von Ulrike Krenzlin
Gottfried von Bouillon, sein tapferster Held Rinaldo, das Kreuzritterheer und sein Lager vor dem befestigten Jerusalem, ein Feuer speiender Drachen, Wasserfluten mit Schiffen und Schaumkronen, Armidas Zauberschloss und allerhand Zauberwesen, kurzum die Personage des Ersten Kreuzzugs vom Jahr 1097 in den herrlichsten Kostümen bringt die Compagnia Marionettistica Carlo Colla e Figli für Händels Oper „Rinaldo“ auf die Bühne. Mit Schlitteneinzug werden die Zaubereien und Sondereffekte in die barocke Gassenbühne gestellt. Von fünf Brücken herunter führen 14 Spieler dreiviertellebensgroße Marionetten. Das Szenario ist künstlerisch wie musikalisch über das Maß. Heinrich von Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ hat den tieferen Sinn des Marionettenspiels geöffnet. „Rinaldo“ hatte im Goethe-Theater Bad Lauchstädt am 4. Juni Premiere. Als eines der ganz wenigen erhaltenen historischen Theater verfügt Bad Lauchstädt heute noch über die Bühnentechnik aus dem 18. Jahrhundert. Das hochartifizielle Marionettentheater aus Mailand nutzt es für eine Eigeninszenierung in der Regie von Eugenio Monti Colla und Wolfgang Katschner als musikalischem Leiter. Mit seiner „Lautten Compagney Berlin“, einem Ensemble aus dreizehn Instrumentalisten, Spezialisten für alte Musik, die auf historischen Instrumenten oder deren Nachbauten zusammen mit acht jungen Sängern musizieren, haben Katschner und das italienische Marionettentheater eine konzertante Aufführung geschaffen. Der Erfolg ist sensationell. Händels Musik im feinsinnigen Dirigat von Katschner, die jungen Countertenöre und Sängerinnen auf den Emporen. Marionettenfiguren werden in Gestik und Mimik nach den Regeln der Affektenlehre geführt. Die Mailänder Compagnia, ein Familienunternehmen mit 200 Jahren Tradition, spielt sonst in einem Haus nahe der Scala, inzwischen aber auch in aller Welt dieselben Opern wie die Scala selbst. Es hat sich inzwischen auf Alte Musik spezialisiert. Mit „Rinaldo“ ist ein Spektakel, eine musical comedy entstanden, die zeigt wie ungebrochen das Libretto und Händels Musik in die Gegenwart passen. Es geht um Torquato Tassos „La Gerusalemme liberata“ („Das Befreite Jerusalem“), ein Werk des hohen Manierismus. Bis um 1800 war dieses Versepos für jede Kunstgattung gegenwärtig.
„Rinaldo“ war die erste Oper, die Händel für das Londoner Publikum komponiert hatte. Die Premiere vom 24. November 1711 fiel damals schon sensationell aus. Denn mit „Rinaldo“ konnte Händel die ernste italienische Oper, das Dramma per musica, in England etablieren. In der opera seria werden Lebensdramen, die jedermann angehen, im historischen Kontext dargeboten. In unserem Fall ist es der Erste Kreuzzug. Jedoch geht es nicht um Geschehnisse des blutigen Kreuzzugs, den der englische Historiker Thomas Asbridge 2010 ediert hat, sondern, wie in Tassos „Befreitem Jerusalem“ um Geschichten, in denen Freude, Hass, Liebe, Trauer, Verlangen und Bewunderung beim Zuhörer entzünden. Zu jedem dieser Affekte gehört eine Figur mit musikalischer Struktur. Die barocke Affektenlehre hielt für diese Typen Erklärungen bereit. Charaktere werden nicht gestaltet. Das musikalische Neuland liegt im Wechsel von Rezitativen und Arien. Letztere komponierte Händel für Weltstars von damals, Kastraten und Sängerinnen aus Italien, die die Heldenrollen sangen. Heute werden sie von Countertenören übernommen. Die berühmteste Händel-Arie „Lascia ch´io pianga mia crude sorte“ – „Laß mich mein grausames Schicksal beweinen“ – ist aus „Rinaldo“.
Die Einführung der italienischen Oper in England ist das Thema der diesjährigen Händel-Festspiele. Doch kommt sie nicht direkt aus Italien nach London. Sie kommt aus Dresden. So sind Dresden und die italienische Oper zugleich Gegenstand der Internationalen Wissenschaftlichen Konferenz, die jährlich bei den Händel-Festspielen stattfindet. Die Ergebnisse werden im Händel-Jahrbuch ediert. Händel war es war, der die bedeutendsten italienischen Sänger für das Londoner Opernprojekt in Dresden engagierte. Die Royal Academy of Music, eine Gesellschaft von vermögenden Adligen, darunter König Georg I., wollte auf zwanzig Jahre durchgehend ein Operhaus in London privat finanzieren. Dazu sollten erstrangige Sänger engagiert werden. Im September 1719 fand in Dresden die Hochzeit des kursächsischen Kronprinzen August II. mit der Kaisertochter aus Wien, Maria Josepha, statt. Diese dynastische Verbindung war konzipiert, damit dem Haus Wettin, nach der polnischen Königskrone, im Erbfall die Kaiserkrone des Reichs zugesprochen werden konnte. Das vierwöchige Fest unter dem Titel „Wettstreit der Götter“ ist zwei Jahre lang vorbereitet worden. Es wurde zur teuersten Festlichkeit, die je an einem europäischen Hof im 18. Jahrhundert stattfand. Für die Festoper „Teofane“, die Antonio Lotti, musikalischer Leiter der Hochzeitsfeierlichkeiten komponierte, standen fest im Vertrag: Santa Stella Lotti, die Sopranistin Margherita Durastanti, der Kastrat Senesino, Berselli und andere. Händel kannte die meisten aus seinen italienischen Jahren bis 1709. Es gelang ihm lediglich, mit Margherita Durastanti vertragseinig zu werden. Seresino kam erst 1729/21 nach London. Die anderen Sänger blieben in Dresden weiterbeschäftigt. Händel hatte wenig Erfolg mit seinem Auftrag. Jedoch gewann er musikalisch viel: die Anregung zur Oper „Ottone“. Er hörte Lottis Festoper „Teofane“, nahm das Libretto mit nach London. Bearbeitete es musikalisch neu, brachte die Oper unter dem Titel „Ottone, Re di Germania“ heraus. Sie war so erfolgreich wie „Rinaldo“. Es geht in Ottone um die Hochzeit des jungen Königs Otto II. mit Teofane (Theophanu), der Tochter des Königs von Konstantinopel, der Hauptstadt des Oströmischen Reichs. Mit dieser hochrangigen Verbindung hatte im 10. Jahrhundert Otto der Große sein Reich festigen können. Genauso dachte August der Starke, als er 1719 seinen Sohn August II. mit der Kaisertochter aus Wien vermählte. Nur kam es nicht zur Kaiserkrone für die Wettiner. In Halle wird „Ottone“ (HWV15) nach der Edition der Halleschen Händelausgabe aufgeführt. Der Ehrgeiz besteht darin, Erstaufführungen nach der neuesten Ausgabe anzubieten. Die Händelausgabe mit Sitz im Händel-Haus Halle erscheint seit 1955. Sie wird bis ins Jahr 2023 fortgesetzt. Im letzten Jahr wird der Band 116 erscheinen. Es handelt sich um das größte wissenschaftliche Projekt, dass in Deutschland jemals einem Künstler gewidmet worden ist.
Schlagwörter: Halle, Händel, Händelfestspiele, Ottone, Rinaldo, Ulrike Krenzlin