14. Jahrgang | Nummer 7 | 4. April 2011

Atomino im Cyberghetto. Japan als erinnerte Zukunft

von Peter Linke, Moskau

Die deutsche Medienmeute hatte schnell Blut geleckt: Erdstöße biblischen Ausmaßes, Tsunami-Horror, berstende Atommeiler, tausendfaches Sterben… Japan sinkt! Schafft sich ab. Stunde Null, jetzt und überall. Apokalypse beschworen im Minutentakt. Auf die Flutwelle folgte der übliche Expertenschwall. Gelehrte Betroffenheit: Das „Unfassbare“ sei fassbar geworden. Der „Super-GAU“, stilisiert als realisiertes „Restrisiko“, das zügiges Handeln gebiete: “Neues Denken – für Japan und die Welt“ oder ewige Verdammnis. Boscheske Infernalität, hie und da geerdet durch Augenzeugen, die angehalten sind, über ihre „Flucht“ aus der Krisenregion, Lebensmittelengpässe, zerstörte Infrastruktur, kurz: das „allgemeine Chaos“ zu berichten…
Dumm nur, dass ausgerechnet Japanerinnen und Japaner diesem Drehbuch nicht so recht folgen mögen. Seit über eine Woche zeigen sie ein beeindruckendes Maß an Gelassenheit, ja Gleichmut angesichts wirklich nicht einfacher Verhältnisse. Für viele hiesige „Experten“ ein klarer Fall von „Gehirnwäsche“: Die hätten ja keine Ahnung, die Japaner, sie seien naiv und obrigkeitshörig… Die Berliner Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit widerspricht: Gezwungen auf engstem Raum zusammenzuleben, ständig bedroht durch Erdbeben und Vulkanausbrüche, hätten Japanerinnen und Japaner über Jahrhunderte ganz bestimmte Überlebensstrategien entwickelt. Insbesondere die Fähigkeit sich zurückzunehmen, Rücksicht zu üben. Hijiya-Kirschnereit nennt diese Tugend „positive Resignation“: das Beste aus einer Situation machen, ohne überbordende Emotionalität und fatalistisches Gehabe… Das Leben ist flüchtig, lässt sich nicht stellen, driftet wie eine Wolke am Sommerhimmel… Der Kult des Vergänglichen, die Ästhetik des Nichts sind Grundkonstanten japanischer Identität: Nippons Nationalheiligtum, der Große Schrein von Ise, wird alle zwanzig Jahre nicht nur aus handwerklichen Gründen ab- und wiederaufgebaut, die Kirschblüte nicht nur geliebt, weil sie vom Frühling kündet. Vielmehr bieten beide ausreichend Gelegenheit, dem japanischen Schönheitsideal des Unfertigen, Ephemeren zu huldigen…
Sich nicht abfinden mit, sondern hineinfinden in stets unvollkommene Lebensumstände, diese Grundhaltung haben viele Japaner auch im Umgang mit (nicht selten) erzwungenen Technologie-Importen, insbesondere aus dem Westen, an den Tag gelegt: Technische Neuerungen wurden zwar angenommen, jedoch oft nur, um die eigene kulturelle Identität zu schützen. Wakon yosai („Japanischer Geist – westliche Technologie“) avancierte Ende des 19. Jahrhunderts zur gängigen Formel entsprechender Innovationsbemühungen mit der Absicht, das Moderne (die Moderne) mit dem Nationalen zu versöhnen. Vor diesem Hintergrund erschienen viele konkrete Technologien als zweischneidiges Schwert: potentiell unberechenbar, für die Wahrung der Tradition jedoch unumgänglich. Sicherheit im weiteren und engeren Sinne implizierte dementsprechend nicht nur Schutz, sondern auch Souveränität. Der Versuch, beides miteinander in Einklang zu bringen, erwies sich zu keinem Zeitpunkt als leichtes Unterfangen. Allerdings setzte er auch Denkprozesse in Gang, die Japan innerhalb kürzester Zeit zum wichtigsten Hightech-Inkubator der Moderne machten.
Die Kerntechnologie sollte dabei eine entscheidende Rolle spielen. Einerseits galt sie vielen aufgrund ihrer Ambivalenz als sehr japanische Angelegenheit: Wie Namazu, der mystische Riesenwels, konnte auch das manipulierte Atom Fluch und Segen zugleich sein: Godzilla, die verstrahlte Riesenechse, legte im Laufe ihrer fünfzigjährigen Filmkarriere Tokyo wiederholt in Schutt und Asche, verteidigte allerdings auch immer wieder die japanischen Inseln gegen diverse Ungeheuer… Andererseits erwies sich das „friedliche Atom“ als echte „Brückentechnologie“, als Einfallstor in den innersten Kosmos des Menschen. Plötzlich gab es keine wirkliche Grenze mehr zwischen Außen und Innen. Die Welt war in Bewegung geraten, Wakon yosai passé. Tetsuwan Atomu (das Atom mit dem eisernen Arm), ein kleiner, quirliger Roboter, erfunden von Mangaka-Legende Osamu Tezuka, verkörpert wie kein Zweiter diesen Brückenschlag: Zunächst ein totes Stück Metall, zeigt Atomu sehr bald menschliche Emotionen und kämpft fortan für das Gute in der Welt… Ihre traditionelle „Außensicht“ auf technologische Zusammenhänge, gekoppelt mit einer „angeborenen“ Begeisterung für alles Ambivalente, Unfertige ließ Japanerinnen und Japaner früher als viele andere den Schritt ins posthumane Zeitalter wagen, eine Welt der Cyborgs, transgressiver Wesen auf der Suche nach vernetzter multipler Individualität. Eine Welt gewaltiger Möglichkeiten, aber auch erheblicher Risiken, die ins Lot zu bringen das Vermögen einzelner Staaten deutlich übersteigt. In der Kultur und Technik zu einer neuen Einheit verschmelzen und Identitäten jenseits nationaler Grenzen begründen. Die dem Lokalen eine echte Chance bietet, aber nur, wenn es allem Ethnischen entsagt.
Techno-Orientalismus nennen einige diesen avantgardistischen Trend. Cyberpunk dürfte der wohl treffendere Begriff sein, denn noch tut man sich außerhalb Japans schwer mit posthumaner Futuristik, verunglimpft selbst bescheidene Ansätze, Menschsein wirklich neu zu denken, als totalitäre Techno-Onanie. Seit den achtziger Jahren lassen mehrheitlich männliche Autoren ihre meist femininen Protagonisten in Büchern, Filmen und Videospielen über den Sinn posthumanen Seins reflektieren: Motoko Kusanagi (Ghost in the Shell), Deunan Knute (Appleseed), Rein Iwakura (Serial Experiments Lain) Vexille Serra (Vexille: 2077 Japanese Isolation). Sie alle verraten mehr über unsere Seinsmöglichkeiten als manche schwerwiegende akademische Studie, helfen dringend gebotene Debatten über genetische Interventionen, AI, Hirntod, Neuropoetik, Enhancement versus Treatment und verschiedenes mehr alltagstauglich zu machen. Godzilla, so wie wir ihn kannten, mag für immer in den Tiefen des Pazifiks verschwunden sein. Tetsuwan Atomu jedoch ist trotz fortgeschrittenen Alters noch immer unterwegs… Auch nach Fukushima wird Japan auf Atomenergie nicht verzichten. Aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch, weil es sich der Gefahren atomaren Manipulierens stets bewusst war. Und weil es inzwischen einen Entwicklungspfad eingeschlagen hat, der immer weniger zwischen Kultur und Technik unterscheidet und damit Verhältnisse schafft, unter denen Technophobie als inhumaner Akt von vornherein negativ besetzt ist. Im Unterschied zum Westen, wo die Schere zwischen Kultur und Technik immer mehr auseinander zu gehen scheint. Wo Technik zunehmend argwöhnisch beäugt wird, dramatisch vom Ich zum Anderen degeneriert. Wo Atomino längst kein Held mehr ist, sondern nur noch eine blasse Erinnerung im Cyberghetto…
Das Japan von heute ist der Westen von morgen. Aus einer posthumanen Zukunft heraus erinnert es uns daran, dass kultureller Fortschritt ohne technologisches Risiko nicht zu haben ist. Dass Freude ohne Furcht nicht funktioniert. Die Kirschblüte am schönsten ist, wenn sie fällt…