt ist. ECE betreibt derzeit unter anderem 132 Shopping Malls in 14 europäischen Ländern und in Katar; 20 weitere sind in Planung oder bereits im Bau. Dazu zählen so illustre Adressen wie das Alstertal-Einkaufszentrum in Hamburg, die Einkaufsgalerie Anger in Erfurt sowie die Potsdamer Platz Arcaden und Eastgate in Berlin.
Michael Otto – er hatte gerade vor Wirtschaftsstudenten in München über Unternehmertum und soziale Verantwortung doziert –, mit den Zuständen bei Hermes und der Entlohnung von Zustellern mit lediglich 60 Cent pro Paket konfrontiert, meinte: Die „ganz, ganz große Mehrheit“ der Zusteller „kann sehr gut davon leben […] man kann da auch vernünftig verdienen“. Bei den Subunternehmern gäbe es eine Zufriedenheitsquote von 99 Prozent.
Als das ARD-Team allerdings ein Subunternehmen in Duisburg, eines der größten Sat-Depots, das von Hermes selbst vorgeschlagen worden war, in Sachen Zufriedenheit aufsuchen wollte, gab es trotz anfänglicher Zusage keinen Zutritt. Durch den Zaun sah das Team dann jenen 60-Cent-Zusteller, der zuvor bereits vorgestellt worden war. „Alle glücklich und zufrieden?“, fragte die Kommentarstimme. Und der Report ließ anschließend keinen Zweifel daran, dass es die Vergütung durch Hermes selbst ist, die Subunternehmern keine auskömmliche Entlohnung nachgeordneter Kräfte gestattet.
Die Macher der ARD-Reportage hatten ihrer Sendung leitmotivisch die Frage vorangestellt: „Billiglöhne und soziale Verantwortung – wie geht das zusammen?“ Es bleibt natürlich ihr Geheimnis, warum sie die Frage nicht mehr auf des Pudels Kern hin formuliert haben: „Brutale Ausbeutung und soziale Verantwortung – wie …?“. Aber wer kann sich schon immer völlig frei machen vom Zeitgeist? In einem Lande, wo sich eine vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall gesponserte Initiative, die den Kapitalismus weit über das heutige Maß hinaus entfesseln will, Neue Soziale Marktwirtschaft nennt.
P.S.: Übrigens – der Hermes der griechischen Mythologie war nicht nur Götterbote und Schutzherr der Händler, sondern auch der Diebe.
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