von Thomas M. Wandel
Wer bei Al Jazeera die Live-Übertragungen aus Ägypten verfolgen konnte, hätte sich einer Art Zeitsprung-Gefühl nicht erwehren können: Das war zwar nicht der Alexanderplatz und im Detail war alles anders als 1989, aber die Hoffnungen, die Aufbruchstimmung, die spontane Selbstorganisation der Massen erinnerten doch sehr an die „Wende“ – wie auch der weitere Verlauf und das Ende der Massenproteste an das Graffiti in der Kleinen Alexanderstraße: „Das Chaos ist aufgebraucht – es war die schönste Zeit.“ Der Zusammenbruch des politischen Systems in Ägypten, dem bedeutendsten arabischen Staat im Nahen Osten, vollzog sich auf eine Weise, die manchen Beobachter immer noch staunen, rätseln oder schaudern lässt. Vor jedem Versuch einer analytischen Bewertung hat dabei immer die Achtung vor dem persönlichen Mut derer zu stehen, die den Anfang machten und auf die Straße gingen. Und die Feststellung, dass Volksaufstände aus sich heraus eine friedliche, eine freundliche Veranstaltung sind (und – wie ein Blick in die Geschichte verrät – es immer waren).
Einen Teil der Analyse liefern unfreiwillig die Reaktionen der politischen Eliten des Westens: Da war zunächst die Sprachlosigkeit der amerikanischen Administration, das Winden einer Hillary Clinton, ob, was und wie man denn nun unterstützen solle und die orakelnden Sprüche ihres Chefs im Weißen Haus. Während hinter den Kulissen freilich fleißig telefoniert und interveniert wurde, um dann das gewünschte Ergebnis „zu begrüßen“. Die USA hatten in Ägypten mehr zu verlieren als die BRD, weshalb in Deutschland auch schneller Klartext gesprochen wurde. Man dürfe – so die Ratschläge Richtung Nil – nichts überstürzen, es brauche nun, nachdem „der Diktator“ (so schnell geht das bei unseren unabhängigen Medien) gestürzt sei, ausreichend Zeit, damit sich Parteien bilden könnten als Voraussetzung für glaubwürdige Wahlen. Und Deutschland bot auch gleich Unterstützung an: Mit den Stiftungen, die nach Konrad Adenauer, Friedrich Ebert und Friedrich Naumann heißen, stünden demokratieerfahrene Institutionen vor Ort zur Verfügung und man sei auch bereit, nicht nur Wahlhelfer zu entsenden, sondern auch bei der Vorbereitung freier Wahlen behilflich zu sein. Und, ach ja: Mit dem Chaos müsse es nun aber bald ein Ende haben und es würde nun Zeit, dass wieder Normalität einkehre. Ein bisschen notgedrungenes Verständnis für einen Aufruhr bringt das deutsche Bürgertum schon auf, aber dann muss alles wieder seine Ordnung haben. Und – quasi sich selbst beruhigend – stellte das Sturmgeschütz der Demokratie in seiner virtuellen Online-Variante fest, dass es sich bei der Revolution in Ägypten genau genommen um einen Militärputsch mit öffentlicher Unterstützung gehandelt habe.
Die Vielschichtigkeit der Protestanten gerade in Ägypten macht die Tragik wie die Komik des Geschehens und seiner Hintergründe offenbar. „Acht Euro gesetzlicher Mindestlohn. Im Monat“, bemerkte ein lokaler Interviewpartner im Rundfunk. Die Ärmsten der Armen hätten also allen Grund gehabt, Träger dieses Massenprotestes zu sein. Nach allem, was man derzeit wissen kann, waren die Depravierten der großen Städte zwar dabei, aber so wie die Landbevölkerung fehlte, waren es wohl vor allem abgestürzte oder vom Absturz bedrohte Mittelschichten, die den Umsturz voran getrieben haben (was ihm nichts von seiner Authentizität nimmt). Und daran lassen sich – bestätigt durch den bisher verfolgbaren Verlauf – sowohl eine erste Analyse als auch eine Prognose fest machen. Gerade Ägypten gehörte nach dem Militärputsch unter Führung von Gamal Abdel Nasser neben Indien zu den Schwergewichten der antikolonialen Nationalen Befreiungsbewegungen. Der mit massiver wirtschaftlicher und militärischer Hilfe seitens des RGW und des Warschauer Paktes begonnene Versuch einer „nachholenden Modernisierung“ scheiterte spätestens in den Siebziger Jahren. Auch Ägypten war nicht in der Lage, einen Anschluss an die rasante Produktivkraftentwicklung des Westens herzustellen – was kein Makel ist, denn warum sollte im Land der Pharaonen das Unmögliche gelingen, was allen Peripherien der Zentren der Kapitalverwertung verwehrt bleiben muss. So blieb es letztlich bei einigen zentralen Infrastrukturprojekten wie dem Assuan-Staudamm und der Modernisierung des Suez-Kanals sowie vorsichtigen Landreformen und dem Aufbau eines Bildungssystems. Und eigentlich hätte Ägypten schon frühzeitig in einer Schuldenkrise versacken müssen. Aber die Nähe zum „Realsozialismus“ war ja nie eine Liebesheirat gewesen, sondern eher die Reaktion der verschmähten Braut, als Großbritannien und Frankreich in gewohnter Kolonialmanier die Nationalisierung des Suez-Kanals mit Krieg beantworteten. So fiel es Ägypten nicht schwer, nachdem die Zahlungsschwäche des neuen Bräutigams offenbar geworden war und sich jenseits des Atlantiks ein anderer für eine strategische Hochzeit anbot, das Bett zu wechseln. All das war wohlverstandene Wahrnehmung nationaler Interessen Ägyptens – die zusammenfielen mit den Interessen der USA und Israels, einen „stabilen Friedenspartner im Nahen Osten“ zu haben. Die Milliarden jährlicher Militärhilfe aus den USA vermochten zwar über lange Zeit das staatliche Regime zu stabilisieren – die ägyptische Armee wurde nicht nur zu einer der größten und modernsten weltweit, sondern auch zu einem sozialen Faktor im Lande -, eine selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung ließ sich damit nicht generieren. So blieb Ägypten als Einnahmequelle vor allem auf den Tourismus, auf landwirtschaftliche Exporte und auf die Geldzuwendungen der im Ausland lebenden Landsleute angewiesen – eine höchst fragile und fragwürdige Grundlage, zumal auf dem „flachen Lande“ bäuerliche Subsistenzwirtschaft an der Armutsgrenze vorherrschend blieb.
Je mehr aber auch Ägypten einer Subsumierung aller Lebensbereiche unter die Kapitalverwertung verfiel, musste sich der Widerspruch zwischen einer autokratischen Herrschaftsform und dem zumindest in den großen Städten entstandenen Selbstverständnis eines modernen Wertsubjekts verschärfen. Denn: Vor dem Wert sind alle gleich (verwertbar oder nicht – ein binäres System gewissermaßen). Die dazu gehörige politische Form der (Selbst-) Beherrschung ist nun einmal die Demokratie, möglichst in ihrer parlamentarischen Form. Also konzentrierte sich die Protestbewegung in Ägypten auch auf den Sturz des Präsidenten (und in der Form dieses Sturzes lag vor allem für den ostdeutschen Beobachter die Komik) und die Abhaltung freier Wahlen. Um nicht missverstanden zu werden: Jede parlamentarische Demokratie ist besser als eine Autokratie und die Ägypter haben den Anspruch darauf, nicht in der diktatorischen Variante eines Polizeistaates leben zu müssen, eindrucksvoll geltend gemacht – aber in der Zielsetzung der Bewegung besteht auch schon ihre tragische Selbstbeschränkung. Kräftig vom Westen genährt blüht die Hoffnung, dass mit „der Demokratie“ auch wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand einkehren werden. Die Ernüchterung wird nicht lange auf sich warten lassen: Mit einer Anpassung des politischen Systems an die ökonomischen Gegebenheiten wird den Menschen in Ägypten die anachronistische Last quasi feudaler Herrschaftsstrukturen genommen – der Aufstand selbst aber war Anfang wie Ergebnis einer begonnenen Verinnerlichung kapitalistischer Logik der Selbstverwertung, genährt von der heroischen Hoffnung, mit dem Sturz einer autokratischen politischen Herrschaft auch einen positiven Wandel in den Lebensverhältnissen anzustoßen. Ägypten hat nun auch den politischen Anschluss an den krisengeschüttelten Westen geschafft. Willkommen im Club!
Schlagwörter: Ägypten, Aufstand, Demokratie, Thomas M. Wandel