von Horst Möller
Auf der Flucht aus seinem von den Deutschen besetzten Heimatland wurde Iakovos Kambanellis vor Erreichen der Grenze zur Schweiz in Österreich gefasst, geriet in die Fänge der Gestapo und landete im KZ Mauthausen. Da war er, am 3. Dezember 1922 auf Naxos geboren, einundzwanzig Jahre alt. Ihn beherrschte ein unbändiger Überlebenswille. Fürsorgliche Leidensgefährten halfen. Nach dem 5. Mai 1945, der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Alliierten, bestimmten ihn seine Landsleute zu ihrem Sprecher. Die Schilderung der folgenden drei Monate bis zur gemeinsamen abenteuerlichen Abreise mit den aus Griechenland stammenden jüdischen Häftlingen, denen nur eine irreguläre Passage nach Palästina offen stand, bildet die äußere Handlung seines Buches „Die Freiheit kam im Mai“. Eingebettet in diesen Handlungsrahmen ist eine Folge von Rückblenden. Wie Kambanellis darin Unsagbares sagbar werden lässt, das ist überwältigend. Hierauf trifft voll die von Gerhard Wolf für dichterisch artikulierte Leiderfahrung gefundene Formulierung zu: „Der Schmerz dieser Zeit ist Sprache geworden“. Die griechische Ausgabe von „Mauthausen“, so der Titel im Original, brachte im Jahre 1965 Mimis Despotides im Themelio-Verlag Athen heraus. Während der Niederschrift waren die vier Texte entstanden, die Mikis Theodorakis vertont hat und denen Kambanellis seine Popularität verdankte. Einen Namen hatte er sich da schon längst als Dramatiker gemacht. Heute gilt er als ein, um nicht zu sagen als der Erneuerer des griechischen Theaters der Nachkriegszeit.
Einer Dramatisierung bedurften seine Erlebnisse freilich nicht. Sie sind, jedes Vorstellungsvermögen übersteigend, aus sich heraus erregend über die Maßen. Das Ungeheuerliche, gemeinhin dem Schlafe der Vernunft angelastet, entspringt hier aus der Bosheit, der aus Hass erwachsenden Frevelwut. Zwei Häftlinge präsentierte der SS-Oberscharführer Fassel seinem Sohn zu dessen 10. Geburtstag als Geschenk und zwang den Widerstrebenden, sie aus kürzester Distanz mit dem Revolver niederzuschießen. Davor hatte er es im Beisein des Lagerkommandanten Ziereis zusammen mit seinen Kumpanen fertig gebracht, dessen Mutter, die einem polnischen Häftling freundlich begegnet war, im Offizierscasino unterm handschriftlich geheiligten Foto Hitlers zur lebenden Zielscheibe zu machen. „Die Mythologie der Bestialität in Mauthausen gebar eine große Anzahl Ungeheuer“, sagt darüber der Autor. All das zu vergessen, „jenen finsteren Todesort, die große Treppe der Tränen, den Steinbruch der Klagen, wo Juden und Partisanen fallen, wo jeder einen Stein trägt, den Stein, das Kreuz des Todes,“ das alles zu vergessen wäre das Leichte. Um des Gedenkens willen nimmt Kambanellis das Schwere auf sich, das Schwere des Erinnerns. 122.797 Häftlinge haben Mauthausen nicht überlebt, darunter 3.700 Griechen. „Mit so vielen Toten jeden Tag hatte der Tod kein Gesicht mehr. Das Gesicht, das auch wir Lebenden verloren hatten.“ Kambanellis nimmt es auf sich, den Toten das Gesicht wieder zu geben, wohl wissend, „dass nach unserer Rückkehr auch das eines unserer Probleme sein werde: dass sie uns nicht glauben werden wollen, was wir erzählen, was alles geschah. Oder, dass sie sagen würden: Ah, ist ja schon gut! Jetzt ist alles vorbei! Lass uns nicht darüber reden!“
„Die Freiheit kam im Mai“ ist Totenklage und Hymnus auf das Leben in einem. Der Mai des Jahres fünfundvierzig hatte viel Licht. Da hatte die Natur tatsächlich einmal ein Einsehen eingedenk des überstandenen Grauens. Mauthausen taumelte vor Freude. Welche Aufregung bemächtigte sich der Frauen, als bei einer ersten die Monatsblutungen wieder einsetzten. Zu Greisinnen waren sie geworden mit geschorenem Kopf und tief liegenden Augen. Fritz Cremers „Bleiche Mutter“ zeigt das Abbild und ist in der strengen Geradheit zugleich Sinnbild für die zentrale Aussage dieses Buches: „Obwohl wir in tiefster Furcht lebten, unbegreiflicher Folter ausgeliefert waren, jede Minute der 24 Stunden des vierundzwanzigstündigen Tages mit dem Tod bedroht waren, waren die meisten nicht zu Bestien geworden.“ Kambanellis lässt nicht unerwähnt, wie sich die aufgestaute Wut entlud. Beklommen macht indessen seine folgende Erwägung: „Ich habe die Konzentrationslager markiert! Jeder Kreis hat einen Radius von 50 Kilometern. Was beweist das? Dass die Hälfte Deutschlands sich in diesen Kreisen befindet. Daraus folgt, dass auf jeden Fall die Hälfte Deutschlands von den Konzentrations- und Vernichtungslagern wusste! Und dem folgend, mein Lieber, fällt es mir schwer zu glauben, dass die eine Hälfte des deutschen Volkes davon wusste und die andere Hälfte keine Ahnung davon hatte. Außerdem: dieselben Bestialitäten, die die SSler in den Lagern begingen, beging die Wehrmacht mit derselben Leichtigkeit in den eingenommenen Gebieten. Alle wussten es! Glaubt niemandem! Glaubt ihnen niemals! Wenn sie euch zu täuschen versuchen sollten, heißt das, dass sie sich nicht bessern wollen.“ Glaube keiner, dass die Wahrheit uns in Ruhe lässt, wenn wir sie in Ruhe lassen. Iakovos Kambanellis musste 88 Jahre alt werden, um die deutsche Ausgabe seines Werkes zu erleben. Fünf Jahre vor der deutschen, mit dem „Übersetzungspreis 2010“ des österreichischen Bildungs- und Kulturministeriums honorierten Version ist die englische Übertragung von Gail Holst-Wahrhaft erschienen. Es ist dem selbstlosen Dr. Franz Richard Reiter nicht hoch genug anzurechnen, diese Publikation in seinem Verlag ermöglicht zu haben – zur Beschämung sämtlicher hiesiger Großverlage. Denn für „Die Freiheit kam im Mai“ ist dasselbe geltend zu machen, was Günter Kunert über Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ geäußert hat: ein Jahrhundertbuch. Am 29. März 2011 ist Iakovos Kambanellis in Athen verstorben. Ein Denkmal hat er sich selber gesetzt: für immer.
Iakovos Kambanellis, Die Freiheit kam im Mai. Aus dem Griechischen von Elena Strubakis, Ephelant Verlag, Wien 2010, 328 S., 22.- Euro; mit CD „The Mauthausen Cantata“ von Mikis Theodorakis, 34.- Euro
Schlagwörter: Horst Möller, Iakovos Kambanellis, Konzentrationslager, Mauthausen, Mikis Theodorakis