von Heerke Hummel
Auf absehbare Zeit wird er weiterhin als nicht gefährdete „Tierart“ über Europa und dem Erdball kreisen – der Pleitegeier. Erst Irland und Griechenland, nun steht Portugal vor dem finanziellen Ruin, flüchtete unter den Rettungsschirm der EU. Sogar die großen USA hat der Miserevogel im Auge, seitdem die Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) diese Industriemacht in ihrer Kreditwürdigkeit zwar nicht aktuell, jedoch in den Aussichten herunterstufte. Um deren Staatsanleihen sollten sich Rentenfondsbesitzer nach Ansicht von „Finanztest“-Chef Hermann-Josef Tenhagen mehr Sorgen machen als um die griechischen. Immerhin habe der weltgrößte Anleihen-Verwalter Pimco seine US-Staatspapiere bereits verkauft. Und die Welt zerbricht sich den Kopf darüber, wie das drohende Ungeheuer zu bändigen ist.
Nach Ansicht der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) müssten die weltweiten ökonomischen Ungleichgewichte eingeebnet werden. Endlich, fast hundert Jahre nach Lenins Feststellung einer ungleichmäßigen Entwicklung der kapitalistischen Welt hat man dessen richtige Erkenntnis nun auch im Westen nachvollzogen; allerdings mit ganz anderen Konsequenzen und nicht ungeteilt, wie in der FAZ zu lesen war. Die Wissenschaft sei sich noch nicht einmal darüber einig, dass globale Ungleichgewichte tatsächlich etwas mit der Krise zu tun haben, hieß es da. Während an allen Ecken und Enden der Welt aus der Glut einer allgemeinen Krise kapitalistischen Denkens und Handelns immer aufs neue die Flammen züngeln, streiten sich die Vertreter der Staaten auf Konferenzen über die Messbarkeit und die Indikatoren weltwirtschaftlicher Unausgewogenheit, immer die besonderen nationalen Interessen von Kapitalverwertung verfolgend. Doch einer Einigung steht der Umstand im Wege, dass für den einen gut ist, was dem anderen schadet. Das ist die Folge des Konkurrenzkampfes, den man verniedlichend Wettbewerb nennt und wie ein Gottesgebot als Voraussetzung erfolgreichen Wirtschaftens betrachtet. Dagegen müssten Überschüsse abgebaut werden, um Defizite überwinden zu können, wo immer es um Bilanzen geht – im Handel, im Zahlungsverkehr, in der Produktion von Waren, im Verbrauch von Energie und Rohstoffen, in der Belastung der Umwelt durch Abprodukte.
Unternehmerische und Bankerfreiheit sollen heilige Kühe bleiben. Ungleichgewichte seien nicht zwanghaft einzuebnen, heißt es, sondern als Frühwarnindikatoren wahrzunehmen, etwa durch Notenbanken in ihrer Geld- und Zinspolitik.
Indessen sind die Praktiker in Politik und Finanzwesen am Werke und erarbeiten Sparprogramme für jene, denen es ohnehin schon am schlechtesten geht. Dass damit die Ungleichgewichte bestenfalls nur von dem einen Gebiet (zum Beispiel Staatsschuld) auf ein anderes (etwa Waren- und Arbeitsmarkt) verschoben und auf lange Sicht verschärft werden, liegt auf der Hand und kann nur in Folge von Fahrlässigkeit und Furcht vor vermeintlichen Konsequenzen übersehen werden. Und so wird, wie beim Kinderspiel, der Schwarze Peter von Hand zu Hand gereicht, bis er beim sozial Schwächsten hängenbleibt, der wegen seiner Stellung im sozialen Gefüge nicht mogeln, sich nicht wehren kann. Alle anderen amüsieren sich und verdienen daran – umso mehr je höher sie in der Hierarchie stehen, je stärker sie – vor allem dank historischer Umstände – sind. Wir Deutschen neigen wieder einmal dazu, uns selbst an die Brust zu klopfen und nach Stammtischmanier auf die anderen hinabzublicken. Und die Presse, allen voran „Bild“, tut das ihre dazu. „So verbrennen die Griechen die schönen Euros … lesen Sie mal, was die sich alles leisten“ hieß es da beispielsweise. Sie lebten weit über ihre Verhältnisse, Steuerhinterziehung, Luxus im Alter und Rentenirrsinn im Falle von unverheirateten Töchtern verstorbener Armeegeneräle wird den Hellenen vorgeworfen. Als gäbe es das alles oder Ähnliches nicht auch bei uns und überall in der Welt. Und liegen denn darin die Ursachen für die wirklich gravierenden Ungleichgewichte in der Welt? Sind es nicht lediglich billige Ablenkungsmanöver im Interesse der „politischen Klasse“, wenn behauptet wird, wir seien mit den Milliardenhilfen „wieder mal Europas Deppen“? Krisenpolitiker und Missmanager stehen unter kurzfristigem Erfolgsdruck derer, deren Sonderinteressen sie vertreten, von denen sie gesteuert werden. Sie können gar nicht, wie uns eingeredet wird, das Allgemeinwohl verfolgen, selbst wenn sie das Richtige darunter verstünden und begriffen, was notwendigerweise zu tun wäre.
Das Wohl der Allgemeinheit hat mit der Globalisierung ökonomischer Prozesse die nationalen Grenzen längst überschritten und ist zu einem Begriff geworden, der auf die Weltgesellschaft zu beziehen ist. Wer nicht so weiträumig denkt und handelt – die unterschiedlichen Interessen berücksichtigend und verständnisvoll ausgleichend – der wird die ökonomischen und in deren Folge die politischen Konflikte der Welt nicht überwinden, ihre Ursachen nicht beseitigen können.
Angesichts der sehr unterschiedlichen Verhältnisse in den verschiedenen Regionen der Welt wird es keine allgemeingültigen und für alle akzeptablen Kriterien für die Bewertung von Ungleichgewichten geben können. Der gewaltige Handelsbilanzüberschuss beispielsweise der chinesischen Volksrepublik ist auf andere ursächliche Faktoren zurückzuführen als der europäischer Industriestaaten. Er dürfte auch in seinen möglichen Wirkungen anders einzuschätzen sein, und auf ihn müsste wohl auch anders reagiert werden. Europa und die Welt insgesamt sind zu vielfältig in ihren Bedingungen, als dass einheitliche Maßstäbe und Kriterien für ökonomische Entscheidungen angelegt werden, gar automatisch wirken könnten.
Aussicht auf Erfolg dürfte daher wohl nur eine weltwirtschaftliche Entwicklungsstrategie haben, die sich bemüht, die verschiedenen, aus der jeweiligen Situation resultierenden nationalen Interessen zu verstehen und zu berücksichtigen, um sie in ein harmonisch ausgeglichenes Gesamtkonzept einzubinden. Solch ein Projekt setzt ein ökonomisches Umdenken – vor allem in den hoch industrialisierten Ländern – voraus. Gerade die Europäische Union könnte auf Grund ihrer vergleichsweise geringen „inneren“ nationalen Unterschiede und der bereits vorhandenen Organisationsstruktur ein Beispiel geben für den Übergang vom Prinzip des Konkurrenzkampfes aller gegen alle zu einer solidarischen Wirtschaftsführung, bei der die Starken den Schwächeren im wohl verstandenen eigenen Interesse helfen, die eigenen produktiven Kräfte voll zu entfalten, anstatt die ohnehin Bedürftigeren durch einen nicht äquivalenten Austausch von Waren und Leistungen ökonomisch auszupressen. Wir, vor allem wir Deutschen, sind ökonomisch potent genug, unser Lebensniveau zu halten, auch bei schrittweiser Veränderung von Tauschrelationen durch allmähliche Lohnangleichung im Ausland.
Was fehlt, ist die Einsicht, dass unser Reichtum sich nicht an den Gewinnen der Unternehmen, Konzerne und Banken misst, sondern an der Menge und Vielfalt der erzeugten Güter und Leistungen. Dieser Reichtum wird umso größer sein, je intelligenter und ideenreicher nicht nur wir, sondern auch alle anderen Völker wirtschaften und kulturelle Leistungen vollbringen. Was uns auch fehlt, ist der politische Wille, solche möglicherweise vorhandene Einsicht ökonomisch wirksam zu machen und die Wirtschaft ihrem gesellschaftlichen Zweck unterzuordnen. Was wir brauchen, ist die Bereitschaft, zu geben ohne zu nehmen, etwa wenn es ums „geistige Eigentum“, also um Patente und Lizenzen geht. Unterm Strich würden wir dabei gewinnen. Was uns von solchem Denken und Handeln abverlangt wird, das ist die Überwindung der Gier nach mehr als dem Benötigten, nach dem Grenzenlosen. Solch menschlicher Wandel wäre die Überwindung der Grenzen der Vernunft.
Bücher von H. Hummel: Gesellschaft im Irrgarten, NORA-Verlag, Berlin 2009; Die Finanzgesellschaft und ihre Illusion vom Reichtum, Projekte-Verlag, Halle 2005
Schlagwörter: G20, Globalisierung, Heerke Hummel, Konkurrenzkampf, Staatsschuld