von Wilfried Schreiber
Man hat es in Deutschland kaum wahrgenommen – das Gipfeltreffen der Organisation für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) am 1. und 2. Dezember 2010 in Astana im fernen Kasachstan. Aber es hat tatsächlich stattgefunden – mit den Staats-und Regierungschefs als Gipfeltreffen aller 56 OSZE-Mitgliedsstaaten aus Europas, Asien und Nordamerikas sowie deren Vertretern der zwölf Partnerstaaten.
Das Desinteresse in Deutschland ist durchaus nachvollziehbar. Wurden doch im Vorfeld des Ereignisses laute Zweifel daran verbreitet, ob Kasachstan angesichts seines autoritären Regierungssystems überhaupt berechtigt sei, an der Spitze dieser Organisation zu stehen. Außerdem hatten zahlreiche Politiker und Medien die OSZE schon für tot oder zumindest bedeutungslos erklärt, nachdem sie in den letzten 10 Jahren als lahme Ente dahingesiecht war. Tatsächlich hat die OSZE bei allen europäischen Krisen in dieser Zeit keine Rolle gespielt. Sie hatte sich selbst reduziert auf eine Wahlbeobachterorganisation zur Überwachung des Demokratisierungsprozesses in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens. Das wurde von diesen Ländern zumeist als eine Eimischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet. Der demokratischen Entwicklung hat es zumindest nicht geschadet.
Aber was ist aus der Vision geworden, mit der die Vorgängerorganisation, die Konferenz für Europäische Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE), 1975 auf die Bühne der Welt getreten ist? Unter den Bedingungen der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges wollten die Staaten beider Blöcke ein System der gemeinsamen Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok errichten. Auf der Grundlage eines Prinzipienkatalogs, der die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Teilnehmerstaaten gewährleisten sollte, vereinbarten sie 1975 in der Schlussakte von Helsinki eine umfassende Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt und Sicherheit in Europa. Gleichzeitig formulierten sie in einem eigenständigen „Korb“ die Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen sowie die Erleichterung von menschlichen Kontakten über die Blockgrenzen hinweg. Von besonderer Bedeutung war die Vereinbarung von konkreten Maßnahmen der Vertrauensbildung auf militärischem Gebiet. All das hat wesentlich zu einer realen Entspannung in der Endphase des Kalten Krieges beigetragen.
Die Hauptprobleme schienen mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus gelöst. Die KSZE verwandelte sich 1995 in die OSZE und konzentrierte sich unter Führung der damaligen NATO- und EU-Staaten auf den Demokratieexport. Die alte Teilung blieb bestehen und es entstand eine neue Form der Ungleichheit. Seit dem gibt es die Gruppe der Belehrenden und die Gruppe der Lernenden. Die Schulmeisterrolle des Westens musste zwangsläufig zu Spannungen führen. Kein Wunder, dass es seit dem Gipfel 1999 in Istanbul keine gemeinsame Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs mehr gegeben hat.
Inzwischen hat sich die Problemlage verändert. Europa und die Welt stehen vor neuen Herausforderungen. Und es ist auch ein neues Selbstbewusstsein in den Transformationsländern entstanden. Das hat sich mit der Präsidentschaft Kasachstans in der OSZE in diesem Jahr klar gezeigt.
Kasachstan ist das erste postsowjetische und auch erste asiatische Land, das diese Funktion übernehmen durfte. Übrigens mit aktiver Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland.
Kasachstan hat mit viel Initiative und Zielstrebigkeit diesen Gipfel vorbereitet und auf eine Reformierung der OSZE hingearbeitet. Es lag gewiss nicht an Kasachstan, wenn der Gipfelerfolg nur bescheiden blieb. Die Interessenunterschiede der Teilnehmerländer erwiesen sich als zu groß. Die EU und die USA wollten vor allem Reglungen zur Lösung der Regionalkonflikte an der Peripherie Russlands, also zur Beilegung der Streitfragen um Transnistrien, die armenische Enklave Berg-Karabach und die territoriale Integrität Georgiens. Gleichzeitig setzten sie nach wie vor auf die Menschenrechtsproblematik. Russland, Kasachstan und andere wollten verbindliche Regeln zur Konfliktregulierung und die Schaffung eines gemeinsamen Sicherheitsraumes von Vancouver bis Wladiwostok. Andere wiederum priorisierten eine größere Verantwortung der OSZE zur Beilegung von Wirtschafts- und Finanzkrisen. Faktisch brachen alte Fronten und alte Feindbilder wieder auf.
Folgerichtig wurde über den Entwurf des vorgelegten Aktionsplanes keine Einigung erreicht. Stattdessen wurde nach langem und zähem Ringen eine unverbindliche Absichtserklärung verabschiedet. Sie wird als „Gedenkerklärung von Astana: Auf dem Weg zu einer Sicherheitsgemeinschaft“ in die Geschichte der OSZE eingehen. Darin bekräftigen die Staaten ihr Bekenntnis zu den Grundprinzipien der OSZE. Die bestehenden Konflikte und Probleme werden weitgehend benannt und seien „auf dem Verhandlungswege, innerhalb bestehender Formate sowie unter uneingeschränkter Achtung der in der Charta der Vereinten Nationen verankerten völkerrechtlichen Normen und Prinzipien und der Schlussakte von Helsinki zu lösen. Neue Krisen müssen verhindert werden.“ Die Erarbeitung eines Aktionsplans wird auf die nachfolgenden Präsidentschaften verschoben. Damit müssten sich im nächsten Jahr Litauen und danach die Ukraine mit dieser Aufgabe befassen.
Das ist wahrhaftig nicht der Beginn einer neuen Ära, wie ihn der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki Moon, in seiner Eröffnungsrede zum Gipfel angekündigt hatte. Aber es ist auch keine Bankrotterklärung der OSZE. Die OSZE ist und bleibt das einzige gesamteuropäische und transatlantische Sicherheitsforum auf nichtmilitärischem Gebiet und damit ein einzigartiges Gremium für den Dialog zwischen Ost und West in einem nach wie vor gespaltenen Europa. Auch wenn es schwer fällt das zu begreifen: Es gibt derzeit nichts Besseres als diesen Rahmen für Verhandlungen über die Europäische Sicherheit.
Insofern geht das Ringen um die Rolle der OSZE und die Lösung ihrer Probleme weiter – um nukleare und konventionelle Abrüstung, um die Ratifizierung des Adaptierten Vertrags über konventionelle Sicherheit in Europa (AKSE), um Vertrauensbildende Maßnahmen, um einen effektiven Krisenmechanismus auf dem Balkan, im Kaukasus und in Zentralasien, um mehr Transparenz innerhalb der OSZE, insbesondere jedoch um eine vertragliche Vereinbarung für den gesamten Sicherheitsraum zwischen Vancouver und Wladiwostok.
Auf der Agenda bleibt die Vision einer neuen grundlegenden Übereinkunft über den konzeptionellen Rahmen der friedlichen Zusammenarbeit aller Staaten auf gleichberechtigter Grundlage, die wie die Schlussakte von Helsinki verschiedene „Körbe“ enthalten könnte, die den veränderten Bedingungen angepasst sind – also die Idee der wirtschaftlichen, politischen und humanitären Zusammenarbeit aufgreift und weiterentwickelt. Im Vordergrund müsste die vertragliche Umsetzung jener gemeinsamen Interessen und grundlegenden Prinzipien der friedlichen Koexistenz stehen, die in den letzten beiden Jahrzehnten ausgehöhlt wurden. Das betrifft besonders die Grundprinzipien der Sicherheit und Zusammenarbeit im euroatlantischen Raum, den gegenseitigen Gewaltverzicht, die Gewährleistung der gleichen Sicherheit für alle und die Ablehnung von Exklusivrechten für einzelne Staaten.
Das macht jedoch ein Umdenken innerhalb der NATO und der Europäischen Union notwendig. Noch dominiert in diesen Organisationen altes Denken, das militärische Instrumente favorisiert. Die neuen Stabilitätsrisiken verlangen aber, die Dominanz des militärischen Denkens zu überwinden. Gleiche Sicherheit für alle erfordert eine Abkehr von dem System der asymmetrischen Sicherheit, wie es die NATO verkörpert. Europäische Sicherheit ist nur universell und auf der Basis des Primats der Politik zu gewährleisten. Die OSZE verfügt de facto über alle entsprechenden Instrumente. Die Mitgliedstaaten müssen nur zu deren Einsatz bereit sein.
Als Katalysator für die Zukunft der OSZE könnte sich die weitere Entwicklung der Lage in Afghanistan erweisen. Gegenwärtig wird immer deutlicher, dass die politischen Ziele mit militärischen Mitteln nicht erreichbar sind. Die kritische Stimmung in der Bevölkerung der Staaten der EU und der NATO gegen die Militäreinsätze wächst. Schon dadurch dürfte sich eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit aller OSZE-Länder mit dem Blick auf diese Konfliktregion erforderlich machen.
Allerdings darf man auch im Sicherheitsbereich die Politik nicht nur den Politikern überlassen. Um Sicherheit und Stabilität im transatlantischen und eurasischen Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok durchzusetzen – und hier ist der Hindukusch zweifellos mit eingeschlossen – ist ein starker Druck aus den Zivilgesellschaften notwendig. Auf „good gouvernance“ ist kein Verlass. Weder in den Transformationsländern noch in Deutschland und in den anderen westlichen Demokratien.
Schlagwörter: Ban Ki Moon Sicherheit, Gewaltverzicht, Kasachstan, KSZE, NATO, OSZE, UNO, Wilfried Schreiber