14. Jahrgang | Nummer 3 | 7. Februar 2011

Maxim Gorki „Kinder der Sonne“

von Frank Burkhard

„Sattheit enthält, wie jede andere Kraft, immer auch ein bestimmtes Maß an Frechheit, und dies äußert sich vor allem darin, daß der Satte dem Hungrigen Lehren erteilt.“(Anton Tschechow)
Der Dramatiker Tschechow hatte ein feines Gespür für die von sozialen Spannungen aufgeladene Atmosphäre im zaristischen Russland. Im Jahr nach seinem Tode kam es zur ersten nennenswerten revolutionären Erhebung, und im gleichen Jahr 1905 wurde der etwas jüngere Maxim Gorki wegen antizaristischer Proteste in der Petersburger Peter- und Pauls-Festung festgehalten. Hier schrieb er das Drama „Kinder der Sonne“, dessen ironischer Titel schon verrät, dass sich Gorki an die Tragikomödien des bewunderten Tschechow anlehnte. Stärker jedoch als er stellte Gorki, der Bittere, wie sein Künstlername übersetzt wird, die sozialen Verwerfungen der russischen Gesellschaft in seinen Stücken aus.
Nicht wenige Zuschauer werden sich noch an die spannungsvollen Gorki-Inszenierungen erinnern, die vor mehr als 30 Jahren Regisseure wie Wolfgang Heinz und Peter Stein auf die Bühne brachten. Nach einer gewissen Gorki-Flaute scheint man sich wieder auf ihn zu besinnen. Luk Perceval holte im Frühjahr das eher selten gespielte Stück im Hamburger Thalia-Theater in die Gegenwart, und nun hatte Gorkis „Kinder der Sonne“ am Deutschen Theater Berlin Premiere, dem Traditionshaus Max Reinhardts, der 1906 die deutsche Erstaufführung herausbrachte. Seinerzeit urteilte S.J., Siegfried Jacobsohn, in der „Schaubühne“ über Personage und Handlung: „Das sind Geschöpfe, die ihre Bestimmung darin erblicken, so oft zu kommen, Tee zu trinken und wegzulaufen, dass ein Lamm zum Tiger würde, müsste es dieses unaufhörliche Hinundherrennen mit ansehen. Wenn sie doch einmal stillstehen, dann machen sie Liebeserklärungen oder hören sie an, gefährden durch ihren Arbeitsegoismus das Familienleben und verhindern durch ihren Wahrheitseifer jede dramatische Verwicklung. … Sie langweilen auf die Dauer, weil sie Lustspielfiguren sind, die in traurige Vorgänge verflochten werden. Dieser Kontrast würde alles andere als langweilen, wenn sie nicht bloß für uns, sondern auch für den Dichter Lustspielfiguren wären. Er nimmt sie bitter ernst.“
Man kann darüber streiten, ob nicht auch Lustspielfiguren nur dann ihre Wirkung entfalten können, wenn sie ernst genommen werden. Insofern hätte Max Reinhardt es 1906 richtig gemacht. Regisseur Stephan Kimmig hat ein gutes Jahrhundert später exzellente Schauspieler zur Verfügung, die ihre Rollen ernst nehmen, so dass die Pointen in Gorkis Text zur Geltung kommen. Die Aktualität liegt auf der Hand. In der satten Mittelschicht interessiert sich niemand für gesellschaftliche und soziale Verwerfungen, aber man faselt von der Schaffung des „neuen Menschen“. Alle Charaktere sind in tragischen Irrtümern verfangen, die in Verbindung mit ihrer Oberflächlichkeit und inneren Leere zum Lachen reizen: Intellektuelle und Künstler, deren Gedanken nur um sich kreisen und die ihre Umgebung nicht wahrnehmen. So weit so gut.
Das eigentlich Tragische an dieser Inszenierung liegt aber nicht in dem, was gespielt, sondern darin, was von Stephan Kimmig und seinem Team weggelassen wurde. Nicht die behutsamen Modernisierungen machen stutzen – etwa, wenn der Chemiker Protassow hier zum Genforscher wird und am Computer arbeitet. Schon eher, wenn die außerhalb des Idylls der Besserverdienenden herrschende Cholera zum einzelnen Grippefall der Hausmeistersfrau mutiert. Der Hausmeister tritt auf, doch die gesamte Außenwelt wird ausgeklammert, ja, nur beiläufig erwähnt. Stephan Kimmig hat das Ensemble auf sieben Figuren reduziert, ganze Handlungsstränge eliminiert. Er schuf eine anderthalbstündige Reader´s Digest-Fassung des Stückes, die niemandem wehtun wollte. War er sich darüber im Klaren, dass eben die, die Gorki hier kritisierte, die zahlenden Parkettbesucher des Deutschen Theaters darstellen? Leute, die sich ihrem Karrieredenken und ihren Launen hingeben, auskömmlich leben können und sich edel vorkommen, wenn sie einem Straßenzeitungs-Verkäufer Geld geben? Im Grundgestus mag sich das Publikum im DT durchaus wiedererkannt haben und quittierte es mit einverständigem Lachen, um schon bei der Premierenfeier alles zu vergessen. Das Bühnenbild (Katja Haß) – originell, weil es aus einem Stangenwald bestand, die Kostüme (Anja Rabes) – modern und wurden nicht abgelegt (nur Alexander Khuon und Sven Lehmann machten Andeutungen, sich zu entblößen), und die übriggebliebene Darstellerriege spielte eine Spur gediegener, als es im Boulevard-Theater sonst üblich ist. Ulrich Matthes und Nina Hoss brillierten als Ehepaar Protassow, und auch Katharina Schüttler war nicht schlecht. Doch warum musste sie die Nina (zumindest in der Premiere) so deutlich als Schwangere spielen? Lag hier der tiefere Grund für Boris´ Selbstmord? Das wurde in Stephan Kimmigs Gorki-Stückchen nicht erklärt und interessierte wohl auch nicht. Gern wüsste ich, was S.J. dazu gesagt hätte.