von Klaus Hammer
„Blau ist die Farbe deines gelben Haares. Rot ist das Girren deines grünen Vogels. Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier, ich liebe dir!“ So dichtete der „Merz“-Künstler Kurt Schwitters. Setzt sich Wolfgang Leber in seinem 1996 entstandenen Aquarell „Blaue Blume“ mit diesem grotesken Liebesgedicht „An Anna Blume“ auseinander? Die in einem Konstrukt blauer und schwarzer Linien eingebundene, gewächsartige Figur unterscheidet sich von einer Blume kaum. Ist es nun ein Porträt, ein Psychogramm, eine Balkonpflanze, eine Parodie auf die Blaue Blume der Romantik? Wer Wolfgang Lebers malerisches, zeichnerisches und grafisches Werk kennt, weiss, dass es nicht nur allein die Farbe, sondern auch die Linie, die Kontur, die silhouettenhafte Urform ist, die das Wesentliche im Kunstwerk bannt. Das Allernatürlichste, hier das Blau, birgt die Gefahren verführerischen Selbstbetrugs in sich.
Auf ein dreiviertel Jahrhundert kann Wolfgang Leber in diesen Tagen zurückblicken. Der gebürtige Berliner studierte seinerzeit an der Werkkunstschule und der Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg, musste aber durch den Mauerbau 1961 sein Studium abbrechen. Er war dann freischaffend tätig, leitete 25 Jahre lang aufopferungsvoll das Werkstudio Grafik im Prenzlauer Berg, wurde 1990 einer der Initiatoren der Künstlerinitiative „Maisalon“, die jährlich größere Ausstellungen mit Berliner Kunst in Berlin, Frankfurt/M. und Bonn zeigte, nahm verschiedene Lehraufträge wahr und war zuletzt Professor für Malerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Mit seinen Arbeiten liefert er Modelle der räumlich-architektonischen Umwelt auf der Fläche. Jedes persönliche Erinnerungsstück, das als Attribut eines Menschen verstanden werden könnte, ist vermieden. Seine (Innen- und Außen-)Räume haben eine anonym geometrisierende Form. Sie sind Spiegelungen, Brechungen, Krümmungen, Reflexionen – Abbild und Sinnbild – der psychischen und geistigen Existenz des Menschen, vermögen aber durchaus auch die Last sozialer Bedeutungen zu tragen. In diesen Räumen erscheinen die Figuren vereinsamt, sie scheinen sich dem Raum wie ausgeliefert zu fühlen. Sie setzen sich aus stereometrischen Grundformen zusammen. Es sind Figurenzeichen ohne äußere Physiognomie wie eigene Psyche, Kunstfiguren aus kontrastierenden Form- und Farbelementen. Die für das späte Bauhaus charakteristische Sachlichkeit und systematische Konstruktion werden hier nicht ohne Einfluss gewesen sein.
Nicht das Einmalige des Geschehens soll gezeigt werden, dazu sind die Bilder Lebers viel zu „ereignislos“, sondern der Bildraum scheint sich über die Bildränder hinweg zu erweitern. Dem Betrachter wird zugemutet, ein fragmentarisch dargebotenes Werk, die im Bild enthaltene reduzierte Form der Information durch eigene Projektion zu ergänzen. Der Künstler will aber seine Arbeiten nicht als intellektuelle Bilder verstanden wissen. Sie sind nicht allein mit dem Kopf, sondern vor allem mit dem Gefühl gemalt. Der ästhetische Bezug zur Rationalität und Präzision der technischen Form wird immer wieder aufgehoben durch die Emotionalität der Gestaltung. Trotz thematischer und motivischer Begrenzung – Figur, Raum, Stadt, Natur, Stillleben – verfügt Leber über einen Malstil von außerordentlicher Spannweite: Der unterkühlte, kalte Konstruktivismus wird belebt durch die sensitive Farbe. Farbfeld stößt an Farbfeld, Farblicht steht gegen Farbmaterie, Farbflächen mit ihren Kontrasten übernehmen den Aufbau der Komposition: das Rostrot und Zinnober, die tiefen, vollen Kobaltblaus und das sanfte Veilchenblau, die Fuchsien- und Orangentöne, die samtigen Schwarz und Hellgelb. Die Bilder leuchten in gedämpfter Festlichkeit auf und drängen mit der Fülle ihrer farbigen Klänge in eine expressive Richtung. Die Entmaterialisierung und Überwindung des Stofflichen im „Blauen Reiter“ mag dem Künstler dabei näher gestanden haben als das Festhalten am Dinglichen wie bei der „Brücke“. Und durch die Berührung mit der Farbe der Franzosen (hier ist vornehmlich Matisse zu nennen) wird seine Malerei blühend und definiert und moduliert mit ihren Mitteln die Raum- und Gegenstandsvolumen. Auch Schwarz und Weiß wird Farbe, und damit ist der Schritt von der grafischen zur malerischen Formbestimmung vollzogen. Im letzten Jahrzehnt sind die Arbeiten des Künstlers zunehmend instabiler und komplizierter geworden. Doch die tragenden und lastenden, fallenden und stürzenden, ziehenden und stoßenden Flächen stellen letztendlich doch ein Gleichgewicht aus elementaren Spannungen her, das auch durch Dissonanzen nicht völlig aufgehoben wird. Linien spannen sich zu Geraden, schräge Körperebenen richten sich zur Vorderfläche parallel, Senkrechte steht neben Waagerechte, Körper gegen Raum. Die Spannung zwischen Expressivem und Konstruktivem, Hell und Dunkel, Schwermütigem und Heiterem, fast Mediterranem, Position und Negation, Intuition und klarer, geistiger Kontrolle hält die Bilder zusammen. Das hervorstechende Merkmal des persönlichen Stils von Wolfgang Leber ist seine meditative Erlebnisfähigkeit. Seine Bilder treten aus dem ästhetischen Raum heraus und erhalten eine lebenssichernde und lebensordnende soziale Funktion.
Das Bild ist bei Leber ein Ort von Durchdringungen und Entgegensetzungen – erzeugt wird eine komplexe Bildstruktur, die als Ausweis der medialen Qualität von Malerei verstanden werden kann. Nicht-Präsentes stellt sich her, das zwischen den Bildebenen Verrätselungen schafft statt sie wechselhaft zu kommentieren. Das Sichtbare soll verborgen, das Verborgene zugleich wieder sichtbar werden. In ihrer quasi abstrakten Eigenwertigkeit nehmen die Farben und Flächen eine inhaltliche Bedeutung an. Es sind so zu sagen abstrakt gegenständliche Bilder. Sie lassen in ihrer visuellen Poesie die Lebendigkeit der Welt zu kargen Träumen gerinnen. Es sind Figurenbilder von spröder Weltangst, Zeit-Zeichen gegen Gefährdung, Entfremdung, Bedrängnis und Erstarrung. Und so vermögen sie dann auch wieder dem Betrachter Lebensmut und Widerstandswillen zu vermitteln. Glückwunsch zu Deinem Fünfundsiebzigsten, lieber Wolfgang Leber! Wir warten gespannt auf Deine noch ungemalten Bilder.
Schlagwörter: Grafik, Klaus Hammer, Malerei, Wolfgang Leber