14. Jahrgang | Nummer 13 | 27. Juni 2011

Mahler und Strawinsky

von Liesel Markowski

Gustav Mahler ist in seinem 100. Todesjahr 2011 auf allen möglichen Podien zu hören: wichtige Erinnerung, schöne Neuerfahrung und auch Entdeckung zugleich. Dass die Musik des österreichischen Komponisten den Interpreten höchste Ansprüche stellt, also musizierte Qualität par excellence herausfordert, macht das Besondere dieser Konzerterlebnisse aus. Wenn dazu noch ungewöhnliches Anderes erklingt, hat das Publikum schon konzentrierte Hörarbeit zu vollbringen. So bei einem Abend der Berliner Philharmoniker, des Rundfunkchors Berlin und von Gesangssolisten unter dem russischen Dirigenten Wladimir Jurowski: Mahler mit Strawinsky – einem Gegenpol aus seinem jüngeren historischen Umfeld kontrastiert, da gab es Spannung im musizierten Nacheinander und Vergleich. Der nach Expression und sinfonischer Ausdehnung strebende Österreicher und der kühl-rationelle weltoffene Russe präsentierten einander entfernte Klangsphären. Doch verbindend wirkten dabei ein explizites künstlerisches Niveau und kompositorische Fantasie, die Gegensätzliches gleichsam dialektisch aufeinander treffen ließ.
Zu Beginn faszinierte Igor Strawinskys gestalterische Raffinesse an einem altwürdigen Vorwurf, nämlich Johann Sebastian Bachs Choralvariationen über „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ (BWV 769). Strawinsky hat das Orgelwerk seines Vorfahren von 1746/47 für gemischten Chor und Orchester bearbeitet. Man kann sagen, er hat es neu gefasst, gewissermaßen „aktuell“ reflektiert. Und das mit einer Lust am Spielerischen, an schillernden Instrumentalfarben, denen sich die Vokalstimmen sozusagen einordnen und die für den Hörer überspringt. Die geniale Satzkunst der fünf Variationen des Altmeisters aus der Sicht des 20. Jahrhunderts (1956) in neuer Brillanz, vom den Philharmonikern und dem Rundfunkchor glänzend realisiert.
Noch einmal Strawinsky: „Requiem Canticles“ (Requiem Gesänge) von 1966, ein Spätwerk in nüchterner Strenge, zwölftönig angelegt und den liturgischen Text in Bruchstücken verwendend. Alles knapp formuliert, allerdings orchestral klanglich farbig, vor allem die drei Instrumentalzwischenspiele. Vokal (Chor und Chorsolisten) – oft dem Rezitativ, auch Gesprochenem nahe – herrscht distanzierte Kühle, ehe am Schluss nach orthodoxem Brauch  ein Glockenspiel Helle bringt.
Als Hauptgewicht des Programms und Finale Gustav Mahlers „Klagendes Lied“, ein vokalsinfonisches Opus des gerade Zwanzigjährigen (1880), an dem er zwei Jahre arbeitete und das erst 1901 unter seiner Leitung – verkürzt – uraufgeführt wurde. Heute wählt man die dreiteilige Urfassung dieser im umfangreichen Gesamtwerk Mahlers einzigartige Komposition. Selten genug ist sie zu hören, vor allem des ungewöhnlichen Aufwands wegen: orchestrale Riesenbesetzung mit Besonderheiten wie sechs Harfen und einem Bläserfernorchester (außerhalb des Saales), dem gemischten Chor und Solistenquartett nebst Knabensolisten. Obwohl ein Frühwerk, das Einflüsse der damaligen aktuellen Musikumwelt (Richard Wagner) erkennen lässt, zeichnet sich schon Typisches des späteren Mahler ab: epische Breite wie Ironie, sinfonische Dramatik, Monumentalität. Und Verbindung zur Märchen- und Sagenwelt. Erzählt wird die Geschichte von zwei Brüdern und deren Werbung um eine schöne Königin. Sie verlangt als zu suchendes Siegeszeichen eine rote Waldblume. Es geht um Brudermord und Betrug, um das grausige Spiel auf einer Knochenflöte aus Gebeinen des Ermordeten, um ein prunkvolles Hochzeitsfest und den schreckerfüllten Untergang. In den drei Teilen „Waldmärchen“, „Der Spielmann“ und „Hochzeitsstück“ berichtet Mahler in eigenem Text von Lebenskraft, Leid, Todesahnung und Vernichtung. Die Nähe zu seinen Wunderhornliedern ist spürbar. Überwiegend aber wirkt ein üppiges Klangvolumen mit sich steigernder Dramatik und Ausdruckskraft, die sich schon mit zarten Naturstimmungen im „Waldmärchen“ anbahnt und bis zum ergreifenden Höhepunkt des Untergangs führt.
Die interpretatorische Leistung aller Beteiligten war fesselnd. Dirigent Wladimir Jurowski wusste ebenso die orchestralen Feinheiten herauszuarbeiten wie den Spannungsbogen mit starker Ausstrahlung zu füllen. Die orchestrale Differenziertheit der Philharmoniker war überragend, vorzüglich der homogene Klang des Berliner Rundfunkchors (Einstudierung: Simon Halsey) wie auch der Solistengesang mit Christine Schäfer (Sopran), Iris Vermillion (Alt), Michael König (Tenor), Markus Brück (Bariton) und  zwei Solisten des Tölzer Knabenchors. Ein nachhaltiges, kaum zu vergessendes Erlebnis.