von Mario Keßler
Am 22. September 2010 hatte sich der Geburtstag des Historikers Simon Dubnow (1860-1941) zum 150. Mal gejährt. Sein Leben war geprägt vom Selbstbehauptungswillen eines Juden jenseits von Assimilation und Zionismus, doch vor allem von den tragischen Umständen des barbarischen 20. Jahrhunderts. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde Dubnow auf direkten Befehl des Kommandanten der SS-Einheit, die das Rigaer Ghetto kontrollierte, am 8. Dezember 1941 umgebracht. Es handelte sich um einen Johann Siebert, der Dubnow als Student bei einem Vortrag in Heidelberg gehört hatte. In der Öffentlichkeit noch immer kaum bekannt, erfuhren Dubnows Leben und Leistung jedoch unter Historikern des osteuropäischen Judentums zuletzt starke Beachtung. Eine Spezialstudie über Dubnows Geschichtsverständnis und eine Biographie fanden eine willkommene Ergänzung durch die wissenschaftliche Edition von Dubnows dreibändiger Autobiographie. Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, in dem all diese Bücher erschienen, hat sich somit in besonderem Maße des Erbes dieses Gelehrten angenommen. Anke Hilbrenner, Universitätsassistentin in Bonn, hat Dubnows Hauptwerk, die zehnbändige „Weltgeschichte des jüdischen Volkes“, zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht. In deren Mittelpunkt steht die jüdische Diaspora-Existenz als Lebensform, die Dubnow aber nicht mehr religiös, sondern sozialgeschichtlich-säkular interpretierte. Er sah das jüdische Volk als eine transnationale Minderheit, dessen spezifische Existenzform auch einen Gegenentwurf zur traditionellen nationalgeschichtlichen Historiographie verlange. Dem kam Dubnow nicht nur als Geschichtsforscher nach, sondern auch durch politische Aktivitäten: Noch während der ersten russischen Revolution gründete er 1906 die Jüdische Volkspartei als Alternative zur linkszionistischen Partei Poale Zion (Arbeiter Zions). Die Volkspartei bestand noch bis 1918. Nach Dubnow hing das Überleben des jüdischen Volkes von dessen Fähigkeit zur kollektiven Selbstorganisation ab. Nicht die Auswanderung nach Palästina, sondern die organisierte Selbstbehauptung in den Ländern der Diaspora, die längst zur Heimat der in ihnen lebenden Juden geworden seien, müsse im Mittelpunkt entsprechender gesellschaftlicher Aktivitäten stehen. Diese Haltung wurde unter dem Begriff der jüdischen Autonomie bekannt.
Der Petersburger Historiker Viktor Kelner schildert in seiner umfangreichen Biographie, die zuerst 2008 in Russland erschien, Dubnows Lebensstationen. Simon Mejerowitsch Dubnow wurde in Mstislawl (Belarus) als Sohn eines Holzhändlers geboren. Nach einer traditionellen jüdischen Schulbildung lernte er in einer staatlichen, aber für Juden bestimmten Schule Russisch. Doch konnte er dort keinen regulären Abschluss erlangen, da dieser Schultyp alsbald wieder aufgelöst wurde – die von manchen Lehrern erstrebte Assimilierung gelang so nicht. Mit gefälschten Dokumenten ging Dubnow nach Petersburg, denn für Juden war der ständige Aufenthalt in der russischen Hauptstadt allgemein verboten. In Petersburg arbeitete Dubnow als Journalist. Nachdem seine „falsche“ Identität aufgedeckt worden war, musste er die Stadt verlassen. In Odessa setzte er seine Studien und Publikationen fort. Immer stärker gerieten Probleme des modernen Judentums ins Zentrum seiner Arbeit. Nach der Februarrevolution von 1917, an der Dubnow aktiven Anteil nahm, wurde er, der bereits ein bekannter Historiker war, Professor für jüdische Geschichte an der Petrograder Universität. Doch geriet er nach der Oktoberrevolution immer stärker in Konflikte mit dem Einpartei-Regime, so dass er es vorzog, 1922 sein Heimatland zu verlassen. Er ging nach Berlin, wo er sich und seiner Familie den Lebensunterhalt wiederum als Publizist verdienen musste. Von den Nazis aus Deutschland vertrieben, holte ihn deren Vernichtungsterror in seinem Zufluchtsort Riga ein.
Mit Dubnows Autobiographie „Buch des Lebens“ liegt ein eindrückliches Selbstzeugnis aus der Welt des osteuropäischen Judentums vor. Das Werk erschien zuerst 1934-1937 in Riga. Noch 1937 konnte Elias Hurwicz in der Jüdischen Buchvereinigung Berlin eine gekürzte deutsche Fassung der ersten beiden Bände edieren. Damals durften in Deutschland letztmalig jüdische Autoren in (ausschließlich) jüdischen Verlagen gedruckt werden. Der erste Band erzählt das exemplarische Leben eines jungen Juden im Ansiedlungsrayon, der von den Ideen der russischen Emanzipation – von den Dekabristen über die Volkstümler und schließlich vom Sozialismus – beeinflusst wird und der doch immer wieder nach seiner jüdischen Identität fragt. Im zweiten Band schildert Dubnow die Ereignisse vom Vorabend der ersten Russischen Revolution von 1905 über die Reaktionsperiode, den Weltkrieg und die Revolution von 1917 bis hin zum Bürgerkrieg, der Festigung der bolschewistischen Herrschaft. Dubnow begrüßte die Februarrevolution, aber war Gegner der Oktoberrevolution. Er beklagte wiederholt den „Verrat“ Gorkis, der, ebenso wie Teile des Jüdischen Arbeiterbundes und der Poale Zion, sich den Kommunisten anschloss. In Deutschland aber, so notierte Dubnow am 12. Januar 1918, werde der „asiatische Sozialismus“ in Gestalt des Spartakusbundes nicht triumphieren. Doch was passiere beim Sieg der antikommunistischen Seite? Wären nicht antijüdische Pogrome die Folge des Kommunistenhasses? Hoffnung auf „Befreiung“ von der bolschewistischen Herrschaft und Furcht vor genau dieser „Befreiung“ wechselten einander ab. Die Berliner Jahre wurden zu Dubnows produktivster Zeit. Der dritte Band der Erinnerungen schildert das russische und russisch-jüdische Emigrantenmilieu in der deutschen Hauptstadt. Dubnow beteiligte sich an der Arbeit des Verbandes russischer Juden sowie an verschiedenen Hilfskomitees für die Pogromopfer. Zum Glücksfall wurde für ihn die Möglichkeit journalistischer Arbeit für die jiddische sozialdemokratische Presse der USA, denn sie bezahlte ihn in Dollars. Dennoch blieb die materielle Lage für ihn angespannt. Ebenso belastend waren die politischen Spannungen. In Berlin sah Dubnow den Aufstieg der Nazis und nannte als Ursache dafür den Antisozialismus und die Demokratiefeindschaft großer Teile des sozial und politisch entwurzelten Bürgertums. Er beklagte die Schwäche und Unentschlossenheit der SPD, mit der er sympathisierte, und er glaubte und hoffte bis zuletzt, dass Hitlers Griff zur Macht verhindert werde.
Am 26. August 1933 siedelte Dubnow nach Riga über. Dort mochte er seine Erinnerungen nicht mehr fortführen. Seine Frau verstarb dort, seine Tochter Sofia emigrierte nach New York, wo sie 1986 hundertjährig starb. Dubnows Schwiegersohn, der marxistische polnische Politiker Henryk Ehrlich, wurde 1942 ein Opfer des Stalinismus – in der Zeit, in der durch den Hitlerfaschismus das osteuropäische Judentum ausgelöscht wurde.
Ausführlicher: Anke Hilbrenner, Diaspora-Nationalismus. Zur Geschichtskonstruktion Simon Dubnows, 2007, 315 S., 41,90 Euro; Viktor E. Kelner, Simon Dubnow. Eine Biographie, 2010, 661 S., 79,00 Euro; Simon Dubnow: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, 3 Bände. Im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts Leipzig hrsg. von Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky (Bd. 1 und 3) und Barbara Conrad (Bd. 2), Bd.1: 1860-1903, Bd. 2: 1903-1922, Bd. 3: 1922-1933, 2004-2005, zus. 1.367 S., zus. 119,00 Euro. Alle Bücher erschienen bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Schlagwörter: Judentum, Mario Keßler, Pogrom, Simon Dubnow, Stalinismus, Zionismus