von Thomas Ruttig, Kabul
Der von Präsident Barack Obama angekündigte Truppenabbau in Afghanistan wird das militärische Gleichgewicht dort kurzfristig nicht verändern, denn die Reduzierung wird langsam beginnen. Problematischer ist das Signal, das dieser Schritt an die Afghanen sendet – und ich spreche von jenen außerhalb der Machtpositionen, die sich vor den Konsequenzen fürchten, wenn der Abbau beendet ist und die internationale Aufmerksamkeit sowie die Entwicklungshilfe für Afghanistan nachlassen. Der Truppenabbau, so fürchten sie, wird einhergehen mit einer möglichen Machtteilung mit den Taleban, die wenig Rücksicht auf nach 2001 errungene Rechte und Freiheiten nehmen wird, nicht nur die für Frauen. Für diese Afghanen war Obamas Ankündigung der Anfang des Endes der weltweiten Unterstützung für ihr Land – zum dritten Mal nach 1989, als die Sowjets abzogen, dann während der Fraktionskriege der neunziger Jahre sowie vor dem 11. September.
Trotz aller Behauptungen über Erfolge, die das US-Militär und westliche Regierungen ausstreuen, hat die Anfang 2009 begonnene Truppenaufstockung (surge) die Aufstandsbewegung nicht unumkehrbar geschädigt und das strategische Gleichgewicht nicht nachhaltig zuungunsten der Taleban verschoben.
Die Netzwerkstruktur der Taleban ist ziemlich elastisch. Ja, während des surge wurden viele Taleban-Kommandeure getötet. Aber ihre Positionen wurden schnell wieder besetzt, und zwar oft durch jüngere und radikalere Newcomer. Ironischerweise hat die US-geführte Koalition so ihre eigene neue Strategie unterminiert: Hardliner dürften weniger Gesprächen zuneigen und wollen vielleicht erst einmal Rache nehmen, denn oft ersetzen sie ältere Brüder oder Cousins.
Andere Taleban verbargen sich während des surge einfach in Pakistan. Aber inzwischen ist eine Anzahl von ihnen zurückgekehrt, um an der asymmetrischen Frühjahrsoffensive der Taleban teilzunehmen, deren Existenz die NATO bestreitet. Natürlich handelt es sich nicht um offene Feldschlachten: Seit Mitte April haben die Taleban vier Provinz- und sogar Regionalpolizei-Chefs sowie einen Provinzgouverneur umgebracht, zwei weitere Gouverneure entkamen nur knapp dem Tod. Erstmals verletzten die Taleban einen NATO-General, den Deutschen Markus Kneip. Und das sind nur die prominenteren Opfer.
Eine dritte Kategorie von Taleban wurde durch die NATO-Angriffe aus ihren Operationsgebieten in benachbarte Distrikte verdrängt, wo sie ihre Aktivitäten fortsetzen. Das war sowohl im Süden als auch im Norden, den Provinzen Kundus und Baghlan, in denen die Bundeswehr operiert, der Fall. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nach erfolgreichen Operationen in Tala wa Barfak, das liegt in Baghlan, wichen die lokalen Taleban einfach weiter südlich ins Ghorband-Tal aus, das bis dahin einigermaßen ruhig gewesen war. Dort – und in anderen Gebieten – stiegen Taleban-Angriffe nach Ankündigung ihrer Frühjahrsoffensive sprunghaft an.
Neben der militärischen Seite sind die politischen Folgen des surge nicht zu unterschätzen. Statt die Taleban an den Verhandlungstisch zu zwingen, schloss die Koalition zunächst die Türen für Gespräche. Dabei lief bis 2008 in den Reihen der Taleban eine interne Debatte über die Weisheit und moralische Vertretbarkeit von Selbstmordattentaten, die einen Ansatz für politische Gespräche hätte darstellen können. Etwa zur gleichen Zeit hatten die Taleban einen Vertrauten ihrer Anführers Mullah Muhammad Omar, Agha Dschan Mutassim, zum Leiter ihrer politischen Kommission ernannt, einer Art Außenministerium, das auch für mögliche Kontakte mit dem Westen und/oder der afghanischen Regierung zuständig sein soll. Nachdem der surge begann, wurde er wieder abgelöst, und dissidente Stimmen – jene, die ein Ende des Blutvergießens wollten – verstummten. Die Reihen schlossen sich wieder, alle fielen zurück auf die „Parteilinie“: Keine Gespräche bevor alle ausländischen Truppen Afghanistan verlassen haben.
Der Westen könnte allerdings in eine Position der Stärke kommen – moralisch und politisch, nicht militärisch, wenn die jetzt folgende Truppenreduzierung – nach der Trennung der UN-Sanktionslisten für Taleban und al-Qaida – mit weiteren vertrauensbildenden Maßnahmen verknüpft werden würde. Über die Kabuler Regierung hinaus müssten zudem wichtige Sektoren der afghanischen Gesellschaft in eine umfassende Versöhnungsstrategie einbezogen werden, die nicht als Versuch gesehen werden darf, grundlegende Rechte und Freiheiten über Bord zu werfen. Das alles wäre weit wichtiger, als ein paar staubige Distrikte zu „säubern“.
Es wird jedoch nach den vergebenen Chancen schwieriger werden, tragfähige Gesprächskanäle zu öffnen, auch wenn es so aussieht, als ob es erste Erfolge gebe. Aber Kontakte und Kanäle sind noch keine Gespräche, und noch lange keine Verhandlungen. Das Misstrauen sitzt tief – und ist beiderseitig: Der Westen und viele Afghanen glauben nicht, dass die Taleban wirklich Frieden wollen, und die Taleban haben den surge und die damit verbundene militärische Eskalation der vergangenen beiden Jahre als Kriegserklärung aufgefasst. Und selbst wenn Verhandlungen funktionieren: Eine politische Abmachung zwischen den USA oder der Kabuler Regierung auf einer und den Taleban auf der anderen Seite wäre nur ein Element für die Lösung des afghanischen Konfliktknäuels.
Die Taleban werden jedenfalls von Obamas Ankündigung nicht beeindruckt sein. Sie könnten die Gelegenheit nutzen, um ein Signal zu senden, dass hier ein erster Schritt in die richtige Richtung erfolgt – und sie ebenfalls eine politische Lösung wollen. Das ist bisher aber nicht geschehen.
Dennoch kann man davon ausgehen, dass jene in den Taleban, die wirklich den Krieg beenden wollen und möglicherweise nicht darauf bestehen, mit Verhandlungen bis zum kompletten Abzug zu warten, noch da sind und vielleicht ihre Meinung nicht geändert haben. Sie müssen gefunden und in Gespräche eingebunden werden, um den Taleban-Mainstream in diese Richtung zu beeinflussen. Aber selbst dann bleiben die riesigen Probleme Afghanistans.
Die Diskussion um die Truppenaufstockung und ihre jetzige Rücknahme hat die gravierenden Mängel in den politischen Institutionen Afghanistans überschattet, die nicht nur im Sicherheitssektor bestehen. Das Land leidet unter einer überzentralisierten und manipulativen Exekutive, einem marginalisierten Parlament und einem Justizwesen, das Lichtjahre von Unabhängigkeit entfernt ist. Selbst die Zusammensetzung des Parlaments ist neun Monate nach Wahlen voller Betrug immer noch unklar; die afghanischen Behörden, die die Wahlen durchführten, waren unfähig ihre Arbeit zu tun. Dabei waren diese Wahlen das erste Beispiel für eine „Übergabe der Verantwortung“, in die sich auch der Truppenabzug einordnen soll. Das ist grandios gescheitert und sollte uns eine Warnung sein.
Auch das afghanische Bildungssystem ist nicht so gut wie gern behauptet. Ja, Schulen und Universitäten wurden renoviert oder wieder aufgebaut. Es gibt Millionen Schüler und Studenten, Mädchen und Jungen, aber kaum Jobs für danach. Schüler müssen ihre Lehrer schmieren, um durch Prüfungen zu kommen, Studenten die Kommissionen, um zur Universität zugelassen zu werden. In den Grundschulen haben viele Lehrer Zweitjobs und fehlen während des Unterrichts, weil ihre Familien nicht von den mageren Gehältern leben können. Und was das angeblich ausgeweitete Gesundheitssystem angeht: Bekommen Sie keine Blinddarmentzündung, sagen wir in Khak-e Jabbar, eine halbe Autostunde außerhalb der Hauptstadt Kabul. Dort gibt es zwar eine Klinik, aber keinen Arzt und keine Medikamente.
Nichts von alledem hat wirklich etwas mit der viel gescholtenen Person Präsident Hamed Karzais zu tun; es liegt am System. Und das haben die USA in den frühen Nach-Taleban-Tagen geformt, oft nach ihrem Bilde: kein Premierminister und keine allgemeine Wehrpflicht, obwohl es beides früher in Afghanistan gab; keine Personalausweise, die man auch als Wählerkarten benutzen und damit einiges an Wahlbetrug hätte verhindern können. Die USA haben auch ihre früheren Alliierten aus dem Kalten Krieg, die Warlords, ins politische System zurückgebracht, das sie so von innen mit Korruption und Gewalt diskreditierten.
Um Afghanistans tief verwurzelte Probleme zu lösen, wird unter anderem eine völlig neue Generation von Politikern gebraucht. Bis 2014 ist noch Zeit, dies und andere Lösungsansätze wenigstens auf den Weg in die richtige Richtung zu bringen. Aber die Uhr läuft bereits.
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