von Margit van Ham
Habe ich früher nicht richtig hingehört oder kommen erst jetzt die Erinnerungen an den Krieg so intensiv zum Vorschein? Der Gedanke beschäftigt mich seit dem letzten Besuch bei der Familie in dem kleinen Elbdorf. Die Geburtstagsrunde der Schwiegermutter war klein diesmal, eine Nachfeier. Zu Gast waren auch Verwandte aus den Nachbarorten, Lore, achtzig, und ihre Cousine, wenige Jahre jünger. Die kleine Runde schien beider Zunge gelockert zu haben. Über die frühere Arbeit sprachen sie, den Hunger noch davor und über Versuche mit Selbstgebranntem. Irgendwann war das Gespräch bei Hedwig angekommen. Hedwig war immer ein Thema, obwohl sie schon einige Jahre nicht mehr zu den Familienfeiern erschienen war. Vielleicht ja auch gerade deshalb.
Früher hatten sich die Irritationen über ihr Verhalten entweder über ein grollendes „Was soll das, die spinnt ja…“ Luft gemacht oder aber über beredte Blicke, Besorgnis, Achselzucken. Und ihrer Schwester Lore hatten dann regelmäßig Tränen in den Augen gestanden. Hedwig muss inzwischen um die 75 Jahre alt sein. Ich hatte mich gewundert, dass es keinen Mann für sie zu geben schien, dabei war sie auf eine natürliche Weise attraktiv gewesen, vielleicht einen Stich zu herb, dennoch… Fleißig, hilfsbereit. Eine einleuchtende Erklärung schien der Nachbar zu sein, den sie wohl mal geliebt hatte und der nun mit einer anderen verheiratet war. Sie hatte mit ihrem Bruder auf einem einsamen Hof direkt am Elbdeich gelebt.
Zu DDR-Zeiten blickte sie von Tür und Fenster direkt auf den Grenzzaun. Sie arbeitete in der LPG außerhalb des Grenzgebietes. Die Arbeit fiel nach der Grenzöffnung weg, aber jetzt war sie frei in ihrer Bewegung, und die Elbe war wieder zugänglich. Sie lud Spaziergänger am Deich ein, bewirtete sie im Haus. Ich denke, sie hoffte auf Freundschaft. Sie wartete auch in ihrem kleinen Auto vor dem Supermarkt auf Bekannte, die vielleicht vorbeikämen. Ein Neffe nutzte drastisch beschreibend das Wort „Auflauern“. Bei Begegnungen im Familienkreis wich sie dagegen Gesprächen aus, indem sie sich in der jeweiligen Küche nützlich machte. Oder aber sie bedrängte einen der Gäste regelrecht, mit ihr an anderem Ort zu reden.
Der Bruder lebt seit einigen Jahren im Pflegeheim und sie war nun allein in dem großen Haus. Die kleinen Seltsamkeiten wuchsen sich aus. Sie fürchtete um ihren Besitz, beschimpfte ihre Gesprächspartner am Telefon, schrie, brach irgendwann alle Kontakte zur Familie ab. Da lief ein Drama ab. Sie muss krank sein, krank vor Einsamkeit, dachte ich, wenn ich von ihr erzählen hörte. Auch dieses Mal gab es nichts Gutes zu berichten und man war sich wortlos einig in der völligen Ratlosigkeit. Es gab keine Empörung mehr, eher die Einsicht – krank, ja sie war krank. Die Cousine sagte dann mit leisem Zweifel in der Stimme: „Sie war aber auch schon als junges Mädchen etwas seltsam.“ Lore schwieg und nickte schließlich. Ja, das stimme. Und dann erzählte sie von einem der letzten Kriegstage 1945.
Sie war damals vierzehn, Hedwig neun Jahre alt. Die Amerikaner rückten vor und die kleine Siedlung am Elbdeich kam unter Granat- und Artilleriebeschuss. Lore und Hedwig suchten mit dem Vater und Kindern einer Flüchlingsfrau, so nannte Lore sie, Schutz im vorbereiteten Splittergraben. „Mutter und die Flüchlingsfrau hatten in der Küche hinter einer Holzkiste Schutz gesucht“, erinnerte sich Lore. „Und dann wollte Vater die Frauen auch in den Splittergraben holen, das Haus erschien ihm viel zu gefährlich.“ Er rannte also los und holte sie. Ein Splitter erwischte ihn am Kopf und er blutete. Es war zum Glück nur eine äußere Wunde, die sie versuchten, notdürftig zu versorgen. „ Die Flüchtlingsfrau wollte noch etwas holen, oder nachsehen, das weiß ich nicht mehr. Es waren keine Geschütze zu hören. Sie steckte ihren Kopf aus dem Graben heraus und in dem Moment kam ein Geschoss, und dann hatte sie kein Gesicht mehr.“ Die Kinder schrien und später mussten sie über den toten Körper klettern, um aus dem Graben herauszukommen. Nach einer langen Pause setzte Lore hinzu: „Hedwig hat das wohl nie verkraftet.“
Die Nachmittagssonne schien in das Zimmer und verbreitete Normalität. Der Krieg war aber plötzlich gegenwärtig.
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