14. Jahrgang | Nummer 6 | 21. März 2011

Bemerkungen

Trostlose Landschaft

Hier liegt einer der fruchtbarsten Ackerböden Deutschlands. Die Straße geht fast schnurgerade durch jahrtausendealtes Kulturland. Von Magdeburg in Richtung Harz ist der Wahlkampf spürbar: An den Laternen der Harzvorlanddörfer hängen Wahlplakate. „Alle Kraft für unser Land!“ Das könnten alle sagen. Hier sagt es die NPD. Sie verspricht auch: „Heyder räumt auf“. Herr Heyder ist kein Wiedergänger des verblichenen Kärntner Landeshauptmannes. Der hieß Haider. Ansonsten ist das schon sehr ähnlich. Nur dass die NPD fürchterlich gegen das Kapital wettert und Herr Haider aus Kärnten entschieden besser aussah. Von den anderen Parteien ist kaum etwas zu sehen. Wahlkampf in Sachsen-Anhalt scheint Männersache zu sein. Die ganz großen Aufsteller werden von Männern dominiert, die Ministerpräsident werden wollen. „Ich stehe für realistische und sozial gerechte Politik im Land“, erklärt Wulf Gallert von der LINKEN. Die SPD macht es knapper: „Bullerjahn ist dran.“ Jens Bullerjahn ist der, der vor Monaten schon verkündete, dass er zwar mit der LINKEN koalieren könnte, aber nur, wenn er Chef werden würde, egal, wie das Wahlergebnis ausfiele. Unter die CDU würde er sich sicher widerstandslos unterordnen. Hat er ja gelernt. Stünde die LINKE wieder daneben. Hat sie auch gelernt, immerhin hatte sie schon einmal acht Jahre hintereinander „toleriert“, unter anderem den Bullerjahn. Die CDU erklärt kurzerhand, dass Dr. Reiner Haseloff „Sachsen-Anhalts Wirtschaftskraft“ oder noch bündiger „Unser neuer Ministerpräsident“ sei. Haseloff ist Kronprinz von Wolfgang Böhmer. Der Landesvater weiß, was gut für die Landeskinder ist. Die CDU liegt in den Umfragen bei 33 Prozent, Die Linke bei 25 Prozent  und Bullerjahns Truppe bei 24. Jens Bullerjahn wird nicht umlernen müssen. Und Wulf Gallert wird sich wohl die Frage stellen, warum nur eine Minderheit „realistische Politik“ überzeugend findet. Die Materialschlacht der NPD scheint sich auszuzahlen. Dabei ist sie physisch im Lande kaum existent. Noch im Dezember 2010 flehte die Mansfelder Fraktionschefin der Braunen im Kreistag, man möge ihr doch unbedingt Unterschriftensammler für die fehlenden Wahlzulassungsunterschriften schicken. In Hettstedt habe sie kein Mitglied! Die Gelder, so munkelt man am Harze, kämen aus Richtung Braunschweig und Goslar…Auch in der drittgrößten Stadt des Landes, in Dessau tobt die Materialschlacht an den Laternen. Im Zentrum wenige Ministerpräsidenten, dafür die Wahlkreiskandidaten. Nur Männer, bei den LINKEN hab ich drei gezählt. Die MLPD plakatiert wenigstens mit gezeichneten Frauengesichtern – aber verbunden mit der Drohung, die Frau befreien zu wollen. Gegen die Ausländer wettert die NPD diesmal zurückhaltend. Sie sagt, dass das Land „deutsche Kinder“ brauche. Die Linke plakatiert dagegen: „Längeres gemeinsames Lernen gibt es nur mit uns.“ Mir fiel dieser überzeugende Spruch auch nur auf, weil in einem der vielen „…leben“-Dörfer als einziges Plakat nur noch eben dieses der Linken hing. Neben dem Pfarrhaus. Eine Schule gibt es in dem Orte seit Jahren nicht mehr. Wozu auch. Die Landschaft verliert ihren fruchtbaren Boden zunehmend an Kiesgruben und mehrspurige Schnellstraßen, für die ebendiese Kiesgruben gebraucht werden. Die Schnellstraßen werden gebraucht, damit die jungen Männer sonntagabends das Land wieder in Richtung Südwestdeutschland oder die Niederlande verlassen können. Die Frauen sind Verkäuferin beim Discounter oder in einer „Maßnahme“ oder ganz allein zu Hause. Die verbliebenen Ackerflächen werden im Frühling wieder goldgelb leuchten. Raps für den Bio-Sprit, den in Sachsen-Anhalt keiner kauft. Egal, wer in Magdeburg regiert.

Günter Hayn

Und so schließt man messerscharf…

„Es kann nicht sein, dass …
die Lebensmittelskandale mit ihren Auswirkungen auf Lebensmittelpreise,
die Spekulation mit Erdöl samt anhängender Preistreiberei,
die Gier von Banken und Anlageberatern samt Geldvernichtung für Staat und Sparer,
die Ökologisierung des Sprits (E10) samt Kostenexplosion für Benzin,
die Gesundheitsreformen 1-X mit Gebührenerhöhungen und Leistungsminderungen,
der Wirtschaftsboom dank keiner oder unzureichender Lohnerhöhungen,
die Mietentwicklung mit den stetig wachsenden Kostensteigerungen… auf dem Rücken der Verbraucher ausgetragen werden“,
haben neben Verbraucherlobbyisten wie dem ADAC vor allem etliche Bundesminister und Parteilautsprecher mit fester Stimme und grimmiger
Kampfentschlossenheit im Blick verlauten lassen, als es um besagte (und weitere, hier nicht aufgeführte) Belastungen der Bürger ging.
Die Realitäten sehen das anders: Doch, es kann!

HWK

Ach, Friedrich…

Es muss eine Zugangsbedingung zur CSU sein; zumindest aber hat, wer nicht zum Pitbull taugt, wenig Chancen, in dieser Partei etwas zu werden. Die Liste der Amtsträger des Generalsekretärs oder Landesgruppenchefs im Bundestag liest sich wie eine Wadenbeissergenealogie: Strauß, Zimmermann, Stoiber, Tandler, Protzner, Huber oder Söder bei den einen, Glos und Ramsauer, um nur die beiden letzten CSU-Botschafter im Reichstag zu nennen. Ein schönes Buch könnte füllen (gibt es das vielleicht schon?), wenn man die markigen Worte dieser Leute in diesen und anderen Funktionen zusammenstellte – an Verbalinjurien und anderen Beschimpfungen bis hin zu Demagogien aller Schattierungen hat es aus derlei Mündern allzeit nur so herausgewimmelt.
Nun also Hans-Peter Friedrich. Kaum als Innenminister inthronisiert, wusste er – gleich nach „Guten Tag“ zur Presse – zu sagen, dass der Islam, historisch, nicht zu Deutschland gehört. Nun kann man dieser Meinung sein, und „historisch“ ist sie, wenn man damit die lang zurückliegende Geschichte meint, ja nicht mal falsch. Aber warum redet ein für das friedliche und gedeihliche Zusammenleben in unserem Land zuständiger Minister als erstes über vergangene Zeiten? Warum nicht zuerst über jene, in denen wir leben und die wir vor uns haben, und die sich hinsichtlich des in Rede stehenden Sachverhalts denn doch bereits anders darstellen? Und wie hilfreich soll eine solche Feststellung erst sein, wenn man das – auch von Deutschland gewollte und aktiv betriebene – Zusammenwachsen Europas im Auge hat? Gehören dann etwa Spanien mit seinen maurischen Wurzeln oder gar die Türkei mit den muslimischen nicht zu dem, womit wir zusammenwachsen wollen?
Kann jemand, der Minister wird, wirklich so dämlich sein, dies alles zu ignorieren, wenn er sich staatstragend äußert? Oder wars wieder mal „nur“ eine Posse aus der CSU-Trachten-Tradition? Sofern letzteres zutrifft, wäre es kaum verwunderlich, wenn Friedrich künftig an den Schluss seiner zu befürchtenden Reden die Forderung setzt, dass Karthago zerstört werden muss. Wenigstens dann wäre ihm – gleich Cato – ein Eintrag ins Geschichtsbuch sicher.

Helge Jürgs

Tage des Zorns

„Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.“ – So ziemlich jeder kennt diesen ebenso schönen wie wahren Satz. Und ein jeder ist sich sicher im Klaren darüber, dass dieser analog noch auf viele andere Lebenssituationen zutrifft – im Individuellen ebenso wie im Gesellschaftlichen. „Frisch vom Fass“ nun dieses Beispiel. Finanzminister Schäuble will verfügen, dass künftig auch Beamte Parkgebühren zahlen, wenn sie ihre Karossen an ihren ministeriellen Dienststellen abstellen. Aber ach – trotz lang-langjähriger Erfahrung mit dieser Kaste ist Schäuble wohl entfallen, mit wie viel Konsequenz in die selbsterlassene und -verwaltete Politik man es zu tun hat, wenn es ans eigene Eingemachte geht. Selbst das Bundesumweltministerium (sic!) kann sich nun einen reibungslosen Betrieb nicht vorstellen, wenn seine Beamten entweder zahlen oder es halt doch mal versuchen, mit dem ÖPNV zur Bonner Dienststelle zu reisen. Und aus dem Justizhaus von Frau Leutheusser-Schnarrenberger verlautet gar streng, dass „ganz erhebliche Störungen im Betriebsklima“ die Folge sein könnten, sollten Parkplätze künftig kostenpflichtig sein – Tage des Zorns made in Germany.
„Nu stelle mer uns mal janz dumm“ – würde Professor Schnauz aus der „Feuerzangenbowle“ vermutlich sagen, und würde explizieren, wie das Bundesklima aussähe, wenn die Hunderttausenden deutscher Beschäftigter ebenso reagieren würden wie die in der Regel besserbetuchten Beamten. Das ist allerdings ähnlich unvorstellbar wie eine nichtprivilegierte Beamtenschaft.
„Der Beamtenkörper, völlig Selbstzweck geworden, erkennt keinesfalls den imaginären Auftraggeber „Staat“ an, für den und durch den erst Beamte sind; der Beamtenkörper ergänzt sich vielmehr durch Kooptation, und seine Kohäsion ist so groß, daß er jeden mißliebigen Eindringling sofort ausscheidet. Meist nimmt er ihn aber gar nicht auf“, hat Tucholsky diesen Stand einst charakterisiert. Da hat Schäuble offenbar Glück gehabt, oder er versucht sich – den Ruhestand vor Augen – zum Schluss doch noch mal als agent provocateur …

Hella Jülich

Die geöffnete Tür

Hinter der Tür fängt die Wohnung an. Die Privatsphäre, die es zu schützen gilt, findet in der Tür ihre Verwirklichung. Zuknallen, abschließen – Ruhe. Privatsphäre für jeden, andere wollen damit nicht belästigt werden, wissen will man es schon – die Tür nicht nur als Schutz der Innenwelt vor der äußeren, sondern auch als Schutz der Außenwelt vor der feindlichen Innenwelt. Tür zu, das Leben beginnt. Tür auf, ein anderes Leben, mit anderen Menschen, vielleicht gar einem anderen Selbst neukonstituiert bis zur Wiederkehr, ein anderer Mensch betritt die Wohnung, fällt ab, der Mensch kommt zum Vorschein.
Eine Anomalie: Eine Tür, die offen steht. Verständnislos gehen Menschen daran vorbei, keiner der schweigt, nicht ablehnend schweigt, sondern schweigt aus der Selbstverständlichkeit der offenen Tür heraus: „Was soll denn das?” „Was ist denn dahinter?” „Da zieht ja der Essengeruch in den Flur.” „Also, das würde ich nicht tun.“ Mancher traut sich den Kopf vorschiebend einen Blick zu tun, staunen, in der Schnelle nichts erfassen, ein lächelnder Mann kommt eventuell aus seinem Zimmer, Kopf zurückgezogen: „Entschuldigung.” Ein sanftes Lachen, das sagen will: „Wofür eigentlich?“
Wer länger hineinschaut ist verwundert, nichts, kahle Wände, hohe Decken, in der Mitte ein Piano, eins, das man nie hört, das nie gespielt wird – ein Erbstück oder eine abgestoßene Leidenschaft? Wenig Platz in der Wohnung, hier sei Stauraum? Ein empörter Spaßvogel rannte einst in den Raum, als keiner schaute, warf die Klappe über den Tasten hoch und spielte einen Ton, ein dumpfer Schall brach sich an den Wänden, schoss durch die Tür in den Flur; ein zweiter Ton, ein Grollen stieg auf, das Instrument brach in Zittern aus, dann strenge Ruhe, die Schwingungen waren durch die geöffnete Tür entkommen. An der Seite sprang mit einem dumpfen Laut ein Splitter heraus und stand in beinahe Neunzig Grad vom Instrument ab. Der Spaßvogel war entzückt, klappte sorgsam den Deckel zu und wollte gerade gehen, als er an dem Splitter hängen blieb, sein Hemd sich spannte, er zurück gerissen wurde und in Höhe der Niere einen leichten Schmerz verspürte. „Wehrhaft”, war seine Antwort.
Die geöffnete Tür ist nur ein Teil der Wahrheit, Provokation ohne kontroversen Inhalt. Sie gibt nur das Vorzimmer mit vielen geschlossenen Türen, die zu vielen kleinen Wohnungen führen, frei. Hinter einer pflegt eine junge Frau ihre Geige, streicht regelmäßig verschiedene Töne, damit sie wohl klinge. Sanfte Töne dringen durch die Decken und Wände, keine Tür, die etwas nützt; Instrumente müssen gespielt sein, damit sie nicht belästigen im großen Saal – in geschützten Räumen.

Paul

Manns Kopf und Friedls Beine

„Mein Kopf und Marlenes Beine!“ So kommentierte Heinrich Mann den Welterfolg des Films „Der blaue Engel“, der 1930 nach seinem Roman „Professor Unrat“ entstanden war. Unter Verwendung des damaligen Drehbuches hat Peter Turrini eine Bühnenfassung nach Roman und Film verfasst, die vor anderthalb Jahren am Wiener Theater in der Josefstadt uraufgeführt wurde und nun am Berliner Theater am Kurfürstendamm Premiere hatte. Manns Kritik an Verlogenheit, Sinnenfeindlichkeit und Bigotterie im wilhelminischen Deutschland ist wie auch schon im Film weitgehend der Tragikomödie eines alternden Verliebten gewichen. In diesem Rahmen hat Altmeister Klaus Gendries eine gediegene Inszenierung geliefert, in der er ein gelungenes Bühnenbild (Martin Rupprecht) bespielen lässt. Die Drehbühne ist mit den Dekorationen des Tingeltangels, der Künstlergarderobe und dem Flur vor einer Gymnasialklasse bestückt. Walter Plathe steht als Gymnasialprofessor Rath im Mittelpunkt. Er gibt der Rolle, was sie braucht: viel Strenge, aber auch Nachsicht – besonders der „Künstlerin Fröhlich“ gegenüber, vielleicht zu wenig Komödiantentum, und eine Prise Tragik ist auch dabei. Ein Jannings ist er allerdings nicht, will sagen, er bleibt eher einschichtig. Die Lola wird am Ku´damm von Eva-Maria Grein von Friedl gespielt, die so nahe am Marlene-Vorbild ist, wie man es von der Rolle erwartet, und so eigenständig, dass man in ihr keine Kopie sieht. Maria Mallé und Reiner Heise beeindruckten als Ehepaar Kiepert, wobei besonders die Mallé mit dem Abstieg einer einst originellen Kleinkünstlerin zum versoffenen Wrack dem Stück die tragische Note gab, die das Hauptpaar ihm schuldig blieb. Der musikalische Leiter Florian Fries hält das Ganze als Mitspieler zusammen – die berühmten Hollaender-Chansons aus dem Film werden durch andere Ohrwürmer aus der Feder des Meisters und einem Lied von Werner Richard Heymann stimmungsvoll ergänzt.

F.-B. Habel