von Uri Avnery, Tel Aviv
Der Erzbischof von New York verkündet, dass jeder Katholik, der eine Wohnung an einen Juden vermietet, eine tödliche Sünde begeht und die Exkommunikation riskiert. Ein protestantischer Pastor in Berlin erklärt, dass ein Christ, der einen Juden anstellt, aus seiner Gemeinde verbannt wird. Unmöglich? Tatsächlich. Außer in Israel – natürlich umgekehrt.
Der Rabbiner von Safed, ein Regierungsangestellter, hat angeordnet, es sei streng verboten, Wohnungen an Araber zu vermieten – einschließlich an arabische Studenten, deren medizinische Fachschule im Ort liegt. Zwanzig andere Stadtrabbiner – deren Gehalt von (meistens säkularen) Steuerzahlern, einschließlich der arabischen Bürger, bezahlt werden, – haben öffentlich diese Anordnung unterstützt. Eine Gruppe israelischer Intellektueller reichte eine Klage beim Staatsanwalt ein, weil dies ein Fall krimineller Hetze sei. Der Staatsanwalt hat versprochen, die Sache mit gebührender Eile zu untersuchen. Das war vor einem halben Jahr. Die gebührende Eile hat noch nicht zu einer Entscheidung geführt.
Eine andere Gruppe von Rabbinern verbietet die Anstellung von Goyim. (Im alten Hebräisch bedeutete Goy Volk, irgendein Volk. In der Bibel wurden die Israeliten ein „ ein heiliges Goy“ genannt. Aber in den letzten Jahrhunderten bedeutet dieser Terminus Nicht-Juden mit einem entschieden verächtlichen Unterton).
In dieser Woche (der Beitrag datiert vom 2. Juli 2011 – Anm. d. Red.) war Israel in Aufruhr. Das Durcheinander wurde durch die Verhaftung des Rabbiners Dov Lior verursacht. Die Affäre geht auf ein Buch zurück, das vor mehr als einem Jahr von Rabbiner Yitzhak Shapira geschrieben wurde. Shapira ist vielleicht der extremste Bewohner von Yitzhar, das vielleicht die extremste Siedlung in der Westbank ist. Seine Bewohner werden häufig beschuldigt, Pogrome in den nahen palästinensischen Dörfern durchzuführen, gewöhnlich als „Racheakte“ für Armeeaktionen gegen Bauten, die ohne offizielle Genehmigung von Siedlern gebaut worden waren.
Das Buch mit dem Titel „Torat ha Melekh“ („Die Lehre des Königs“) befasst sich mit dem Töten von Goyim. Es besagt, dass in Friedenszeiten Goyim gewöhnlich nicht getötet werden sollten – nicht wegen des Gebotes: „Du sollst nicht töten“, das dem Buch zufolge nur Juden betreffe, sondern weil Gottes Gebot nach der Sintflut (Genesis 9,6) besage: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen.“ Dies gilt für alle Goyim, die einige grundlegende Gebote einhalten – die so genannten noahitischen Gebote.
Doch in Kriegszeiten ist die Situation völlig anders. Und nach den Rabbinern ist Israel seit seiner Gründung im Kriegszustand gewesen, und wird es wahrscheinlich in alle Ewigkeit sein. Im Krieg, wo die Gegenwart eines Nichtjuden einen Juden gefährdet, ist es erlaubt, ihn zu töten, sogar dann, wenn es ein gerechter Goy ist, der keine Verantwortung für die Situation trägt. Es ist erlaubt – tatsächlich wird es sogar empfohlen – nicht nur die feindlichen Kämpfer zu töten, sondern auch jene, die sie „unterstützen“ oder „ermutigen“. Es ist erlaubt, feindliche Zivilisten zu töten, wenn dies für die Fortführung des Krieges nützlich ist. (Zufällig oder nicht zufällig stimmt dies mit den Taktiken überein, die unsere Armee bei der „Cast Lead-Operation“ anwandte; um das Leben eines einzelnen israelischen Soldaten zu retten, ist es erlaubt, so viele Palästinenser wie nötig zu töten. Das Ergebnis waren 1.400 tote Palästinenser, die Hälfte von ihnen Zivilisten – und fünf getötete Soldaten durch feindliche Aktion. Sechs weitere wurden versehentlich durch die eigenen Leute getötet).
Was wirklich einen Sturm erregte, war eine Passage in dem Buch, die besagt, dass es erlaubt sei, Kinder zu töten, wenn klar ist, dass, wenn sie erwachsen sind, sie „schädlich“ sein können. Es ist üblich, dass das Buch eines Rabbiners, das das jüdische Gesetz interpretiert, die Haskama (Übereinkunft) von anderen prominenten Rabbinern aufweist. Dieses besondere Meisterwerk weist die „Übereinkunft“ von vier prominenten Rabbinern auf. Einer von ihnen ist Dov Lior.
Rabbiner Lior (der Name kann mit „ich habe das Licht“ übersetzt werden oder „Das Licht ist mir gegeben worden“) ist als einer der extremsten Rabbiner der Westbank-Siedlungen berühmt – keine kleine Leistung in einem Gebiet, das einen üppigen Bestand extremer Rabbiner hat, von denen die meisten in anderen Ländern „Faschisten“ genannt würden. Er ist der Rabbiner von Kiryat Arba, der Siedlung, die an Hebron grenzt und den Lehren von Meir Kahane folgt und die den Massenmörder Baruch Goldstone hervorbrachte. Lior ist auch der Rektor einer Hesder Yeshiva, einer religiösen Schule, die eng mit der Armee kooperiert. Ihre Schüler verbinden ihre Studien (nur religiöse Themen) mit privilegiertem Militärdienst.
Als das Buch – jetzt in der dritten Auflage –erschienen war, gab es einen Aufschrei. […] Die Orthodoxen distanzierten sich, weil es die religiösen Regeln verletzt, die verbieten, dass man „die Goyim provoziert“. Der Staatsanwalt begann eine strafrechtliche Untersuchung gegen den Autor und die vier Unterzeichner der Haskama. Sie wurden zur Untersuchung zitiert und die meisten kamen und protestierten, dass sie keine Zeit gehabt hätten, das Buch zu lesen.Lior, dessen Text der „Übereinkunft“ Zeugnis davon gibt, dass er das Buch gründlich gelesen hatte, schenkte wiederholten Vorladungen, bei der Polizei zu erscheinen, keine Beachtung. Er ignorierte sie offen und verächtlich. In dieser Woche reagierte die Polizei auf die Beleidigung: Sie lauerte ihm auf der „Tunnelstraße“ auf – eine Straße (nur für Juden) mit mehreren Tunneln zwischen Jerusalem und Hebron – und verhaftete ihn. Die Polizisten haben ihm keine Handschellen angelegt und setzten ihn nicht in ein Polizeifahrzeug, wie sie es normalerweise tun, sondern ersetzten den Fahrer mit einem Polizisten, der ihn direkt zu einer Polizeistation fuhr. Dort wurde er höflich eine Stunde lang ausgefragt und wieder freigelassen.
Die Nachricht von seiner Verhaftung verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Siedlungen. Hunderte der „Hügeljugend“ – Gruppen junger Siedler, die Pogrome ausführen und auf das Gesetz spucken – versammelten sich am Eingang Jerusalems, lieferten sich eine Schlacht mit der Polizei und sperrten die Hauptstraße in die Hauptstadt ab. […] Aber die Straßen absperren und mit dem entlassenen Lior triumphierend auf ihren Schultern demonstrieren, war nicht das Einzige, was die jungen Fanatiker taten. Sie versuchten auch, den Obersten Gerichtshof zu stürmen. Warum gerade dieses Gebäude? Das bedarf einiger Erklärung.
Der israelische rechte Flügel und besonders die Siedler und ihre Rabbiner haben lange Listen mit Hassobjekten. Einige von diesen sind veröffentlicht worden. Ich habe die Ehre, auf den meisten zu erscheinen. Aber der Oberste Gerichtshof nimmt einen Platz fast an der Spitze aller Listen ein. Warum? Das Gericht hat sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, während es sich mit den besetzten Gebieten befasste. Es erlaubte die Zerstörung vieler palästinensischer Häuser als Rache für „terroristische“ Akte, ließ „moderate“ Folter zu, stimmte dem „Trennungszaun“ zu (der vom Internationalen Gericht in Den Haag verurteilt wurde) und positioniert sich selbst als verlängerter Arm der Besatzung. Aber in einigen Fällen hat das Gesetz den Gerichtshof nicht in die Lage versetzt, sich aus seiner Verantwortung zu ziehen. Er hat zur Auflösung von „Außenposten“ aufgerufen, die auf privatem palästinensischem Land errichtet worden waren. Er hat „gezieltes Töten“ verboten, wenn die Person ohne Risiko verhaftet werden konnte; es hat bestimmt, dass es ungesetzlich ist, einen arabischen Bürger Israels daran zu hindern, in einem Dorf zu leben, das auf Staatsland liegt und so weiter.
Jede dieser Entscheidungen erzeugte ein Wutgeheul bei den Rechten. Aber es gibt noch einen tieferen Grund für diese extreme Feindseligkeit. Anders als im modernen Christentum, aber sehr ähnlich wie im Islam, ist die jüdische Religion nicht nur eine Sache zwischen Mensch und Gott, sondern eine Sache zwischen Mensch und Mensch. Sie lebt nicht in einem Winkel des öffentlichen Lebens. Religiöse Gesetze umfassen alle Teile des öffentlichen und privaten Lebens. Deshalb ist für einen frommen Juden – oder Muslim – die europäische Idee der Trennung von Staat und Religion unverständlich. Die jüdische Halacha – wie die islamische Sharia – reguliert jeden einzelnen Aspekt des Lebens. Immer, wenn das jüdische Gesetz mit dem israelischen Gesetz in Konflikt kommt, stellt sich die Frage: welches Gesetz soll dann die Oberhand gewinnen? Das eine, das von der demokratisch gewählten Knesset angenommen wurde, das jeden Moment verändert werden kann, wenn das Volk es will, oder das von Gott am Sinai für alle Zeiten gegebene, das nie verändert werden kann (höchstens neu interpretiert werden darf).
Religiöse Fanatiker in Israel bestehen darauf, dass das religiöse Gesetz über dem säkularen Gesetz steht (wie in einigen arabischen Ländern) und dass die staatlichen Gerichte keine Jurisdiktion über die Kleriker in Angelegenheiten der Religion haben (wie im Iran). Wenn der Oberste Gerichtshof anders entschied, mobilisierte der geachtetste orthodoxe Rabbiner leicht 100.000 Demonstranten in Jerusalem. Seit Jahren sind religiöse Kabinettminister, Rechtsgelehrte und Politiker, wie auch ihre politischen Unterstützer, eifrig dabei, die Integrität, die Unabhängigkeit und Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu beschneiden. Dies ist die Crux der Sache.
Der Staatsanwalt betrachtet ein Buch, das zum Töten von unschuldigen Kindern aufruft, als einen Akt krimineller Aufhetzung. Die Rabbiner und ihre Unterstützer betrachten dies als eine unverschämte Einmischung in eine gelehrte religiöse Debatte. Zwischen diesen beiden Ansichten kann es keinen realen Kompromiss geben.
Für Israelis ist das keine abstrakte Angelegenheit. Die ganze religiöse Gemeinschaft mit all ihren verschiedenen Fraktionen gehört jetzt zum rechten, ultra-nationalen Lager (außer der bedauernswerten kleinen Gruppe des Reform- und konservativen Judentums, zu dem die Mehrheit der amerikanischen Juden gehört). Israel in einen Halacha-Staat zu verwandeln bedeutet, den demokratischen Staat zu zerstören und Israel in ein zweites Iran zu verwandeln, das von jüdischen Ayatollas regiert wird. Dies würde auch Frieden für alle Zeiten unmöglich machen, da nach den Rabbinern das ganze Heilige Land zwischen Mittelmeer und dem Jordanfluss allein den Juden gehört. Den Goyim nur einen Fußbreit des Landes zu geben, ist eine tödliche Sünde, die mit dem Tod bestraft wird. Für diese Sünde wurde Yitzhak Rabin von einem Studenten einer religiösen Universität – einem früheren Siedler – hingerichtet.
Nicht das ganze religiöse Lager heißt den unerbittlichen Extremismus des Rabbiners Lior und seiner Anhänger gut. Es gibt noch viele andere Trends. Aber diese schweigen. Es ist Lior, der Rabbiner, der „das Licht besitzt“ und seine gleichgesinnten Kollegen, die die Richtung bestimmen.
Aus dem Englischen von Ellen Rohlfs. Vom Verfasser autorisiert. Redaktionell gekürzt.
Schlagwörter: Goyim, Halacha, Haskama, Israel, Knesset, Palästinenser, Rabbiner, Uri Avnery