14. Jahrgang | Nummer 4 | 21. Februar 2011

Das Augsburger Zweigespann

von Renate Hoffmann

An zwei Herren kommt man in der Stadt Augsburg nicht vorbei: Jakob Fugger (1459-1525) und Bertolt Brecht (1898-1956). Mit dem Einen taten sich die Bürger leicht, mit dem Anderen – schwer. Zu Ersterem heißt es: „Er stiftete 1521 die Fuggerei als Wohnsiedlung für bedürftige Bürger Augsburgs … Sie ist heute die älteste (noch bestehende) Sozialsiedlung der Welt.“ Von B.B. meinten die Augsburger, er sei die „umstrittenste geistige Symbolfigur in den Zeiten des kalten Krieges“ gewesen.
Dem Älteren gebührt der Vorrang. Das wohl eindrucksvollste Abbild des Jakob Fugger schuf Albrecht Dürer. Der Maler vertrat seine Vaterstadt Nürnberg 1518 auf dem Reichstag zu Augsburg und versah dort sowohl kommunalpolitische als auch künstlerische Aufgaben. Dürer porträtierte bei dieser Gelegenheit Kaiser Maximilian I. und den Handelsherrn und Bankier Fugger, den man auch „den Reichen“ nannte. Energisch, jedoch bedachtsam; weitschauend, jedoch den Augenblick erfassend; berechnend, doch gerecht. Klare Züge einer Persönlichkeit, die Toleranz übt, jedoch im entscheidenden Moment keinen Widerspruch duldet. Der Maler zeigt den „reichsten Mann seiner Zeit“ stilvoll gekleidet, ohne Preziosen. Jakob Fugger trägt als Kopfbedeckung eine goldfarbene gewirkte Kappe mit feinem Muster. Ist es Brokat? Um die Schulter legt sich eine breite Pelzschaube, sehr nobel … Ich versuche ein eigenes Bild zu gewinnen und gehe die Jakoberstraße hinunter. Am Haupteingang zur Fuggerei liest man, knapp gefasst, Wissenswertes über die soziale Reihenhaussiedlung des 16. Jahrhunderts; erfährt, dass die damals festgelegte Jahresmiete von einem Rheinischen Gulden nach wie vor Gültigkeit besitzt. Sie entspricht, nach allen Unbilden der Zeit und den Währungsumstellungen, heutzutage 0,88 Euro (Kaltmiete). Erstaunen. Für das Wohnen in der Fuggerei galten und gelten Vorbedingungen und Gegenleistungen. Aufgenommen wurden nur Augsburger Bürger, und sie sollten der katholischen Konfession angehören. Ihre Hilfsbedürftigkeit musste erwiesen sein. Einmal Mitbewohner der Fuggerei sind täglich drei Gebete für den Stifter und dessen Familie zu entrichten. Das tägliche Beten gilt für jeden Fuggerianer – nicht etwa, dass es die Mutter für alle Familienmitglieder übernimmt. Die Statistik vermeldet: Acht Gassen, drei Tore, eine „Stadtmauer“; 67 Häuser, 140 Wohnungen; zwei Museen. Merke: Schließung des Haupttores pünktlich 22 Uhr. Danach bleibt den Bewohnern als einziger Zugang die Nachtpforte am Ochsentor. Wer zu spät kommt … der zahlt. Bis 24 Uhr 50 Cent, von null Uhr bis ultimo einen Euro.
Ich schaue sie mir an, die „Stadt in der Stadt“. – Die Herrengasse, Hauptmeile der Fuggerei, flankieren Wand an Wand in freundlichem Gelb gehaltene Häuser. Wilder Wein rankt an ihnen empor. Gleich zu Beginn, an der südlichen Giebelfront der Kirche St. Markus, mahnt ein Sinnspruch: „Nütze die Zeit“. Die dazu gehörige Sonnenuhr ist heute nicht aufgezogen – am Himmel ziehen Wolken. Nebenan, in der Herrengasse Nr. 35, steht das ehemalige Schulhaus. Man tat sich etwas zugute darauf, den Kindern, die hier aufwuchsen, lebensnotwenige Kenntnisse zu vermitteln. Am Torbogen gegenüber prangt das Hauswappen, dem ich auf dem Spaziergang noch öfter begegne: Die Fuggerschen Lilien. Blau in goldenem Feld; golden auf blauem Grund. Sie durften sich „Fugger von der Lilie“ nennen (welch poetischer Name), nachdem sie Kaiser Friedrich III., der seinen Sohn Maximilian I. auf einer Brautschau begleitete, mit kostbaren Stoffen versehen hatten. Maximilian erschien später unter anderen, weniger bräutlichen Umständen in der Herrengasse 40-42. Im dortigen „Holzhaus“ behandelte man syphiliskranke Patienten. Aus dem eingelagerten Guajakholz wurden heilende Mittel gegen die Geschlechtskrankheit bereitet. Maximilian befand sich in guter Gesellschaft. Der Kardinal und Erzbischof von Salzburg Matthäus Lang suchte das „Holzhaus“ ebenfalls auf. Durch einen späteren Umbau erhielten Patienten, Arzt und Pfleger bessere Bedingungen. Dem Gesundheitswesen galt in der Fuggerei seit jeher besondere Aufmerksamkeit. In den Gassen herrscht reger Touristenbetrieb. Ich vernehme viele Sprachen. An einer Wohnungstür hängt das Schild: „Vorsicht Kampfkatze.“ Ob es die Neugier der Besucher mit einem Lächeln auf Distanz halten soll?
Am Eingang Nr. 14 in der Mittleren Gasse verkündet eine Tafel Überraschendes: „In diesem Hause wohnte von 1681–1693 der Maurer Franz Mozart. Dieser Bürger der Fuggerei schenkte mit seinem Urenkel W.A. Mozart der Menschheit den größten Tonschöpfer aus schwäbischem Stamm.“ Urgroßvater Franz, der wahrscheinlich als Baumeister in der Sozialsiedlung seine Aufgaben fand, zeugte nicht nur in dritter Generation der Menschheit größten schwäbischen Tonschöpfer, er lebte auch ein Jahr länger als auf dem steinernen Gedenkblatt angegeben. Im Fuggereimuseum tut sich das Imperium der Handelsfamilie auf, welches von Indien bis Amerika reichte. Zu besehen und zu begehen ist auch eine Wohnanlage, wie sie im frühen 19. Jahrhundert zur Verfügung stand; klein, doch praktisch. Im Flur hängt die Hausordnung. „§ 2 Jeder Fuggerei-Insasse und alle seine Angehörigen sind zu einem friedfertigen Verhalten gegenüber ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen verpflichtet … Die jungen Insassen mögen besonders Rücksicht gegenüber den alten üben … §4 Jede Fuggereifamilie hat auf eine einwandfreie moralische Lebensführung ihrer Mitglieder zu achten.“ So, so …
Der Besucherstrom schwillt an. Ich dränge hinaus und hinüber zu Eugen Berthold Friedrich Brecht „Auf dem Rain“ Nr. 7. Über einen Lechkanal gelangt man zum „Brechthaus“. Auf der kleinen Brücke steht er selbst. Aus Stahl geschnitten, nachgebildet einem Scherenschnitt von Lotte Reiniger. Schmal, ein wenig gekrümmt, kachektisch, als entspräche die Figur einer Passage aus B.B.s Selbstbiographie:„ …im Frühjahr dieses Jahres (Berlin1922, d. A.) wurde ich wegen Unterernährung in die Charité eingeliefert… Nach 24 Jahren Licht der Welt bin ich etwas mager geworden.“ Ich lese mich durch sein aufregendes Leben. Betrachte ihn auf begleitenden großformatigen Fotos. Vom achtzehnjährigen Jüngling, der mit eng beieinander liegenden Augen etwas verstört ins Licht der Welt schaut (und seiner Mutter sehr ähnlich sieht), bis zum gestandenen B.B., wie man ihn kennt. Schirmmütze, dunkelumrandete Brille, skeptischer Blick. Und mit einem wissenden Lächeln, das auch über Fritz Cremers Brechtbüste liegt. Überhaupt – man sieht, wie sie ihn sahen, die Bildhauer, die Maler. Statuetten und Porträtbüsten von Gustav Seitz, Waldemar Grzimek, Paul Hamann und anderen. Und man liest, was Schriftstellerkollegen und Theaterleute von ihm hielten. Allen voran der Freund Lion Feuchtwanger:„Deutschland hat viele große Sprachmeister. Sprachschöpfer hat es in diesem zwanzigsten Jahrhundert nur einen einzigen: Brecht.“ Als Zeitzeugin stehe ich verblüfft vor einer prophetischen Äußerung Bertolt Brechts (1956):„Wenn Deutschland einmal vereint sein wird, jeder weiß, das wird kommen, niemand weiß, wann – dann wird es nicht sein durch Krieg.“ Die Gestaltung des „Brechthauses“ folgt einer lebendigen Grundidee: Dokumente, Kunstwerke, Rauminszenierungen zu zehn Theaterstücken, persönliche Gegenstände, Informationen, Lebensbilder; Zeugnisse, die den Zeitgeist wiedergeben – alles greift ineinander. Man wird in die Vielfalt der Welt des Bertolt Brecht hinein gezogen. Am Treppenabsatz zum Obergeschoss fällt der Blick auf eine Stadtansicht von Augsburg aus dem Jahr 1907. Das Bild wird ergänzt mit Brechts dreistrophiger Serenade:

Jetzt wachen nur mehr Mond und Katz
Die Menschen alle schlafen schon
Da trottet übern Rathausplatz
Bert Brecht mit seinem Lampion.

Und wenn ihr einst in Frieden ruht
Beseligt ganz vom Himmelslohn
Dann stolpert durch die Höllenglut
Bert Brecht mit seinem Lampion.

Man lernt nicht nur das umfangreiche Oeuvre des Dichters und Theatermannes kennen, hinein gewoben ist manches aus dem privaten Lebensbereich. Bande zwischen Wahrheit und Dichtung lassen sich knüpfen. Von Freunden und Freundinnen wird berichtet, von Lieb- und Eheschaften. Da ist Paula Banholzer, der er zum Angedenken ein Armband mit Türkisen schenkte – und sie ihm einen Sohn. Marianne Zoff, die er ehelichte… und all die anderen aparten Frauen. Auch Rosa Maria Amann, eine Schöne mit großen dunklen Augen unter dunklem Haarschopf, sinnlich, verletzbar, temperamentvoll. Ihr schrieb B.B. eines seiner schönsten Liebesgedichte – Einnerung an die Marie A.:

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum…“

Mit Schauder lese ich von der Ausbürgerung Brechts am 8. Juni 1935. „Auf Grund des § 2 des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft vom 14. Juli 1933 … werden folgende Staatsangehörige der deutschen Staatsbürgerschaft für verlustig erklärt…“ Die Aufzählung der Betroffenen ist lang. Unter ihnen finde ich, außer dem Dichter, viele bekannte Namen: Friedrich Wolf, Hermann Budzislawski, Erika Mann, Walter Mehring, Erich Ollenhauer… Die düstere Zeit war angebrochen. Sie zwang Brecht zur Flucht von Land zu Land. Von Kontinent zu Kontinent. Die Hochzeit für den Dramatiker B.B. beginnt, nach der Rückkehr aus den USA und einem Zwischenaufenthalt in der Schweiz, 1948 in Berlin. Man bietet ihm den Aufbau eines eigenen Ensembles an. Am 12. November 1949 eröffnet mit „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ das Berliner Ensemble die Spielzeit. Regie: Bertolt Brecht und Erich Engel.

EPILOG (nicht von B.B.):

Und er reiste durch die Lande,
war mal hier und war mal dort.
Eine böse Räuberbande
trieb ihn immerwährend fort.

Auch sein Dichtergeist war triebig,
jagte ihn von dort nach hier,
und er schrieb schier unermüdlich
die Gedanken aufs Papier.

Dann verließ er ird’sche Breiten,
Augsburgs arg gezauster Sohn.
Schweift nun zwischen Bücherseiten…
Bertolt Brecht mit Lampion.