14. Jahrgang | Nummer 3 | 7. Februar 2011

Chorin im tiefen Winter – Ein Nachtrag

von Renate Hoffmann

Nordöstlich von Berlin gelegen und halbwegs noch im Bannkreis der rührigen Hauptstadt. Das Zisterzienser Kloster Chorin. Nicht eigentlich an seinem Gründungsort erstanden – im Kloster Lehnin in Auftrag gegeben, auf einer Insel im Parsteiner See zu errichten begonnen … und hernach an den Choriner Amtssee verlegt. Das geschah in den Jahren 1272 / 1273.
Man baute großzügig und majestätisch, dem Himmel und Johann I., dem Askanier, zum Ruhme. Der nämlich verlor bei der Teilung von Brandenburg das Familienkloster Lehnin an seinen Bruder Otto III. Er bedachte sein Ende und ihn verlangte nach einem Hauskloster mit eigener Grablege. Die Klostergeschichte begann. Sie durchlebte Höhen und Tiefen.
Theodor Fontane schrieb: „Unter den Töchtern Lehnins war Chorin die bedeutendste, ja, eine Zeitlang schien es, als ob das Tochterkloster den Vorrang über die Mater gewinnen würde … Nach dem Erlöschen der Askanier trat Chorin wieder hinter Lehnin zurück.“ – Auch wenn es zurücktrat, sieht man ihm Würde und gewesenen Reichtum durchaus noch an. Mit Dörfern, Seen, Höfen, Mühlen und Weinbergen im Besitz, ließ sich gut bauen.
Die machtvolle, hoch aufstrebende und doch feingliedrige Backstein-Basilika trägt einen weißen Mantel. Auf dem Gesims, jedem Mauervorsprung und den Blendbögen liegt Schnee, die Konturen früher Gotik nachzeichnend. Von den steilen Dächern der Klostergebäude rutschen kleine Lawinen und hinterlassen schmale Bahnen in der winterlichen Abdeckung. Der Frost ist in die roten Mauern gekrochen und überzieht sie mit dünnem weißem Schimmer. Die Morgensonne des 2. Januars verwandelt ihn in ein unwirkliches Gefunkel.
Überall häuft sich der Schnee. Er sitzt auf den Bänken, beugt die Koniferen und türmt sich in den Astgabeln entlaubter Bäume. An das zurückliegende Weihnachtsfest erinnernd, stehen hier und da Fichten im Kreuzgang und im Kirchenschiff, geschmückt mit bunten Lichtern und roten Paketen. Obwohl man weiß, dass nichts drin sein kann, regt sich die Neugier.
Aus der ehemaligen Klosterküche dringen Stimmengewirr und deftige Düfte. In der wohligen Wärme dampft im großen Kessel Kohlrübeneintopf mit Gänseklein. Glühwein und Erwartung röten die Wangen.
Ein besonderer Jahresauftakt steht bevor. Das Neujahrskonzert. Die Besucher stapfen durch den Schnee, tragen Decken unterm Arm und Skepsis auf den Gesichtern. Musik im Winter? – Man kennt die Choriner sommerlichen Klänge; kennt die große Wiese mit dem Heckenrosenbusch, auf der man lagert, schwatzt, isst, trinkt – und lauscht. Unter dem alten Ahornbaum an der Mauer des gewesenen Brunnenhauses sind die Plätze begehrt, des Schattens wegen. Im offenen Hallenschiff wird musiziert: Von berühmten Orchestern und Ensembles, von berühmten Chören und Solisten.
Nun aber ist die Wiese verschneit, der Rosenbusch biegt sein zierliches Geäst weit herunter, und der blätterlose Ahornbaum steht frierend in der kalten Morgenluft. Der Wind wehte über Nacht Schnee in den Kirchenraum. Auf den Bänken rücken die Gäste zusammen und suchen den gegenseitigen Wärmeaustausch. Vom Chorgewölbe leuchtet ein Herrnhuter Stern und pendelt leicht und dreht sich.
Die Musiker ziehen ein; bemäntelt, zum Teil bemützt und begrüßen das neue Jahr mit schmetternden Trompeten, mit Horn, Posaunen, Tuba und Schlagzeug. Sie gehören zum RSBrass – dem Blechbläserensemble des Rundfunksinfonieorchesters Berlin.
Mit Henry Purcell wird festlich eingestimmt. „Die Ankunft der Königin von Saba“, Händels elegantes Tongebilde aus seinem Oratorium „Salomo“, füllt und weitet den Raum, von der vorzüglichen Akustik ins Erhabene getragen. – Die Bläser wechseln vom Barock zur Moderne und lockern auf mit Jim Parkers (1934) „Ein Londoner in New York“. Sie bleiben in der gelösten musikalischen Spielfreude, vergessen George Gershwin (1898-1937) nicht und enden mit Randy Newman (1943): „If I didn’t have you“.
Die Begeisterung ist groß, niemand denkt an kalte Füße. Die Musiker sind erleichtert -, sie können sich endlich die Hände wärmen. Das Küchenpersonal im klösterlichen Wirtschaftstrakt arbeitet zügig, denn alles strebt der Wildgulaschsuppe und dem echten märkischen Kohlrübeneintopf zu. – Fontanes Meinung, dass dieses prachtvolle Bauwerk „eine ausgeleerte Stätte“ sei, ist hinlänglich widerlegt.